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Ernährungsknappheit

«Wir brauchen resiliente Systeme»

Der Krieg gegen die Ukraine hat die Ernährungslage der Welt erheblich verschärft. Die Expertin für Agrarhandel Christine Chemnitz sieht die Industrieländer in der Pflicht. Der wichtigste langfristige Hebel: weniger Fleisch konsumieren.

03/18/22, 02:31 PM

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Dieser Artikel ist am 17. März 2022 zuerst in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Eine Frau vor einem zerstörten Feuerwehrfahrzeug, Mariupol, 10. März.

Eine Frau vor einem zerstörten Feuerwehrfahrzeug, Mariupol, 10. März. (Foto: AP Photo / EVGENIY MALOLETKA, KEYSTONE)

WOZ: Christine Chemnitz, seit drei Wochen führt Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. War für Sie von Anfang an klar, dass dieser Krieg verheerende Konsequenzen bezüglich der globalen Ernährungsversorgung haben wird?
Christine Chemnitz: Ja, wie wohl allen Personen, die sich mit Agrarmärkten und globaler Landwirtschaft beschäftigen. Es war recht eindeutig: Das ist ein grosser Schock. Die Ukraine und Russland sind für annähernd dreissig Prozent des globalen Weizenexports verantwortlich. Entsprechend zentral ist ihre Rolle für die globale Nahrungslieferkette.

Wie ist denn derzeit die Situation vor Ort in der Ukraine?
Das weiss ich auch nur aus der Presse, aber die Lage scheint dramatisch. Insbesondere in den belagerten Städten. Zurzeit baut das Welternährungsprogramm WFP in der Ukraine seine Infrastruktur auf, um die Menschen versorgen zu können. Ausgerechnet jenes Land, von dem das WFP in den letzten Jahren einen sehr grossen Teil seiner Getreidelieferungen bezogen hat, muss jetzt von ebendieser Uno-Organisation versorgt werden. Das ist erschütternd. Und je länger der Krieg dauern wird, desto mehr Versorgungsketten, Infrastruktur und Getreidelager werden zerstört.

Und das hat globale Auswirkungen?
Ja, denn grosse Häfen wie jener in Mariupol sind zerstört oder stehen still wie der Hafen von Odessa. Sämtliche Exporte sind ausgesetzt. Die Folgen sind aber vor allem auch mittel- und langfristig. Die ukrainischen Landwirt:innen können ihre Felder jetzt kaum bearbeiten, weil die meisten Mitarbeitenden im Krieg sind und sie auch keinen Diesel für die Maschinen haben. Das heisst, es wird in diesem Jahr und recht sicher auch noch in den folgenden Jahren – wegen der zerstörten Infrastruktur – zu massiven Ernteausfällen kommen. Global betrachtet ist aber auch Russland entscheidend.

Weil auch Russland ein sehr wichtiger Getreideexporteur ist. Wie sieht es diesbezüglich aus?
Anfang dieser Woche hat Russland beschlossen, seine Getreideexporte zu beschränken, befristet bis Ende Juni. Ein gänzlicher Stopp oder auch eine längere Einschränkung des Exports wäre fatal, weil es für die weltweite Ernährungssituation sehr entscheidend ist, dass weiterhin Getreide aus Russland den Weg auf den Weltmarkt findet.

Zur Person

Seit 2007 leitet Christine Chemnitz (46) das Referat Internationale Agrarpolitik bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Die Stiftung steht den Grünen nahe.

Sie ist unter anderem Projektleiterin des jährlich erscheinenden «Fleischatlas», bei dem auch die deutsche Ausgabe von «Le Monde diplomatique» mitmacht (Gratisdownload auf www.boell.de/de/fleischatlas(link is external)).

Das Thema der globalen Nahrungsmittelknappheit hat zuletzt viel mediale Aufmerksamkeit erhalten. Die Prognosen sind düster, insbesondere für stark importabhängige Länder wie Ägypten, die bisher massgeblich auf Getreide aus der Ukraine angewiesen waren.
Für Länder, die stark auf Nahrungsmittelimporte angewiesen sind, ist die Lage tatsächlich sehr bedrohlich. Die Preise für Nahrungsmittel sind schon vor dem Krieg gegen die Ukraine so hoch gewesen wie seit einem Jahr nicht mehr. Das hat auch mit der Coronapandemie und Missernten infolge des Klimawandels zu tun. Der Hunger auf der Welt steigt ungefähr seit 2017 kontinuierlich, derzeit leiden an die 800 Millionen Menschen daran.

Hier spielt das WFP mit seinen Nothilfeprogrammen eine zentrale Rolle. Es ist deshalb unmittelbar wichtig, dass die Staatengemeinschaft und insbesondere die reichen Länder des Nordens dem WFP in den kommenden Monaten genug Gelder zur Verfügung stellen, damit es seine Programme etwa in von Hungersnöten geplagten Ländern weiterführen kann. In Europa hingegen werden wir keine Nahrungsmittelengpässe erleben.

Unmittelbar sind also grosszügige finanzielle Hilfen für das WFP dringend. Wie aber lassen sich mittel- und langfristig solch grosse Importabhängigkeiten vermeiden?
Die Ausgangslage ist, dass schon heute genug Nahrungsmittel produziert werden, um alle Menschen auf der Welt zu ernähren. Aber nicht alle Menschen auf der Welt verfügen über genügend Geld, um sich Nahrungsmittel leisten zu können. Die freien Märkte sorgen dafür, dass die Agrarrohstoffe dort landen, wo am meisten gezahlt wird: Ein beträchtlicher Teil von Nahrungsmitteln – etwa Weizen, Mais oder Soja – dient als Futtermittel für die Nutztierhaltung oder landet in unseren Tanks als Beimischung zu Benzin.

Hunger ist die extremste Ausdrucksform von Armut. Es braucht strukturelle Antworten auf die Armut sowie auf die weiter zunehmende globale Ungleichheit.

Wie sehen solche strukturellen Antworten aus?
Es geht fundamental darum, die Einkommensmöglichkeiten der Allerärmsten zu verbessern – nicht nur, aber vor allem auch im landwirtschaftlichen Bereich. Die meisten Menschen, die von extremer Armut und somit auch von Hunger betroffen sind, leben auf dem Land als Kleinbäuer:innen. Sie besitzen meist viel zu wenig Land und viel zu wenig Geld, um sich selbst das ganze Jahr über zu ernähren. Sie brauchen Zugang zu fruchtbarem Land, zu Saatgut und zu landwirtschaftlicher Beratung.

Es braucht also mehr Geld und mehr Bildung. Da sind insbesondere die reichen Industrieländer im Norden gefordert.
Genau. Es ist notwendig, den Fokus unserer Entwicklungszusammenarbeit verstärkt auf die Agrarwirtschaft zu richten. Beispielsweise mit massiven Investitionen in resiliente Agrar- und Ernährungssysteme.

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Was verstehen Sie unter resilienten Systemen?
Im Kern steht der folgende Dreiklang: Agroforst, also Bäume, die Schatten spenden und organische Substanzen in den Boden bringen, verknüpft mit einer lokal angepassten Art der Tierhaltung sowie Ackerbausystemen, die auch wieder an die regionalen klimatischen und geografischen Gegebenheiten angepasst sind. Es geht also darum, jeweils passende lokale und regionale Systeme zu schaffen, die nicht kapitalintensiv sind.

Das heisst: In weiten Teilen Indiens werden die entsprechenden resilienten Agrarsysteme anders aussehen als etwa im Senegal. Ein paar Grundsätze gibt es allerdings: Die Böden sollten nicht unbedeckt sein, es braucht möglichst viel organische Masse in den Böden, etwa Wurzelmasse, die Wasser halten kann, sowie eine überschaubare Anzahl an Tieren – und immer Vielfalt. Das macht am Ende des Tages Resilienz aus.

Was wären denn konkrete Alternativen zu Weizen und Mais?
Da gibt es viele verschiedene, und die Alternativen sind wirklich standortabhängig. Zum Beispiel Hülsenfrüchte: Diese binden Stickstoff im Boden. Die Landwirt:innen benötigen dann weniger Stickstoffdünger, der aktuell sehr viel kostet.

In Nigeria unterstützen wir zum Beispiel eine Modellfarm, die agrarökologisch wirtschaftet. Das heisst, Pflanzen werden so angebaut, dass explizit die Bodenqualität verbessert wird. Das ganze System ist darauf ausgerichtet, Wasser besser im Boden zu speichern, Nützlinge anzuziehen und Schädlinge abzuhalten. Resiliente agrarökologische Systeme sind das Gegenstück zur monokulturellen Landwirtschaft.

In der Schweiz ruft die rechtsnationale SVP zur «Anbauschlacht» wie im Zweiten Weltkrieg auf und fordert, «ideologisch verblendete links-grüne» Ökoprojekte zu sistieren. Auch in Deutschland fordert der Bauernverband, die biologische Landwirtschaft zurückzufahren und den Anbau zu steigern. Droht ein Backlash?
Diese politische Auseinandersetzung läuft derzeit, und ich bedaure sie sehr. Berechnungen zeigen: Auch wenn wir in der EU die Brachflächen wegfallen lassen, wird der zusätzliche Ertrag nur bei 0,4 Prozent der weltweiten Produktion liegen. Auch der Einfluss auf die Nahrungsmittelpreise würde weit unter einem Prozent liegen. Der Nutzen für all diejenigen, die heute hungern, wäre also gering. Aber der Schaden für die Biodiversität und die Glaubwürdigkeit der EU wie auch der Schweiz bezüglich nachhaltiger landwirtschaftlicher Lösungen wäre enorm. Aus meiner Sicht ist das eine Scheindebatte. Wir müssten über ganz andere Themen sprechen.

Welche?
Wir müssen kurzfristig dem WFP ausreichend Geld zur Verfügung stellen für die Nothilfe. Dann müssen wir über Beimischungsquoten von Agrartreibstoffen reden. Diese sollten wir aussetzen. Es kann doch nicht sein, dass Getreide in unseren Tanks landet, während weltweit Hunderte Millionen von Menschen hungern.

Der noch viel grössere Hebel liegt bei den Futtermitteln für die Tierhaltung zur Fleisch- und Milchprodukteherstellung. Mittel- und langfristig müssen die Menschen schlichtweg weniger Fleisch essen. Das ist die grosse politische Aufgabe der Agrar- und Ernährungspolitik.

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