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Plötzlich obdachlos

Brandopfer Leo Zürcher steht vor dem Nichts

An der Gasstrasse im St. Johann kam es am Dienstagabend zu einem Grossbrand. Am Tag danach fragen sich die ehemaligen Bewohner*innen: Wie weiter?

03/24/21, 04:13 PM

Aktualisiert 03/24/21, 05:16 PM

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Leo Zürcher, der anders heisst, vor dem ausgebrannten Haus an der Gasstrasse im St. Johann.

Leo Zürcher, der anders heisst, vor dem ausgebrannten Haus an der Gasstrasse im St. Johann. (Foto: Daniel Faulhaber)

Leo Zürcher* ist sauer. Am Tag nach dem heftigen Hausbrand in der Gasstrasse 36 steht er mit einem Koffer auf dem Trottoir vor dem Haus und telefoniert von einem Amt zum nächsten. «Wer hilft mir jetzt, wo kann ich schlafen?» Zürcher* fühlt sich von den Behörden nicht richtig behandelt, aber richtig sauer ist er auf die, die seiner Meinung nach für das Feuer verantwortlich sind. 

So schildert der Hausbewohner Zürcher den Brand:

«Ich sass oben in unserer Dreizimmerwohnung im zweiten Stock und habe tätowiert. Plötzlich sehe ich Rauch aus dem Boden steigen und mach die Türe auf. Da sehe ich unten den Nachbarn S. mit einem Eimer Wasser aus dem Hausgang in die Wohnung laufen. Gut denke ich, die haben das im Griff. Aber nichts hatten die im Griff, kurz darauf war der Rauch so dicht, dass ich kaum etwas sehen konnte. Mache die Türe auf, die Flammen sind schon im Treppenhaus zu sehen.

Ich hab die Feuerwehr gerufen und dann die anderen Leute im Haus gewarnt. Die Treppe hoch, geklopft, alle raus, habe ich gerufen. Normalerweise schlafe ich um diese Zeit. Hätte ich gestern geschlafen, dann wäre ich jetzt tot. Ich bin dann hinten auf den Balkon gerannt, von dort hat mich die Feuerwehr gerettet. Das Treppenhaus war zu gefährlich.»

«Hätte ich geschlafen, dann wäre ich jetzt tot.»

Brandopfer Leo Zürcher*

In der Gasstrasse im St. Johann war am Dienstagabend eine Rettung im Gang. Gegen 17.30 Uhr war es zu einem Brand gekommen, kurz nach 18 Uhr war er wieder gelöscht. Im Einsatz waren mehrere Einsatzfahrzeuge der Sanität, ein Notarzt, mehrere Patrouillen der Polizei, die Berufsfeuerwehr und die Milizfeuerwehr der Rettung Basel-Stadt. Drei Bewohner mussten durch die Sanität der Rettung Basel-Stadt in die Notfallstation eingewiesen werden, schreibt die Staatsanwaltschaft am Mittwoch. Leo Zürcher hätte auch ins Spital gemusst, die Sanität wollte ihn für Abklärungen mitnehmen. 

«Ich habe eine Art Verfügung unterschrieben, dass ich das nicht will. Ich wollte meine Sachen nicht alleine lassen, in diesem Haus klauen sie dir das letzte Hemd unter dem Arsch weg.»

Letzte Habseligkeiten retten

Zürcher hat die Nacht bei einem Kollegen auf dem Sofa verbracht. Am Tag danach ist er zurückgekehrt, um seine weitere Existenz zu klären und vor allem die letzten Habseligkeiten zu retten. 

Vor dem Haus steht eine kleine Mulde. Darin liegen verkohlte Bretter, Stoff und eine verkohlte Computertastatur. Bei einem früheren Hausbrand an der Rheingasse 19, ein ähnlicher Fall, wurde kurz nach dem Feuer der Tresor der Bar Grenzwert gestohlen.

Als Gammelhaus bekannt

Es ist nicht das erste Mal, dass die Gasstrasse 36 mit schlechten Schlagzeilen in der Öffentlichkeit steht. 2018 berichtete die TagesWoche über sogenannte «Gammelhäuser», eins davon ist gemäss dem Bericht dieses Haus. Auf diesen Zusammenhang wurde Bajour von Leser*innen unserer «Wem gehört Basel?»-Recherche aufmerksam gemacht. 

Das Geschäftsmodell hinter den Gammelhäusern funktioniert auf dem Rücken der schwächsten Glieder in der Nahrungskette des Wohnungsmarkts. Es sind Sozialhilfeempfänger*innen, Armutsbetroffene, Menschen mit Suchtproblemen. Mit ihrem Leumund erhalten sie nur sehr schwer einen Platz zum Wohnen, aber manche Hausbesitzer*innen machen aus der Not eine Chance. Sie vermieten Zimmer zu Preisen, die gerade noch von der Unterstützungsleistung der Sozialhilfe gedeckt werden und kassieren somit Staatsgelder für Immobilien in teilweise sehr schlechtem Zustand. Die Mieter*innen wehren sich selten, aus Angst, den einzigen Platz, der ihnen bleibt, zu verlieren. 

Das Feuer brach aus im ersten Stock, die Hitze liess die Scheiben platzen. Die Staatsanwaltschaft sagt, das Haus sei zum jetzigen Zeitpunkt unbewohnbar.

Das Feuer brach aus im ersten Stock, die Hitze liess die Scheiben platzen. Die Staatsanwaltschaft sagt, das Haus sei zum jetzigen Zeitpunkt unbewohnbar. (Foto: Daniel Faulhaber)

Die Stadt hat nicht zuletzt unter dem Druck von Medienberichten das Problem erkannt und im Herbst 2019 eine Koordinationsstelle für prekäre Wohnverhältnisse eingerichtet. Sie versucht, zwischen Hausbesitzer*innen und Mieter*innen zu vermitteln, wenn etwa hygienische oder feuerpolizeiliche Mängel unerträglich werden. 

Die Gasstrasse 36 war so ein Haus und Zürcher sagt, auch er werde substituiert. Das heisst, er bezieht Sozialhilfe, wie die meisten anderen im Haus auch. Wer waren denn seine Nachbarn? «Ich kannte die nicht alle und mit manchen wollte ich auch nichts zu tun haben. Aber Drögeler waren auch dabei», behauptet Zürcher. «Die verkochten da Strassenkokain mit Ammoniak zu Base (gemeint ist die Crack-ähnliche Droge Freebase, Anm. d Red.), kannst dir vorstellen, wie das brennt.»

Brandursache: Unklar

Diese Beschreibung des Drogenkonsums lässt sich vor Ort nicht verifizieren. Ein kurzer Blick ins Internet zeigt aber: Ammoniak ist bedingt brennbar und dient eher nicht als Brandbeschleuniger. Zürcher sagt, als die Löschversuche mit dem Eimer nichts nützten, hätten die Nachbarn einen Kühlschrank auf den Brandherd geschmissen. Zürcher, trocken: «Das hat sicher auch nicht geholfen.» 

Wie das Feuer ausgebrochen ist, das ist noch immer unklar, sagt die Staatsanwaltschaft auf Anfrage. Die Kriminaltechnik sei verpflichtet, Spuren zu sichern, sagt Stawa-Sprecher Peter Gill, «damit abgeklärt werden kann, was eine mögliche Brandursache sein könnte. Das ist ein normaler Vorgang». Die Kriminalpolizei ermittelt ausserdem zu den möglichen Gründen für den Brand. Zeugen werden gebeten, sich zu melden.

Aber was passiert mit den Menschen, die in diesem Haus wohnten und unter denen die Maschen der sozialen Auffangnetze weniger eng geknüpft sind, als bei anderen? 

Aufruf

Wir von Bajour recherchieren zum Thema prekäre Wohnverhältnisse und Leben am Existenzminimum. Kennst du den Standort von Gammelhäusern oder erlebst du als Mieter*in Ausbeutung und missbräuchliche Bedingungen? Wir nehmen gerne vertrauliche Hinweise entgegen an [email protected]

Lösungsvorschlag: Obdachlosenheim

Im Fall eines Brands springt in der Regel die Hausratversicherung ein. Sie übernimmt die Kosten für ein Hotelzimmer und sorgt dafür, dass die Brandopfer bis auf Weiteres ein Dach über dem Kopf haben. Viele Menschen, die am Existenzminimum leben, haben aber keine Hausratversicherung. Darum wurden auch die Bewohner*innen der Gasstrasse – es sind insgesamt 13, aber nicht alle waren zum Zeitpunkt des Brands zuhause – von der Polizei an einschlägige Anlaufstellen verwiesen.

Wer dort nicht hin will, schläft bei Freund*innen. Wenn welche da sind. 

«Es gibt für solche Notfälle eine Reihe von niederschwelligen Angeboten wie etwa dem Taghaus für Obdachlose an der Wallstrasse», sagt Regine Steinauer, Leiterin Abteilung Sucht im Gesundheitsdepartement Basel-Stadt. Die Abteilung Sucht verfügt über sogenannte Mittler*innen im öffentlichen Raum. Das sind Fachpersonen, die im Kontakt mit Suchtbetroffenen stehen und die in Notsituationen im Kontakt mit der Sozialhilfe Basel und anderen Organisationen weiterhelfen.

«Ruf deine Versicherung an»

«Wir sind über den Brand im Bild», sagt Steinauer, «unsere Leute versuchen nun, Kontakt mit den Bewohner*innen aufzunehmen und Lösungen zu vermitteln.»

Und das passiert auch, wie ein Augenschein vor Ort zeigt. Zwei Mittler*innen stossen kurz vor Mittag auf dem Trottoir zu Leo Zürcher dazu und geben Rat. «Ruf deine Versicherung an, frag sie, was genau du jetzt tun sollst», sagt der Fachmann zu Zürcher. Auf dem Trottoir vor dem Haus herrscht ein Kommen und Gehen, Zürchers Bruder ist da und redet ihm gut zu, reicht ihm ab und an eine Zigarette rüber. Ein anderer Mieter, der durch den Brand ebenfalls sein Dach über dem Kopf verloren hat, kommt vorbei, geht wieder. 

Der Hausbesitzer ist auch da. Es ist ein junger Mann, zirka Ende 30. Das Haus hat er erst vor wenigen Monaten gekauft. 

Telefonbandwurm durch die Ämter

Zürcher hat eine Hausratversicherung, Gottseidank, aber die Telefonate sind zäh. Er klappt seinen Koffer mit den wenigen Habseligkeiten auf, die er aus dem Haus gerettet hat, darunter einen Ordner, in dem er Dokumente und auch die Policenummer feinsäuberlich abgeheftet hat. Der Versicherungsmann am Telefon, Zürcher hat das Handy auf den Lautsprecher umgeschaltet, zitiert verklausulierte Formalitäten und spricht insgesamt so kompliziert, dass Zürcher ein wenig die Geduld verliert. 

«Hören Sie, ich brauche Geld für ein Zimmer. Es ist Monatsende, ich habe keine Kohle und muss irgendwo schlafen, verstehen Sie?»

Der Mann am Telefon versteht. Er verspricht, die nötigen Schritte einzuleiten und will später zurückrufen. «Sie haben einen Beistand, nicht?», fragt er noch. Da platzt Zürcher der Kragen: «Wer hat Ihnen so einen Quatsch erzählt? Ich bin bei der Sozialhilfe, aber habe sicher keinen Beistand. Halten Sie mich für einen kleinen Jungen?»

Mit diesem Gefühl steht Zürcher an diesem Tag auf der Strasse. Mit dem Gefühl, von den Ämtern und Behörden nicht für voll genommen zu werden. Ihn nervt, dass er von der Polizei am Abend zuvor an das Obdachlosenheim verwiesen wurde, er will auch nichts wissen von der Heilsarmee oder vom Männerheim. «Ich lasse mich nicht mehr auf dieses Gleis stellen, ich zahle eine Versicherung, ich will ins Hotel. Jeder normale Bürger wird doch nicht so behandelt, aber mit uns kann man's wohl machen.»

Die Mittler*innen vom Gesundheitsdepartement zeigen Verständnis für Zürchers Furor. Sie tauschen Telefonnummern, geben noch ein paar Tipps. Zürcher bedankt sich für die Hilfe. 

Was Zürcher retten konnte, hat er in seinen Koffer gesteckt.

Was Zürcher retten konnte, hat er in seinen Koffer gesteckt. (Foto: Daniel Faulhaber)

Plötzlich fährt die frühere Hausbesitzerin vor, am Auto ein Kennzeichen aus dem Kanton Nidwalden. Der neue Besitzer tritt zu ihr ans Fenster. Unklar was sie reden. «Da haben Sie das Haus gerade noch rechtzeitig verkauft» scherzt ein Mieter zur früheren Hausbesitzerin. Was die ehemalige Hausbesitzerin vor Ort wollte, war nicht in Erfahrung zu bringen.

Leo Zürcher sagt seinerseits nichts Schlechtes über den neuen Hausbesitzer, oder den Zustand der Wohnung. «Die war in Ordnung, aber ich habe ja auch geputzt.» Er teilte sich die Dreizimmerwohnung mit zwei anderen Mieter*innen. Auf die ist er weniger gut zu sprechen.

Der aktuelle Besitzer sagt, er sei in erster Linie froh, dass beim Brand niemand schlimmeren Schaden genommen hat. Er wartet seinerseits vor dem Haus auf das Eintreffen der eigenen Versicherungsleute zur Schadensinspektion. «Ich lass hier niemanden auf der Strasse stehen und bin bereit zu helfen», sagt er noch. Diesen Satz hätte Leo Zürcher gestern Abend gerne gehört. «Aber da war erst einmal gar niemand. Ich musste mich selber arrangieren.»

Der Brand in der Gasstrasse ist bereits der dritte in einem Haus mit prekären Wohnverhältnissen in den letzten drei Jahren. 2018 brannte eine Liegenschaft am Riehenring vollständig aus. 2019 steht der «Schwarze Bär» an der Rheingasse 19 in Flammen, die Polizei ermittelte wegen Brandstiftung. Jetzt der Brand an der Gasstrasse. Es scheint, als bliebe das Wohnen für Menschen in prekären Verhältnissen unter Umständen lebensgefährlich. 

Leo Zürcher wird, wenn alles gut läuft, die zweite Nacht nach dem Brand im Hotel verbringen. Am Abend schreibt er eine SMS: «Habe einen Ort zum Schlafen gefunden. Hatte Schwein.»

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*Name geändert

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