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Bolzplatz

125 Jahre Schweizer Fussball: Von fremden Fötzeln und elitärem Dünkel

Anlässlich des 125-jährigen Geburtstags des Schweizerischen Fussballverbands verschwindet neo-Didi-Kolumnist Simon Engel im Archiv. Und fördert wahre Perlen über die Anfänge des heutigen Massenspektakels Fussball zutage. Anpfiff zu einem historischen Bolzplatz!

04/10/20, 07:22 AM

Aktualisiert 04/10/20, 09:32 AM

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Das Wankdorfstadion in den 1920er Jahren mit dem Schriftzug «Young Boys Forever».

Das Wankdorfstadion in den 1920er Jahren mit dem Schriftzug «Young Boys Forever».

„Young Boys forever“ - das ist doch wieder so moderner englischer Marketingsprech!? Und typisch YB, das war sicher eine Eingebung der velofahrenden Rihs-Brüder, die den Bundesstädtern zwar viel Geld vermachen, aber keine Ahnung von Fussball haben. 

Denkste! 

Auf einem Foto des alten Wankdorf-Stadions aus den 1920er-Jahren prangt der slogan prominent über dem Spielerausgang. Laut YB-Chronik wurde er bereits in den ersten Jahren nach der Gründung im Jahre 1898 von den Mitgliedern formuliert und steht bis heute in den Statuten des Clubs. Warum aber ausgerechnet ein englischer Vereinsname mitsamt englischem Wahlspruch?

Von wegen Bolzplatz: Akademiker und Kaufleute brachten den Fussball in die Schweiz

Die Einführung des Fussballs in der Schweiz Ende 19. Jahrhundert war das Werk von Akademikern und Kaufleuten, die aufgrund ihrer Tätigkeit in England – dem Mutterland des modernen Fussballs – oder in der Schweiz mit Engländern zu tun hatten. Und über diese persönlichen Kontakte das Spiel kennenlernten. Gleichzeitig waren zahlreiche in der Schweiz lebende englishmen in verschiedenen Vereinen aktiv, oder hatten wesentlichen Anteil an der Gründung von Schweizer Fussballclubs. 

Ein Musterbeispiel einer solchen Vereinsgründung gefällig? Der älteste noch bestehende Fussballverein der Schweiz, der FC St. Gallen, wurde 1879 von jungen einheimischen Kaufleuten gegründet. Kennengelernt hatten sie den Fussball während ihrer Ausbildung über englische Mitschüler. Voilà.

Gekickt wurde in der Schweiz aber nachweislich bereits etwas früher – seit 1855 oder 1869 – und auch hier spielten Engländer eine Rolle: An den welschen Erziehungsinstituten von Château de Lancy und La Châtelaine wurden viele Sprösslinge von reichen Industriellen aus Grossbritannien ausgebildet. Die jungen Engländer kannten das Fussballspiel aus den Internaten ihrer Heimat und drängten ihre Lehrer, es auch an ihrer Schule einzuführen. 

Auszug aus der Nationalzeitung, 1893.

Auszug aus der Nationalzeitung, 1893.

Die Begrifflichkeiten des damals frisch importierten Spiels waren deshalb allesamt auf Englisch und dadurch sind im Schweizer Fussball Wörter wie ‘Penalty’, ‘Corner’ oder ‘Goalie’ bis heute Usus, während andere Begriffe eingedeutscht wurden.

Die Pioniere des Schweizer Fussballs sprachen folglich auch nicht vom ‘Fussball’ sondern vom ‚Football-Spiel’ (siehe Textauszug im Bild oben). Die Vereine wurden teilweise mit englischen Namen wie ‘Old Boys Basel’ (die übrigens nicht nur hinsichtlich des Namens, sondern auch bei den Clubfarben Vorbild für die Young Boys waren) oder ‘Grasshoppers Club Zürich’ getauft. Der Fussballverband hiess bei seiner Gründung 1895 noch ‘Schweizerische Football-Association’ und der Verteidiger wurde ‘back’ genannt. 

Der Schweizer Fussball hatte in seinen Anfängen also einen stark angelsächsischen Touch und zog eine aufstrebende, kosmopolitische Elite an, in welcher die nationale Zugehörigkeit wenig bis gar keine Rolle spielte. Es ging darum, den Drang nach Bewegung im freien Spiel auszuleben und Spass zu haben. 

«Die Fussballer wurden von den Turnern deshalb lange Zeit als ‘unschweizerisch’ abgestempelt, weil sie einem englischen Importprodukt frönten und sich nur zum Vergnügen bewegen wollten.»

Damit standen die Fussballpioniere in starkem Gegensatz zu den Vertretern der traditionellen Disziplinen wie dem Turnen: Zwar gab es dort auch viele Akademiker, diese waren jedoch nationalliberal bis konservativ gesinnt und sahen sich als staatstragende Erben des damals noch jungen Schweizerischen Bundesstaates. 

Ein Turner, und es turnten in erster Linie die Männer, sollte deshalb nie zweckfrei seinen Körper ertüchtigen, sondern dies immer im Hinblick auf staatsbürgerliche Pflichten wie den Wehrdienst tun. Deshalb erinnerten gewisse Turnübungen bis in die 1960er-Jahre auch stark an militärischen Drill. Turnen war eine todernste Sache!

Die Fussballer wurden von den Turnern deshalb lange Zeit als ‘unschweizerisch’ abgestempelt, weil sie einem englischen Importprodukt frönten und sich nur zum Vergnügen bewegen wollten. Auch die Behörden waren zunächst skeptisch, unterstützt wurden – ideell und finanziell – nur Sportarten, die sich zur staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend bekannten. Ein Bericht der Kantonsschule Luzern schrieb 1910 beispielsweise: 

«An der Kantonsschule existiert [...] kein Fussballklub mehr. Durch die Erziehungsbehörde ist den Schülern untersagt, Mitglied einer Vereinigung zu sein, die als ausschliesslichen Zweck den Fussballsport pflegt. Gegen die einseitige Pflege des Fussballspieles und seine naheliegenden Uebertreibungen während der Zeit des schulpflichtigen Alters sprechen viele Gründe: Vernachlässigung des Lerngedankens, Anfänge zu frühzeitigem in mancher Hinsicht schädigendem gesellschaftlicher Verkehr, Schädigung der Gesundheit durch einseitigen Betrieb und Ueberanstrengung der Organe in den Jahren des kräftigsten Wachstums usw.»

Spott der Fussballer des FC Bern über die Turner, Schweizer Sportblatt, 5.1.1900.

Spott der Fussballer des FC Bern über die Turner, Schweizer Sportblatt, 5.1.1900.

Trotz dieser Abwehrreaktionen - die übrigens alle damals neu entstandenen Sportarten betrafen - wurde der Fussball in der Schweiz zunehmend beliebter und erreichte auch tiefere soziale Schichten. Zudem wollten die ‘Football-Spieler’ ihr ‘fremdländisches’ Image korrigieren, auch um Bundessubventionen zu erhalten. So wurde der englische Verbandsname 1913 eingedeutscht und in den Statuten verschrieb man sich neu der Erziehung der Jugend.

Wirklich staatstragend wurde der Fussball aber erst ab 1938 – und damit just zu dem Zeitpunkt, als der Fussballverband beschloss, den berufsmässigen Fussball zu untersagen. 

Im Kontext des aufkommenden Zweiten Weltkrieges und der damit verbundenen ‘geistigen Landesverteidigung’ postulierte der SFV sinngemäss die ‘Sanierung der schweizerischen Fussballbewegung von der Jugend her’. Während dem Krieg besuchte der sportbegeisterte General Guisan mehrmals Länderspiele der Schweizer Nati, was zeigte: Fussball zog mittlerweile genug Massen an, um als wirksames Vehikel für politische Botschaften und nationale Repräsentation zu dienen.

Etwas später wurde auch die Entstehungsphase des Fussballs in der Schweiz umgedeutet, 1945 wurde in einer Verbandspublikation der englische Einfluss gar als negativ bezeichnet. 

Abschied von der Politik – auf Zeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg schwächten sich solche Denkweisen im Sport zunehmend ab, gerade auch weil die Breitenfussballer (auch die Turner) sich gänzlich unpolitisch fit halten wollten: Einfach ‘goh schutte’, zusammen verlieren und gewinnen, so wie es 280’000 Aktive jedes Wochenende tun (ausser es grassiert gerade ein Virus...).

Dass der Schweizer Fussball aber bis heute als Plattform für nationale Befindlichkeiten dienen kann, zeigt zum Beispiel die unsinnige ‘Doppeladler-Diskussion’ um die ‘Nicht-Eidgenossen’ Shaqiri und Xhaka. Gleichzeitig tauchen aber seit längerem neue (Kommerz-)Anglizismen auf: ‘Super League’ statt ‘Nati A’, Spielankündigungen per #matchday statt auf dem Matchplakat. 

Aber ob es nun ‘Football-Spiel‘, schutte oder #Matchday heisst: Am Schluss ist es das Spiel, das uns mitfiebern lässt, und keine Wortklauberei. 

Das ist der Autor dieser Bolzplatz-Kolumne, Simon Engel. Didi Offensiv-Tresenkapitän Benedikt Pfister sagt über ihn: «Simon Engel ist unser Fussballprofessor: Nicht, weil er alles (besser) weiss, sondern weil er für  Swiss Sports History (sportshistory.ch) regelmässig uralte Tore, Einwürfe etc. wissenschaftlich analysiert und Gymnasiast*innen mit Geschichte beglückt. Huldigt nebst dem lokalen FCB auch dem katalanischen FCB(arcelona).

Das ist der Autor dieser Bolzplatz-Kolumne, Simon Engel. Didi Offensiv-Tresenkapitän Benedikt Pfister sagt über ihn: «Simon Engel ist unser Fussballprofessor: Nicht, weil er alles (besser) weiss, sondern weil er für Swiss Sports History (sportshistory.ch) regelmässig uralte Tore, Einwürfe etc. wissenschaftlich analysiert und Gymnasiast*innen mit Geschichte beglückt. Huldigt nebst dem lokalen FCB auch dem katalanischen FCB(arcelona).

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