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Filmkritik

Landlos

Den eigenen Untergang vor Augen, entwickelt jede Generation eine verschiedene Methodik, um vor lauter Existenzangst nicht komplett im roten Bereich zu drehen.

10/04/22, 09:22 AM

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Dieser Artikel ist zuerst bei der P.S. Zeitung erschienen. Die P.S. gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Zeitungen der Schweiz.

Familie Solé baut im katalanischen Dorf Alcarràs seit 80 Jahren Pfirsiche an.

Familie Solé baut im katalanischen Dorf Alcarràs seit 80 Jahren Pfirsiche an. (Foto: zVg)

Seit Generationen bewirtschaftet die Filmfamilie Solé in «Alcarràs» von Carla Simón das Land um ihren Hof herum mit Obstplantagen. Die Bauernproteste wegen Preissenkungen bis unter die Gestehungskosten schauen sie sich im Fernsehen an.

Durchbeissen lautete die Devise seit jeher, und die Arbeit ist viel und sie ist streng. Nur klagen und fordern käme hier niemandem als erstes in den Sinn. Irgendwie gings ja immer.

Bis zum Tag, als der zigte Nachkomme des Grossgrundbesitzers Pinyol (Jacob Diarte) auf der Matte steht und verkündet, er benötige sein Land wieder, um in das viel einträglichere Geschäft mit Solarstrom einzusteigen. Vorbei die Zeiten, in denen ein Handschlag so gut wie ein Vertrag war. Vorbei die Zeiten, in denen ein Wort eines selbsternannten Ehrenmannes noch jeder Witterung gegenüber Stand hielt.

P.S. – Die kleine Zeitung mit den spitzen Federn.

Carla Simón zeichnet das Portrait einer Familie, deren individuelles Verhalten sich angesichts der absehbaren Katastrophe ihres Landverlustes sehr verschieden und je für sich auch nachvollziehbar verändert. Der Grossvater Rogelio (Josep Abad) wählt die innere Emigration. Er pflückt Feigen vom alten Baum und schenkt diese den Pinyols. Der Enkel Roger (Albert Bosch) flieht in den Rausch, das Delirium. Der Obstbauer Quimet (Jordi Pujol Dolcet) rennt mit dem Kopf gegen die Wand. Er will nicht, will partout nicht, nein, er will nicht einsehen, dass er vor einer unverrückbaren Tatsache, einer ungemeinen Ungerechtigkeit steht und überhaupt gar keine Handhabe hat, dagegen vorzugehen.

In diesem Schraubstockgefühl gefangen, beginnt er gegen seine Geschwister, seinen Sohn, sogar seinen Vater mit teils unterdrückter, teils aus ihm herausplatzender Aggression zu agieren. Er macht sich unmöglich, verrennt sich, gebärdet sich als Tyrann.

Zwischen diese Szenen einer Wutverschiebung flicht die Regisseurin und Drehbuchautorin die Geschichte von drei sorglos ungestüm spielenden Kindern und lang anhaltende Beratschlagungen und Versuche von Bändigung und Beschwichtigung der Frauen.

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Mitten drin respektive zwischen allen Stühlen steht die Teenagerin Mariona (Xènia Roset), die sich auf eine erste Liebe und ihren Auftritt während der Playbackshow freuen möchte, aber von dieser verschwommenen Gemengelage aus dem Tritt gebracht wird und darum das Gefühl entwickelt, es läge an ihr, eindeutig Stellung zu beziehen.

Faktisch zeigt «Alcarràs» ein Landlosenschicksal. Ungeheuer bitter und genauso willensstark.

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«Alcarràs» läuft im kult.kino atelier

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