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Psychische Gesundheit

Zu gesund für die Psychi, zu krank für das Leben

Vier junge Erwachsene verlieren in der Pandemie den Boden unter den Füssen – und suchen nach Möglichkeiten, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Doch die Therapeut*innen sind heillos überlastet und ein Beschluss, der Abhilfe schaffen könnte, hängt beim Bundesrat fest.

03/08/21, 04:14 AM

Aktualisiert 03/08/21, 08:03 AM

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Allein in der Krise: Wer Hilfe bei psychischen Problemen sucht, muss sich gerade sehr gedulden. (Foto: Eleni Kougionis, UPK Basel)

Allein in der Krise: Wer Hilfe bei psychischen Problemen sucht, muss sich gerade sehr gedulden. (Foto: Eleni Kougionis, UPK Basel)

Warnung: Dieser Text enthält Beschreibungen eines Suizidversuchs.

Als sich ihr Freund von Anna (21)* trennt, beginnt die Abwärtsspirale. Sie weint ununterbrochen und erbricht sich häufig. Im November 2020 macht sie sich auf die Suche nach einer Therapeutin und bekommt einen Notfalltermin an der UPK, dank einer Bekannten. Die Psychiaterin nimmt sich Zeit, sie vermittelt Anna das Gefühl, nicht abgefertigt zu werden. Fragt sie, wie es weitergehen solle, ob sie in die Klinik will.

Anna verneint. Die UPK (Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel) ist als Zwischenlösung für Notfälle, aber nicht zur Langzeitbehandlung gedacht. Sie will nicht akut behandelt werden, sondern in eine langfristige Therapie. Doch die Ärztin hat keinen Platz mehr. Sie gibt Anna ein paar Adressen anderer Therapeut*innen und verschreibt ihr Temesta, das Anna drei Tage lang nimmt. Ihr Vater unterschreibt die Bestätigung, dass Anna keinen direkten Zugang zum verschriebenen Beruhigungsmittel hat.

Nach den drei Tagen ist Anna wieder am Anfang. Die weissen Pillen haben ihren Energiespeicher aufgefüllt, das schwarze Loch, das sie täglich in sich spürte, ist aber immer noch da. Sie nennt als vergleichbares Beispiel einen Beinbruch. «Da ersetzen Schmerzmittel auch keine Physiotherapeutin.»

Während der Anteil von Befragten mit schweren depressiven Symptomen vor der Pandemie 3 Prozent betrug, stieg er im November auf 18 Prozent an.

Während der Anteil von Befragten mit schweren depressiven Symptomen vor der Pandemie 3 Prozent betrug, stieg er im November auf 18 Prozent an. (Foto: Universität Basel)

Anna ist nicht die einzige, der es momentan nicht gut geht. Seit Frühling 2019 haben sich die psychischen Probleme der Schweizer*innen statistisch verdoppelt. Das zeigt die aktuellste Umfrage der Universität Basel zur psychischen Belastung in der zweiten Covid-19-Welle. Der Anteil Personen mit schweren depressiven Symptomen betrug während des Lockdowns im April rund 9 Prozent und stieg im November auf 18 Prozent. 

Die Corona-Krise wirkt wie ein «Katalysator», heisst es im ersten Teilbericht zu Corona und psychischer Gesundheit des Bundesamt für Gesundheit (BAG). Die Krise verstärke bestehende Vorbelastungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, für die der Kontakt zu Gleichaltrigen eine zentrale Rolle in der Entwicklung spielt.

Bei Anna war es eine Trennung, nicht die Pandemie, die die Abwärtsspirale erzeugt hat. Aber Corona trägt einen wesentlichen Teil dazu bei, dass sie nicht mehr hinauskommt. 

Als das schwarze Loch sie wieder zu verschlucken droht, rafft sich Anna auf und geht die Adressen durch, die ihr die Ärztin mitgegeben hatte. Für eine Person, der es psychisch nicht gut geht, ist dies ein enormer Kraftaufwand. «Jedes Telefonat, jede E-Mail ist eine Belastung.» 

«Ich dachte, ich hätte kein Anrecht auf Hilfe.»

Anna (21).

Da hilft es nicht, dass die meisten Psychiater*innen momentan ausgebucht sind: Auf der Webseite doc24.ch, die mit einem Ampelsystem funktioniert, sind gerade mal 10 von 209 Adressen grün (Stand Mittwoch, 24. Februar). Ruft man bei den entsprechenden Nummern an, haben zwei keinen Platz, zwei sind nicht erreichbar, einer nimmt nur ganz dringende Fälle, eine hat eine Warteliste von mindestens drei Wochen. Die übrigen Vier nehmen entweder fallabhängig noch Patient*innen an oder sind an Kliniken angeschlossen, die eine Notfallabteilung haben. 

Wer also seinen Mut zusammennimmt und die Liste abtelefoniert, bekommt längst nicht automatisch einen gesicherten Platz. Was die Situation für Betroffene zusätzlich erschwert: Für psychisch belastete Menschen ist jede Abweisung eine persönliche Niederlage. 

Auch für Anna. Bei jeder Absage hatte sie das Gefühl, sie werde nicht ernst genommen. «Ich dachte, ich hätte wohl kein Anrecht auf Hilfe. Es ist furchtbar: Ausgerechnet in einer Situation, in der man kaum imstande ist, um Hilfe zu bitten, hilft einem niemand.» 

Am Ende ist es Annas Mutter, die ihr eine Therapeut*in in der Nähe von Basel vermittelt. Für Anna ist dieser gesicherte Platz ein Segen, aber sie fühlt sich unwohl bei dem Gedanken, dass sie ihn durch Beziehungen bekommen hat. «Ich bin extrem privilegiert», sagt sie. «Wie geht es Menschen ohne Verwandte, die ihnen helfen können? Personen, die kein Deutsch sprechen? Oder die nicht entsprechend versichert sind?»

Doch nicht nur Patient*innen sind am Rand, auch die Basler Therapeut*innen selbst sind am Anschlag. Philipp Thüler bekommt das im Moment immer wieder zu hören. Er ist Kommunikationsleiter bei der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) und sagt: «Wir erleben definitiv einen Notstand.» 

Die Menge an Betroffenen ist nicht das einzige Problem: Hinzu kommt eine uralte Kosten-Diskussion. Selbständige Psychotherapeut*innen dürfen bis heute nicht über die Grundversicherung abrechnen. Deshalb müssen sie immer wieder Menschen ablehnen, die sich die Therapie nicht leisten können. In einer kürzlich publizierten Studie der Fachverbände gaben 80% der selbständig erwerbenden Psychotherapeuten an, dass Menschen in psychischer Not aus finanziellen Gründen auf eine Therapie verzichten. Während die Agenden von angestellten Therapeut*innen aus allen Nähten platzen.

In diesem Punkt gäbe es eine Möglichkeit, rasch für Entlastung zu sorgen. Doch die steckt seit Monaten beim Bundesrat fest, der letzten Instanz, die entscheidet, wann sie umgesetzt wird.

Es geht  um das sogenannte «Anordnungsmodell» (siehe Box). 

Das Anordnungsmodell

In der Psychotherapie gibt es zwei Berufsgruppen: Psychiater*innen und psychologische Psychotherapeut*innen.

Die Psychiaterin macht ein Medizinstudium und eine sechsjährige Weiterbildung zur Fachärztin. Danach ist sie Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und hat die Befugnis, zulasten der Grundversicherung zu therapieren. 

Der psychologische Psychotherapeut macht ein Psychologiestudium mit Master und eine fünfjährige Weiterbildung. Am Ende ist er anerkannter Psychotherapeut und darf therapieren, allerdings nur zulasten der Zusatzversicherung. Ausser er lässt sich von eine*m Psychiater*in anstellen. Dann greift das gängige Delegationsmodell: Der*die Psychiater*in delegiert die Psychotherapie an ihn, die Abrechnung über die Grundversicherung läuft über die*den Arbeitgeber*in.

Aktuell sind nur Psychiater*innen oder die bei ihnen angestellten psychologischen Psychotherapeut*innen berechtigt, über die Grundversicherung abzurechnen. Da liege das Problem, erklärt Philipp Thüler von der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) : Diese Regelung führe zu einer Verknappung der verfügbaren Therapieplätze, die von der Grundversicherung gedeckt sind. Dazu komme, dass es vor allem in ländlichen Regionen zu wenige praktizierende Psychiater*innen gibt. Um die dringend benötigten Therapieplätze zu schaffen, brauche es statt eines Delegationsmodells ein Anordnungsmodell: Damit psychologische Psychotherapeut*innen selbständig über die Grundversicherung abrechnen dürfen, sofern die Behandlung auf Anordnung eine*r Ärzt*in erfolgt. 

Der Systemwechsel sollte eigentlich in vollem Gange sein. Im Juni 2019 verabschiedete der Bundesrat eine entsprechende Vernehmlassung, in der Medienmitteilung heisst es: «Menschen mit psychischen Problemen sollen einfacher und schneller eine Psychotherapie erhalten, insbesondere Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene in Krisensituationen.» Die Krisensituation hat sich verschärft, doch passiert ist gesetzestechnisch bisher nichts. 

Im Juni 2020 reichte SP-Nationalrätin Franziska Roth eine Interpellation ein, unter anderem mit der Frage, wann mit dem neuen Modell zu rechnen sei. Der Bundesrat antwortete mit Ende 2020. Im Dezember wiederholte Roth ihre Frage, die Antwort lautete: «Verschiedene Faktoren haben dazu geführt, dass der Beschluss des Bundesrates erst im 1. Quartal 2021 möglich sein wird.» 

Im Januar forderte die FSP in einem offenen Brief den Bundesrat zu raschem Handeln auf. Bis jetzt habe man jedoch keine Antwort erhalten, sagt Philipp Thüler. Er verstehe, dass der Bundesrat momentan gefordert sei. «Es geht jetzt in erster Linie darum, Menschenleben zu retten. Doch die Folgen, wenn man Menschen mit psychischen Problemen nicht frühzeitig therapiert, sind ebenso verheerend.» 

Der Systemwechsel würde eine sofortige Entlastung bringen, sagt er: «Um die 400'000 Personen mit einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung bleiben heute unbehandelt. Mit der Einführung des Anordnungsmodells werden gut 100'000 Personen zusätzlich behandelt werden können.» 

«Mit der Einführung des Anordnungsmodells werden gut 100'000 Personen zusätzlich behandelt werden können.» 

Philipp Thüler, Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen.

Doch warum dauert es so lange? Die Medienstelle des Bundesrats wiederholt auf Anfrage nur: «Die Vernehmlassung ist abgeschlossen. Der Bundesrat wird voraussichtlich im ersten Quartal dieses Jahres dazu Stellung nehmen.»

Derweil schwappt das Problem auch auf andere Anlaufstellen über, etwa die Familien-, Paar- und Erziehungsberatung Basel. So sagt Psychotherapeutin Diana Vorpe am Telefon, ohne zu zögern: «Wir sind wirklich am Anschlag». Die Beratungsstelle werde von Hilfesuchenden regelrecht überrollt. 

Gerade wenn es um junge Erwachsene geht, steckt die Beratungsstelle wie viele andere Institutionen auch in einer Schlaufe fest. Das Problem: Sie darf keine regelmässigen Einzelsitzungen mit Menschen über 18 machen. Meldet sich also ein*e junge*r Erwachsene*r bei Vorpe und ihren Kolleg*innen, wird triagiert.

Muss er*sie in die Klinik? Dann wird Hilfe bei der Anmeldung geleistet. Ist das Problem weniger akut? Dann bietet die Beratungsstelle Unterstützung bei der Suche nach Therapeut*innen. «Und damit sind wir wieder beim Ursprungsproblem», sagt Vorpe. «Es sind zu wenig Therapeuten verfügbar, die über die Grundversicherung abrechnen können.» So werden junge Menschen in der Krise von Stelle zu Stelle geschoben.

Yann: Vom Leistungssport in die UPK

Yann (20) ist einer der jungen Erwachsenen, die die UPK von innen kennen. Das hier ist seine ganz subjektive Sicht auf seine Krise.

Seit ein paar Jahren verletzt sich Yann immer wieder selbst, «kleine Sachen», wie er sagt. Schnitte, kleine Brandwunden mit der Zigarette. Lange ist er der Überzeugung, er habe sein Verhalten im Griff. Aber dann kommt Corona. Yann ist Leistungssportler in einem Basler Wettkampfteam. Als bekannt wird, dass die Schweizermeisterschaften abgesagt werden, zieht ihm das den Boden unter den Füssen weg. Für Leistungssportler ist Training lebenswichtig, wer nicht mehr wie gewohnt trainieren kann, verliert auf einen Schlag ein Stück Lebenssinn.

Yann merkt, wie es ihm schlechter geht, aber er schiebt es beiseite. Bis im September die Suizidgedanken kommen. Er ruft unter einer Notfallnummer an, die man ihm bei einem früheren Besuch in einem Ambulatorium gegeben hatte. Die Frau am anderen Ende meint, sie brauche seine Krankenkassennummer. Diese Frage gehört zum Standardablauf eines Notfallgesprächs, aber Yann verärgert sie. «Ich hatte der Frau doch gerade gesagt, dass ich mich umbringen will. Und da fragt sie nach der Krankenkasse?» Er legt wieder auf und schafft es gerade noch, seinen Vater anzurufen. Der bringt ihn in die UPK, wo Yann abgeklärt wird und ein Zimmer bekommt. 

«Ich wusste: So wie meine Mitpatient*innen auf der Geschlossenen wollte ich nicht enden.»

Yann (20).

Was folgt, erlebt er als eine «recht planlose Abfolge von Gesprächen». In den nächsten Tagen sei er immer wieder von neuen Fachpersonen befragt worden, Oberarzt, Pflegende und Psychologinnen hätten ihm unterschiedliche Anweisungen auf seine drängende Frage gegeben, ob er trainieren dürfe. Yann leidet darunter, seine Geschichte immer wieder erzählen zu müssen und keine wegweisenden Antworten zu bekommen.

Die Selbstverletzungen werden schlimmer, er schneidet sich immer tiefer in die Unterarme. Er bekommt Temesta verschrieben und Quetiapin, ein Arzneimittel zur Behandlung psychischer Störungen. Um schlafen zu können, nimmt er abends Imovane, ein Schlafmittel. 

An einem der folgenden Abende ist er bei seinen Grosseltern zu Besuch und kann nicht aufhören, an den Revolver seines Grossvaters zu denken. Er verspürt einen unerträglichen Drang, sich damit etwas anzutun. Später fährt er in sein Zimmer in der UPK zurück und nimmt eine Tablette Imovane, dazu 2,5mg Temesta. An das, was kurz danach passiert, hat er keine Erinnerung mehr. 

Er wacht auf der Notfallstation auf, man sagt ihm, er habe sich mit einem Plastiksack das Leben nehmen wollen. Yann wird auf die geschlossene Abteilung verlegt. Er ist benebelt von den Medikamenten, sein Vater berichtet ihm später, er habe sich verhalten wie ein Junkie. Später habe man ihm erklärt, dass Temesta in gewissen Fällen nicht nur beruhigt, sondern auch suizidale Tendenzen verstärken kann und Hemmungen löst. 

Eine Woche verbringt Yann auf der geschlossenen Abteilung der UPK. Ihm hilft es, andere Patient*innen zu sehen. Weil ihm klar wird, dass er auf keinen Fall noch einmal hier landen will. «Ich hatte sofort den Ansporn, dort wieder rauszukommen. Ich wusste: So will ich nicht enden.» 

«Wir sehen keinen signifikanten Anstieg von Patient*innen.»

Undine Lang, Klinikdirektorin Erwachsenen- und Privatklinik UPK.

Anders als bei den Beratungsstellen, spürt man in der Klinik für Erwachsene der UPK bisher wenig von den Corona-Auswirkungen. Dort wie auch in der Privatklinik sehe man weder ambulant noch stationär einen signifikanten Anstieg von Patient*innen, sagt Direktorin Undine Lang auf Anfrage. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass sich nur ein geringer Anteil von Menschen psychiatrische Hilfe holt. «Oft wird diese eher verzögert in Anspruch genommen.»

Das deckt sich mit dem Verhalten der jungen Erwachsenen, mit denen ich für die Vorrecherche geredet habe. Viele haben im ersten Moment ein schlechtes Gewissen, sich auf dem Notfall der UPK zu melden. «Ich bin mega im Clinch», erzählte mir eine junge Frau. «Einerseits geht es mir sehr schlecht, andererseits nehme ich vielleicht jemandem den Platz weg, der ihn viel dringender braucht.»

Yann lebt heute zuhause in seiner WG und sieht einmal wöchentlich eine Psychiaterin. In eine Klinik ist er nie zurück gegangen, Medikamente nimmt er keine. Sein Vertrauen in die Therapeutin und sein stabiles Umfeld seien im Moment genug. Wenn er an die zwei Wochen zurückdenkt, die er insgesamt in der UPK verbracht hat, kann Yann ganz genau benennen, was für ihn persönlich das Schwierigste an dem Aufenthalt war. Seine Erwartungen seien viel zu hoch gewesen. Um zu bekommen, was man brauche, müsse man sich seiner Erfahrung nach für seine Bedürfnisse und Fragen einsetzen, sagt er. «Auch wenn du in der UPK bist, rausholen musst du dich selbst.» 

«Rausholen musst du dich selbst.» 

Yann (20).

Habe jemand suizidale Tendenzen, brauche es einen engmaschigen und guten, verbindlichen Kontakt, sagt Undine Lang, Direktorin der Klinik für Erwachsene und Privatklinik der UPK. «Man muss als Therapeut*in Hoffnung vermitteln, keiner unserer Patient*nnen bleibt in einer Krise stecken.» Wichtig sei eine psychotherapeutische Unterstützung und eine wirksame Behandlung der zugrundeliegenden Erkrankung. 

Ob sich jemand selbst rausholen müsse oder nicht, hänge sehr stark von der Diagnose ab. «Es gibt einzelne Diagnosen, wo wir vorübergehend die Verantwortung für einen Patienten übernehmen.» Das sei jedoch nur selten der Fall. Bei den meisten Patient*innen habe man es mit hilfesuchenden Menschen zu tun, die sich proaktiv an der Therapie beteiligen und mitentscheiden wollen. «Vor allem bei einer Psychotherapie ist die eigene Motivation und Übernahme von Eigenverantwortung entscheidend. Eine Psychotherapie ohne oder sogar gegen den Willen funktioniert leider nicht.»  

Ben und Nina: Zwischen zu krank und nicht krank genug

Ben und Nina (23) sind ein Paar, gemeinsam sitzen sie vor dem Bildschirm, ab und zu läuft ihre Katze Cleo durchs Bild. Ben hatte Depressionen, im Februar letzten Jahres erzählte er seinem Hausarzt davon. Der verschrieb Antidepressiva und riet ihm, sich eine*n Psychiater*in zu suchen. Ben wollte als erstes einen Psychoanalytiker und machte sich auf die Suche. «Alle waren sehr nett und sagten, es tue ihnen Leid.» Niemand hatte Platz. 

Im Mai, als es nicht mehr ging, besuchte Ben das Ambulatorium an der Kornhausgasse, das zur UPK gehört. Hier wird eine Diagnose oder ein etwaiger akuter Hilfsbedarf eingeschätzt und Patient*nnen werden beraten, welche Form von weiterer Therapie sinnvoll wäre.

Eine Assistenzärztin verschrieb Ben das Antidepressivum Brintellix  und empfahl ihm die Youtube-Reihe «Yoga mit Adriene». «Das war irgendwie seltsam, zeigte  meiner Meinung aber auch, wie hilflos zum Teil sogar das Fachpersonal innerhalb dieser Strukturen ist», sagt er. Für weitere Kontakte schrieb sie ihm die doc24-Webseite auf, jene mit dem Ampelsystem. Als Ben zur Tür raus war, fragte er sich: Und jetzt?

Beim ambulanten Angebot in der Kornhausgasse sei wichtig, dass sich Betroffene erneut melden, wenn keine Anschlussbehandlung zustande kommt, sagt Undine Lang. «Damit wir Kenntnisse davon haben und unsere Prozesse verbessern können.» Nur: Die Knappheit an Therapeut*innen in Basel lässt sich auch durch eine Prozessoptimierung nicht beheben.

«Die Pandemie hat mir gut getan.»

Nina (23).

Auch für Ben war die Suche schwierig. Selbständige Psychotherapeut*innen konnte er sich nicht leisten, also suchte er bei den Ärzt*innen. Kurzzeitig fand er einen Psychiater, mit dem es aber nicht passte. Seit letztem Herbst ist er einmal pro Woche bei einem delegierten Psychologen. Die Sitzungen findet er in Ordnung, auch wenn er immer wieder rechtfertigen muss, dass er hier sei. «Das frage ich mich doch selbst die ganze Zeit.» Den Therapeuten zu wechseln kommt für ihn nicht infrage: «Ich will nicht wieder so lange auf der Suche sein müssen.» **

Nina leidet an einer Borderline-Störung. Im Januar 2020 war sie zum ersten Mal bei einer Therapeutin, nach zehn Sitzungen haben sie im gegenseitigen Einverständnis die Therapie beendet. Doch Nina ging es nicht besser. Im August fand sie eine passende Ärztin, die jedoch erst zu Beginn des Jahres wieder Platz hatte. Mit einer Franchise von 2‘500 Franken konnte sich Nina keine andere Therapie leisten, also wartete sie.

Als sie sich Ende November bei der Therapeutin meldete, musste ihr diese für Januar absagen. Es war nichts frei geworden. Die Ärztin entschuldigte sich und schickte eine Liste mit Kontakten. Nina brauchte drei Wochen um sich aufzuraffen, die Liste durchzugehen.

Eine Person hatte noch Platz, Nina ist bis heute bei ihr in Therapie. Sie merkt bereits erste Fortschritte und ist froh, hat sie es so lange alleine durchgehalten. «Aber für andere wäre dieser Weg womöglich zu lang gewesen.»

Nina und Ben sagen beide, dass Corona nicht der Auslöser für ihre psychischen Belastungen gewesen sei. Im Gegenteil: «Die Pandemie hat mir gut getan», sagt Nina, «jetzt sind alle isoliert und können soziale Treffen nicht wahrnehmen.» Man fühle sich nicht mehr alleine mit diesen Einschränkungen, mit denen Nina seit mehr als 10 Jahren lebt. «Für mich ist das eine Erleichterung. Viele Menschen überfordern mich.»

«Entweder gehe ich auf den Notfall der UPK oder ich warte monatelang auf einen Therapieplatz. Dazwischen gibt es nichts.»

Anna (21).

Ben nennt Fälle wie ihn und Nina «Inbetweeners». Die Dazwischensteher*innen. Die zu wenig krank sind, um sich einweisen zu lassen und zu krank, um ihren Alltag ohne Hilfe zu meistern. 

Während Corona sind gerade sie es, die durch die Maschen des Systems fallen. Was lässt sich für sie tun? Ben wünscht sich niederschwelligere Angebote, etwa Walk-In-Strukturen mit verfügbaren Therapeut*innen. Und eine Gesundheitspolitik, die nicht erst reagiere, wenn die Folgen unübersehbar werden. Die Verordnungsänderung sei ein guter Anfang, sagt er. «Aber um wirklich was zu verändern, braucht es ein Bewusstsein der Gesellschaft für unsere Situation. Im Moment kämpft jeder für sich, mit Problemen, die man mit so vielen teilt. So darf das nicht bleiben.»

Auch Anna vom Anfang dieses Artikels kennt die schwierige Dazwischen-Position: «Entweder gehe ich auf den Notfall der UPK oder ich warte monatelang auf einen Therapieplatz. Dazwischen gibt es nichts.» 

Wir hören zu.

Das sei kein Zustand, sagt die Psychotherapeutin Diana Vorpe. Für sie braucht es einen Ausbau der Ressourcen der diversen (Familien-)Beratungsstellen. «Damit ein breiteres Beratungsangebot geschaffen werden kann, das sich nicht nur auf Triage beschränkt. Das würde uns Berater*innen enorm entlasten.» Gerade in Krisenzeiten sei es wichtig, die anstehenden Fälle effizient und zeitnah abfangen und weiter beraten zu können, statt sie weiterverweisen zu müssen. Je länger Patient*innen auf ihr erstes Gespräch warten müssen, desto mehr könne sich die Situation verschärfen. Um das zu bewerkstelligen, müsste mit finanziellen Mitteln nachgeholfen werden. 

Zuständig für die Familienberatungsstellen ist das Erziehungsdepartement des Kantons. Mediensprecher Simon Thiriet sagt auf Anfrage: «Das Erziehungsdepartement kann nicht einfach mehr Geld bewilligen.» Falls zusätzliche Mittel beantragt würden, wäre je nach Höhe der Grosse Rat oder der Regierungsrat zuständig. Momentan liege jedoch kein Gesuch vor. 

Während die politischen Mühlen mahlen, fühlen sich Betroffene im Stich gelassen. Das Zeichen, das man ihr mit dem einseitigen Angebot gebe, sagt Anna, sei unmissverständlich: «Entweder dir geht's so schlecht, dass du in die UPK musst. Oder dir geht's nicht schlecht genug. Dann kannst du ruhig noch ein wenig warten.»

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*alle Namen von Betroffenen geändert.

** kurz vor Publikation dieses Artikels meldete sich Nina bei der Autorin: Ben musste vergangene Woche stationär in die UPK überwiesen werden. Seine Situation hatte sich verschlechtert. Wir melden uns bei Ben, der kurz von den Tagen auf der stationären Abteilung erzählt. Es gebe unterschiedliche Angebote, aber Einzelsprechstunden habe er bis jetzt noch keine gehabt. Ihm fehle ein Therapieziel, aber er sei trotzdem froh, da zu sein. «Ich wüsste nicht, wo ich sonst hin könnte.» Für Nina ist sein Eintritt eine Entlastung: Da sein Therapeut in den Ferien war und nur Telefongespräche bieten konnte, hatte sie alles abfangen müssen. Ben sagt über seinen Eintritt: «Das wäre nicht nötig gewesen, wäre ich ambulant besser angebunden gewesen.»

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