«Die Welt verstehen, wie sie heute ist»
An der Uni Basel diskutierten vier Wissenschafter*innen über postkoloniale Theorien und die aktuellen Debatten. Seitens der Uni sollte die Situation im Nahen Osten explizit nicht im Vordergrund stehen – aber nicht alle Beteiligten hielten sich an diese einschränkende Vorgabe.
Die Aula war bis auf den letzten Platz besetzt, vor allem Studierende fanden am Montag den Weg zur Podiumsdiskussion zum Thema «Postkoloniale Theorien – Forschung, Debatten, Herausforderungen». Der Anlass wurde von der Fachgruppe Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Departement Geschichte der Universität Basel organisiert. Das Bedürfnis nach Austausch war gross: Vor allem in Bezug auf die Urban Studies hat das Thema in der jüngeren Vergangenheit immer wieder zu reden gegeben.
Auch Security war an dem Abend anwesend, denn die Situation ist aufgrund des Kriegs in Gaza auch in der Schweiz angespannt. Um es vorweg zu nehmen: Der Abend verlief ruhig und gemässigt, auch wenn sich die vier Wissenschaftler*innen auf dem Podium nicht immer einig waren. Geladen waren Falestin Naïli von den Nahoststudien der Uni Basel, Erik Petry vom Zentrum für Jüdische Studien der Uni Basel, Henri-Michel Yéré, Soziologe der African Studies der Uni Basel und Kijan Espahangizi vom Historischen Seminar der Uni Zürich; er ist zudem Mitbegründer des Instituts Neue Schweiz.
Gleich zu Beginn des Gesprächs gab es einen Dämpfer, als der Autor Christoph Keller, der das Podium moderierte, darauf hinwies, dass kein Fokus auf den Konflikt im Nahen Osten gelegt werden solle: «Aber wir denken diesen Konflikt mit», hiess es. Kurz war im Publikum eine Unzufriedenheit über diese Vorgabe zu vernehmen. Im Verlauf des zweistündigen Gesprächs wurde dann auch deutlich, dass sich dieses aktuelle Thema nicht auf Knopfdruck ausklammern lässt.
Kolonialisierung als Teil unserer Geschichte
Ebenso deutlich wurde an diesem Abend, dass der Zugang zum Postkolonialismus für alle Podiumsgäste ein anderer ist. Bereits in der Vorstellungsrunde zeigte sich: Ohne die Kolonialisierung wäre unsere Welt nicht die, in der wir heute leben. So sagte Kijan Espahangizi: «Mich gibt es nur aufgrund der Kolonialisierung», und spielt damit auf seine deutsch-iranische Familiengeschichte an. Auch Henri-Michel Yéré erzählte, dass seine Muttersprache Französisch sei – auch eine Folge des Kolonialismus. Woraufhin Erik Petry den Bogen schloss und auf die Jüd*innen in aller Welt verwies, deren verbindendes Element ihre Sprache, Hebräisch, sei. Falestin Naïli sagte: «Es ist wichtig, sich nicht nur mit der Vergangenheit zu beschäftigen.» Denn: «Die Menschen leben für die Zukunft.»
Die Runde war sich zudem einig, dass Postkolonialismus ein wichtiger wissenschaftlicher Ansatz sei, die Geschichte zu erklären. Gerade die europäische Geschichte müsse mit einem globalen Ansatz betrachtet werden, um die Entwicklung der Ideengeschichte und des politischen Handelns zu verstehen, so Espahangizi. Denn, wie Yéré auch betonte: «Im Hintergrund steht immer die Idee der Verantwortung.» Kolonialisierung sei Teil unserer Geschichte. Wir trügen sie in uns selbst. Aber «wie begegnen wir dieser Herausforderung?» Konkret gemeint war damit die Verantwortung des «Westens» für beispielsweise die heutige Situation in Afrika.
«The West and the rest»
Wofür steht aber «der Westen» heute? Auf dem Podium fiel der Ausdruck «The West and the rest» und es wurde engagiert über ein heute oft in den Köpfen vorhandenes schwarz-weiss-Denken und Stereotypen aus vergangenen Zeiten debattiert. Espahangizi sagt: «Die Postkoloniale Theorie befindet sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist Teil einer Welt, die anders aussieht als in den 1970er Jahren. Manche postkolonialen Staaten wie Indien sind heute Weltmächte». Es gehe eine Angst vor Machtverlust in Europa um. Und Yéré betonte im Hinblick auf die Postkolonialen Theorien: «Es geht darum, die Welt zu verstehen, wie sie heute ist.»
Er gibt zu Bedenken, dass die Postkoloniale Theorie heute ein Begriff ist, der aktuell gegen sich selbst verwendet werde. Yéré sagt: «Wir befinden uns in einem Kulturkrieg», und verweist auf das Wort «Wokeism». «Dieser Begriff wurde von Menschen erfunden, die es als etwas Gefährliches betrachten». Ideologischen Auseinandersetzungen wie diesen zu entfliehen, sei aber nicht die Lösung: «Wir müssen die unsere Theorien erklären, auch wenn das in der heutigen Social-Media-Welt recht kompliziert ist.» Erik Petry sagte, es sei eine wichtige Aufgabe der Wissenschaftler*innen und Dozierenden, auch die blinden Flecken der Geschichte zu sehen, anzuerkennen und Debatten zu führen. Und Naïli machte klar, dass «der Westen» mit der Frage konfrontiert sei, ob er allen Menschen weltweit die gleichen Rechte gewähren und wahrhaftig für ein Recht auf Leben einstehen wolle. Für diese Bemerkung erntete sie grossen Applaus.
Nicht ganz so einstimmig wurden die Aussagen von Petry über die Situation im Nahen Osten gewertet. Denn natürlich kam die Diskussion im Laufe des Abends doch auf Israel und Palästina. Petry verwies mehrmals darauf, dass Israel kein Kolonialstaat sei. Denn: «Es gibt kein Recht auf Land, aber beide Gruppen erheben Anspruch darauf.» Die Konfliktsituation müsse anders betrachtet werden, um sie zu lösen. Seinen Aussagen stiessen unter den Anwesenden teilweise auf Unverständnis. Und auch Naïli wies auf die aktuelle Situation der Besatzung in der Westbank hin. Sie betonte erneut, man müsse sich in andere Realitäten versetzen. Dem stimmte Petry zu, betonte aber, dass man es sich zu einfach mache, wenn man Israel als Kolonialmacht bezeichne.
Die Welt differenziert betrachten
Das Thema Nahost bewegte die Gemüter im Saal, das war nicht nur während der Fragerunde, sondern auch im Anschluss beim Apéro herauszuhören. Eine Studentin machte darauf aufmerksam, dass die meisten der Anwesenden wahrscheinlich extra gekommen seien, weil sie genau dieses Thema gerade umtreibe. Yéré sagt, es sei schwierig, über den Nahen Osten zu sprechen, weil es aktuell keine Lösung gäbe. Er anerkannte aber, dass es gerade jetzt wichtig sei, miteinander zu sprechen – auch, wenn man nicht einer Meinung sei.