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Der Krieg & ich

Die Gedanken, die von Kyiv nach Mariupol fliegen

Die ukrainische Autorin Eugenia Senik telefoniert täglich mit Freund*innen in der Ukraine. Aber nicht mit allen gleich intensiv, das führt zu Spannungen. Hier erzählt sie die Geschichte von Maryna in Kyiv.

03/23/22, 04:38 PM

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Der Krieg hat auch ein Teil von Maryna zerstört.

Der Krieg hat auch ein Teil von Maryna zerstört. (Foto: zvg)

Es wäre jetzt schwierig zu sagen, warum ich genau mit diesen Freunden seit dem 24. Februar in engen Kontakt geraten bin. Ich habe in vielen Städten und verschiedensten Gebieten der Ukraine gelebt und ich habe unglaublich viele Freunde und Bekannte in mehreren Teilen meines Heimatlandes. Warum denn habe ich früh am Morgen während der ersten Explosionen genau diese Freunde angerufen, um zu fragen, wo sie jetzt sind?

Ohne gross nachzudenken habe ich zuerst diejenigen kontaktiert, die sich in direkter Gefahr befanden. Mein Gehirn hat es so bestimmt: Sumy, Kharkiv, Kyiv und Donbas. Egal, ob wir mehrere Jahre keinen Kontakt mehr hatten. Ich habe sehr instinktiv und schnell ihre Namen in den Chats gesucht.

Dafür habe ich später von einer nahen Freundin Ärger bekommen, die sich an einem sicheren Ort befand. Ich hatte sie zwar kontaktiert, aber sie fand, ich hätte mir zu wenig Zeit für sie genommen. Sie wollte über Gefühle reden, ich wollte sicherstellen, dass die Freunde an gefährlicheren Orten noch am Leben sind. Seitdem spricht sie kaum mit mir. Für mich ist es immer noch schwierig, ihr zu erklären, warum ich in einer extremen Situation zuerst an die gedacht habe, die in Lebensgefahr waren. 

Dieser Krieg provoziert viele innere und unsichtbare Kriege.  

Zur Person

Zur Person

Eugenia Senik (35) ist eine ukrainische Autorin. Seit August 2021 lebt sie in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Für ihr Studium zog es sie nach Basel, wo sie Literaturwissenschaften im Master studiert.

Maryna kenne ich am wenigsten. Ich habe sie nur einmal in Person gesehen, und zwar an dem Tag, bevor ich in die Schweiz abgeflogen bin. Wir haben uns aber regelmässig einmal pro Woche online getroffen. Ich habe ihr und ihrem Mann Deutsch-Privatstunden gegeben. Und während dieser Stunden hat sich unsere Freundschaft entwickelt. Vielleicht, weil wir beide aus Donbas waren und ihre Grossmutter aus aus der kleinen Stadt in der Luhansk-Region kommt, wo ich aufgewachsen bin. Vielleicht, weil wir ähnliche Interessen haben oder uns einfach sehr schnell verständigen konnten. 

Eine der ersten, die ich kontaktiert habe, war also Maryna. Ich habe sie am ersten Tag gefragt, ob sie Kyiv verlässt und gesagt, sie und ihr Mann seien bei uns jederzeit willkommen. Sie hat mir aber klipp und klar gesagt, dass sie ihre Stadt und die Ukraine nicht verlassen wollen. Und dabei hat sie mitgeteilt, dass sie schwanger ist. «Es war eine schlechte Idee, ausgerechnet jetzt die Schwangerschaft zu planen» – sagte sie dazu. Und seither blieben wir in regelmässigen Kontakt. 

Sie will auf keinen Fall die Stadt alleine verlassen. «Entweder gehen wir mit meinem Mann, meiner Mutter und unserer Katze zusammen, oder wir gehen gar nicht.» Nur, ihr Mann muss auf Grund der Militärpflicht in Kyiv bleiben. Das Dilemma hat sich somit von selbst gelöst. 

«Du musst verstehen, dass in Mariupol nun eine andere Realität herrscht, die du dir gar nicht vorstellen kannst.»

Maryna, Freundin von Eugenia Senik.

Maryna kommt aus Mariupol, so wie ihr Mann. Sie ist aber vor längerer Zeit nach Kyiv umgezogen um Kinematographie zu studieren. Ihr zukünftiger Mann war aber in Mariupol bis 2014, als sich die Russen entschieden hatten, diese Stadt zu «befreien». Aber viele Freunde und Bekannte von Maryna sind immer noch dort. Doch nun hat sie den Kontakt verloren. Sie leidet mit ihnen und Mariupol gemeinsam.

«Du musst verstehen, dass in Mariupol nun eine andere Realität herrscht, die du dir gar nicht vorstellen kannst. Du hast sicher die Bilder mit den zerstörten Häusern gesehen. So sieht die ganze Stadt aus, nicht nur kleinere Stadtviertel. Es gibt keine Verbindung, keine Elektrizität, kein Wasser, kein Essen. Die Leute können nicht einmal ihre Verwandten kontaktieren, die im nächsten Häuserblock wohnen. Man weiss nicht mehr, wer überhaupt noch lebt. Bis jetzt konnte man bloss von zwei Journalisten  Informationen aus der Stadt bekommen, die dort geblieben sind. In einem Spital konnten sie ihre Geräte aufladen, um das Geschehene weiterzugeben.» 

«Und dieses Theater, in dem sich viele Menschen verstecken mussten und das so grausam zerstört wurde, hat für mich so viel bedeutet. Ich habe dort, ohne zu übertreiben, die beste Zeit meines Schulleben verbracht.

Maryna, Freundin von Eugenia Senik

Genau gestern habe ich erfahren, dass diese Journalisten evakuieren mussten, weil es für sie viel zu gefährlich wurde. Neben den Bomben und Gefechten hätten auch noch Russische Soldaten nach ihnen gefahndet, weil es ihnen gelungen sei, die immense humanitäre Katastrophe in Mariupol durch die Russische Armee zu zeigen. Unter anderem haben sie die schrecklichen Szenen der zerstörten Geburtsklinik dokumentieren können, welche die Welt entsetzt hat und von der Russen behaupten, es sei alles nur gefälscht und gespielt.

«Und dieses Theater, in dem sich viele Menschen verstecken mussten und das so grausam zerstört wurde, hat für mich so viel bedeutet. Es war nicht nur ein Ort, wo ich als Jugendliche ein paar Theaterstücke angeschaut habe. Ich habe dort, ohne zu übertreiben, die beste Zeit meines Schulleben verbracht. In diesem Theater habe ich Schauspiel und die darstellenden Künste zum ersten Mal gelernt. Noch vor Kurzem haben hunderte Menschen und Kinder dort Schutz und Unterkunft gefunden. Das Theater mit den Menschen drin einfach in Schutt und Asche legen… Ich kann es nicht mal in Worte fassen.»

Eugenias Tagebuch als Podcast

Eugenias Tagebuch als Podcast

Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin, Eugenia Senik, ihre Gedanken bei Bajour aufgeschrieben. Ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen kannst du nun auch als Podcast hören. Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.

Hören

Ein Teil von Maryna ist seitdem auch zerstört. Sie fühlt sich unglaublich nutzlos in Kyiv. Sie versucht immer wieder, ihre Freunde in Mariupol zu erreichen. Aber es gelingt nur, wenn sie es schaffen, Mariupol während einer Evakuierung zu verlassen, die erst seit kurzem wieder möglich war. Obwohl wir alle schon wissen, dass sogar eine verabredete Evakuierung keine Garantien gibt, dass die Menschen in ihren Autos nicht einfach abgeschossen werden. 

«Mariupol ist eine ganz besondere Stadt. Ich finde, es ist eher ein Zufall, dass sie territorial zu Donbas und dem Donetsk Gebiet gehört. Ich würde Mariupol als Pryazovia bezeichnen und nicht als Teil von Donbas. Wir haben dort eine ganz andere Identität. Deswegen ist es den Russen in den Jahren 2014 und 2015 nicht gelungen, Mariupol zu erobern. Die Menschen dort denken ganz anders als in Donetsk, obwohl die Städte geographisch sehr nah sind.»  

«Ich will nicht irgendwohin gehen und die Menschen mit meiner Existenz belasten.»

Maryna, Freundin von Eugenia Senik

Maryna teilt noch viele Erinnerungen und Gedanken von Mariupol mit mir, aber auch ihre Schmerzen, dass man es immer noch nicht schafft, die Stadt vor der totalen Zerstörung zu retten. Dass diese Stadt so viel gelitten hat und jede vergangene Stunde weiterleiden muss. Dass man diesen Wahnsinn nicht sofort stoppen kann. Sie versucht in Kyiv, zu ihrer Arbeit zurück zu kehren. Wobei ihre Aufgaben jetzt anders sind als vor dem Krieg. Sie muss schnell viel Neues lernen, um die Pflichten der anderen Mitarbeiter zu erledigen, die fliehen mussten.

«Die Ukraine werde ich nicht verlassen. Das ist definitiv. Und dann ist noch die Frage, wo es jetzt in unserem Land nicht gefährlich ist. Die Wahrheit ist, dass sogar in der Westukraine eine Rakete in dein Haus fliegen kann. Es macht also keinen Sinn, wegzurennen. Und hier bin ich zu Hause, ich fühle mich viel wohler und ruhiger. Ich will nicht irgendwohin gehen und die Menschen mit meiner Existenz belasten. Ich bleibe also zu Hause und hoffe einfach, dass dieser Krieg bald zu Ende geht und dass wir ihn hier überstehen. Und bis jetzt mache ich einfach meine Arbeit, damit das Leben in der Ukraine weiterläuft. Damit unsere Firma nicht Konkurs geht und damit ich, sowie die anderen Mitarbeiter, nicht unsere Arbeitsplätze verlieren. Ich gehe auch hier ins Café, wenn es mehr oder weniger ruhig ist. Ich brauche einen guten Kaffee für meine Seele und dabei weiss ich, dass ich auch das Kaffeehaus unterstütze oder andere kleine Läden. Diese Gedanken helfen mir. Dass auch ich meinen kleinen Beitrag leiste.»       

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