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Der grosse Schaugasmus

Bajour war auf der Extasia und hat einige Stunden lang backstage mit Pornodarsteller*innen abgehangen. Auch an den Porny Days in Zürich ging es um Sex, aber anders. Zwei Events, ein Thema und zum Schluss kam es zum Super-GAU. Eine Reportage mit Blick in den Spiegel.

12/03/19, 05:37 PM

Aktualisiert 09/08/20, 04:03 PM

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Im Moment höchster Schaulust werden unsere Gesichter zu Fratzen.

Zürich im November, es regnet und kalt ist es auch. Wir haben uns zu zwölft an einer Bushaltestelle an der Langstrasse getroffen, wie es uns die Veranstalter dieser «Sexpionage» gesagt haben. Wir haben Feldstecher dabei, oder Fernrohre und wissen noch nicht wozu. Wir betreten ein Haus, dann einen Lift, fünfter Stock, dann gehen wir einen dunklen Gang entlang und stehen endlich in einem Zimmer. Zu zwölft stehen wir da an der Fensterfront. Reden ist nicht erlaubt. Wir fummeln die Abdeckkappen von den Linsen unserer Schaugeräte oder fahren die Guckrohre aus und richten dann im Kollektiv unsere Augen durch all das Gerät auf ein hell erleuchtetes Fenster im 25hours Hotel schräg gegenüber.

Ich sehe mindestens drei Frauen und vier Männer. Ich kann mich täuschen, das Fernrohr zittert in meiner Hand. Da ist ein Bett. Da packen sie einen in Frischhaltefolie. Und da, schwarze Spitze. Ein Penis unter einem Rock. Metall in Nippeln. Ich erinnere mich an Tattoos und eine Peitsche.

Es ist mucksmäuschenstill in unserem Raum, aber man kann uns atmen hören. Man hört das fahle Reiben, wenn wir an den Geräten herumschrauben auf der Suche nach mehr Schärfe im Bild. Mein Fernrohr ist ein Scheissding, ich seh nur verschwommene Schemen. Feldstecher werden herumgereicht. Probiers mal damit. Man hilft sich unter Voyeur*innen. Und jede*r darf mal an das gute Fernrohr am Fenster, das mit dem Stativ und der optimalen Voreinstellung. Schön der Reihe nach. So hat immer einer von uns tolle Sicht während die anderen eben schrauben und drehen und die Augen zusammenkneifen und die Mundwinkel verziehen als müssten wir unsere Gesichtszüge auspressen, damit wir an die Essenz dieser Sexpionage gelangen, den klaren, geilen Blick auf den Gruppenfick dort drüben.

Sie wissen, dass wir da sind und ihnen zuschauen. Wir wissen, dass sie das wissen. Das hier ist ein abgekartetes Spiel.

Jeder darf mal an das gute Fernrohr am Fenster ran. An der Wand hängt ein Post-it mit dem Erlebnisbericht einer Besucherin.

Jeder darf mal an das gute Fernrohr am Fenster ran. An der Wand hängt ein Post-it mit dem Erlebnisbericht einer Besucherin.

Am letzten Novemberwochenende 2019 gingen in Basel und Zürich zwei aussergewöhnliche Events über die Bühne. Die Extasia in Basel, die Porny Days in Zürich. Nichts wäre falscher, als diese beiden Veranstaltungen über einen Kamm zu scheren. Ich bin hingefahren, an beide, und es war wie ein Ausflug in zwei verschiedene Galaxien.

In Zürich hab ich mit ein paar Coolkids anderen Coolkids beim Sex zugeschaut und mich danach über weibliche Selbstermächtigung im Femporn unterhalten. In Basel habe ich fünf Stunden lang backstage mit deutschen Pornodarsteller*innen abgehangen. Darüber wird hier berichtet.

Dieser Text enthält obszönes, sexistisches Vokabular, wie die Welt, die er beschreibt, teilweise obszön und sexistisch ist. Natürlich ist dieser Text in der Ich-Perspektive geschrieben, alles andere ist feige. Dieser Text ist trotzdem nicht mutig. Dieser Text ist ein dreckiges Stück Klassismus wie alle «Milieustudien», in denen gut situierte Reporter*innen in eine «faszinierende Welt eintauchen», was übersetzt in der Regel soviel heisst wie den Leser*innen eine Freakshow zum Frass vorzuwerfen. Ich bin einer von vielen. Vor mir sind schon Legionen von Feuilletonboys auf ihrem eigenen Sabber durch Sexmessen gesurft um danach mit schönen Worten über «traurige Tiere» oder «erotische Einöden» zu schreiben und Fotos zu zeigen von alten Männern mit schwitzigen Glatzen und Plastiktüten in der Hand.

Dieser Text versucht, den Blick auch auf sich selber zu richten. Also auf mich und auf die, die da mit mir auf nackte Leiber starren.

Voyeurismus, der. Ist eine Form der Sexualität, bei der ein Voyeur (umgangssprachlich auch Spanner genannt) durch das Betrachten von seiner Präferenz entsprechenden, sich entkleidenden oder nackten Menschen oder durch das Beobachten sexueller Handlungen sexuell erregt wird (Wikipedia).

Von Zürich am Freitagabend nach Basel. Samstagnachmittag auf der Extasia. Es riecht nach Hallenstaub und süssem Deodorant. Auf der Hauptbühne gibts Techno und Strobo. Die Frauen werfen die Beine in die Luft und die Männer filmen. Die Moderatorin sucht «Ladies» aus dem Publikum für einen wet T-Shirt Contest und findet erstmal keine. Der Burger schmeckt beschissen. Ich denke mir schon nach 15 Minuten, was jetzt.

Sie haben dieses Bild schon tausendmal gesehen und das macht es jetzt auch nicht besser.

Sie haben dieses Bild schon tausendmal gesehen und das macht es jetzt auch nicht besser. (Foto: Daniel Faulhaber)

Ich würd ganz gern hinter die Bühne. Ich will wissen, wie diese Darstellerinnen sich auf die Shows vorbereiten. Ich will wissen, was sie als Erstes tun, nachdem sie abgetreten sind. Über was sie reden, hinter den Kulissen. Was geht dort ab? Ich ruf Arnold an, den Medienverantwortlichen.

Arnold war mir bis zu dem Zeitpunkt keine grosse Hilfe. Auf alle ziemlich vorhersehbaren Medienfragen (wie lange gibts die Extasia bereits, woher kommen die Aussteller*innen etc.) wusste Arnold nur ungefähre Antworten, aber jetzt, jetzt kann Arnold helfen. Ich gehe hinter ihm eine schmale Treppe hinauf. Er klopft an einer Garderobe, steckt den Kopf rein und sagt, da sei einer von der Presse, der wolle hier reinkommen, ob das gehe. Eine Männerstimme antwortet von drinnen, das gehe auf gar keinen Fall und ob Arnold eigentlich bescheuert sei.

«Das hier ist der einzige Ort, an dem meine Leute ihre Ruhe haben», sagt Björn, der Booker, dem die Stimme gehört. «Das Letzte was ich hier brauche ist einer, der fotografiert.»

Ich sag: «Ich hab keine Kamera dabei» und wedle ein bisschen dämlich mit meinem Notizblock herum.

Björn, der Booker: «Ah, wenn das so ist, na dann kein Problem, komm rein.»

Hinter der Bühne: Die Darsteller*innen

Die Extasia und die Porny Days haben natürlich auch etwas gemeinsam: Bei beiden Veranstaltungen geht es irgendwie um Sex und Fragen der Darstellung von Körpern und Sexualität. Die Extasia gibts seit «ungefähr 2003» (O-Ton Meyer), das Filmfestival Porny Days findet 2019 zum siebten Mal statt. Es zählt sich mit ähnlichen Festivals wie etwa den Luststreifen in Basel zur Avantgarde einer selbstbewussten Erotik-Kultur. Die ist vornehmlich akademisch geprägt, kritisch, verspielt und ein bisschen selbstverliebt.

Die Extasia dagegen kann man als letzte Zuckung einer untergehenden Porno-Industrie beschreiben, der das Internet längst den Stecker gezogen hat. Man kann dies und das kaufen und auch DVDs. Damit ist über den Zeitgeist dieser Messe alles gesagt.

Ich bin jetzt erstmal im Backstage-Bereich. Es ist ein enger Raum, überall quellen Klamotten aus aufgeklappten Koffern am Boden. Auf dem einzigen Tisch stehen Plastikbecher, Eistee, Cola, Sekt, Jägermeister und Wasser. Auf dem Fensterbrett liegen Center Shocks, diese extrem sauren Kaugummis, und Lollipops. Es wird geraucht. Es hat sechs Stühle, vier sind besetzt und auf einem sitze jetzt ich. Da sind:

Vivian Schmitt. Die Erfahrene. Schmitt wird mir als «letzte Grande Dame» des Pornos vorgestellt, sie hat lange Wimpern und raucht. Dem Dialekt nach kommt sie aus Berlin. sie redet obszön as fuck und macht viele Spässe. «Ich kenne niemanden in der Branche, der so lustig ist», sagt

Björn. Der Booker. Björn hält hier hinten den Laden zusammen. Wenn er sagt, «Leute, jetzt mal im Ernst, hört auf unter dem Feueralarm zu rauchen», dann kuschen alle und machen das Fenster auf. Björn ist es gewohnt, dass man ihn beim Reden nicht unterbricht. Er war selber Producer und Performer und hat Filme gedreht mit Titeln wie «Dreckig angemacht und aufgespiesst». Björn redet mit Respekt über Profis wie

Lullu Gun und Jason Steel. Das live-Sex-Pärchen. Lullu und Jason, die anders heissen aber wen interessiert das schon, sind verheiratet. Lullu ist besonders, weil sie hat nichts an sich machen lassen und das können hier nicht viele von sich behaupten, sagt sie. Sie hat schwarze glatte Haare und ein Zungenpircing. Jason ist ein hübscher, grosser Typ mit wasserblaue Augen. Er trägt zum Sex einen Hut und motzt, wenn er vor der Show seinen grossen komplettrasierten Pimmel in die viel zu enge durchsichtige Unterhose wursteln muss. Lullu und Jason sind Freund von

Lena Nitro. Dem Star der Truppe. Lena hat wie Lullu nichts an sich machen lassen und auf ihrer Homepage steht, sie sei die aktuell erfolgreichste deutsche Pornodarstellerin. Sie ist gerade mal 157 Zentimeter gross aber kann eine zwei Meter lange Perlenkette in sich hineinstecken. Lena ist die gute Seele in der Garderobe, sie holt Sekt wenn Vivienne Sekt will und fragt Jason, ob der wirklich denke, ein Joint 20 Minuten vor der Show sei eine gute Idee. Lena wird Lullu und Jason später an diesem Tag noch den Arsch retten, wenn in deren Live-Show der Busch brennt. Aber das weiss jetzt noch niemand, also haben alle gute Laune.

Lullu Gun und Jason Steel zwischen zwei Auftritten.

Lullu Gun und Jason Steel zwischen zwei Auftritten. (Foto: Daniel Faulhaber)

Moral und Katholizismus

Nachdem Björn klargestellt hat, dass ich ab sofort in dieser Garderobe sein dürfe, denn ich sei Journalist und zwar «keiner von einem dieser Rotzmagazine, sondern einer, der will des hier mal aufschreiben, wie des wirklich ist» – nachdem Björn das also netterweise über mich gesagt hat, ohne dass ich je erwähnt hätte, für wen ich arbeite, bin ich voll akzeptiert und kann hier während der folgenden Stunden rein und raus wie’s mir passt. Nur wenn Lena oder einer der anderen Frauen sich diese Perlenkette einführen, dann muss ich raus. «Ich schieb mir des Ding nicht in die Fotze solange diese Journalisten-Schwuchtel hier rumhängt», heisst es dann. Ich geh dann also jeweils kurz raus und Lena holt mich dann wieder rein.

Ich will alles wissen. Wer wieviel verdient, wieviel hier gekokst wird, wie das so ist, auf der Bühne vor all den Kameras, ob die Frauen denken, sie seien nur Lustobjekte, und was die Männer von Gleichberechtigung halten.

Ich mach mich mit diesen Fragen natürlich komplett zum Affen, aber weil Björn gesagt hat, ich sei keiner von einem dieser «Rotzmagazine», sind alle sehr geduldig mit mir und Lena gibt mir sogar ein Center Shock weil sauer macht lustig, sagt sie. Offenbar bin ich Deutschlands erfolgreichster Pornodarstellerin nicht lustig genug.

Give it to me Bajour.

Dann erzählen alle ein bisschen durcheinander und um es kurz zu machen: Nein, die Frauen halten sich nicht für Objekte und auch nicht für Opfer, die Opfer sind wenn schon die Männer weil «die müssen den Schwanz hochhalten und verdienen dabei einen Scheiss» (O-Ton Lullu). Gekokst wird nicht, aber gesoffen und das nicht zu knapp. Lullu und Jason performen während der Extasia elf Mal, drei Mal Freitag und Sonntag, viermal am Samstag. Pro Show kriegt Jason 320 Euro, die Gage von Lullu weiss ich nicht. Jason sagt, von den insgesamt 3'520 Euro gingen eine ganze Menge sofort wieder für irgendwelche Auslagen flöten und dass vom Porno alleine in Deutschland eigentlich niemand mehr leben könne, punkt.

Jason hat mal bei einer Bank gearbeitet und dort besser verdient. Aber er würde das heute nicht mehr tun und zwar, achtung, aus moralischen Gründen

Er sagt: «Es war schon immer so, dass man finanziell gut dasteht, wenn man Scheisse baut.»

Da steckt einer bis zum Hals im Prekariat aber moralisch lässt Jason nichts anbrennen. Ehrenmann. Für die Moral haben sie hier übrigens ein Synonym. Es lautet: Katholisch. Das mag ein bisschen altmodisch erscheinen, aber immer dann, wenn die Porn-Stars über den Feind reden, also über alle, die Pornografie verhindern wollen, dann sind das plötzlich Katholiken. Instagram zum Beispiel ist ein katholisches Netzwerke, weil es Werbung von Porno-Darsteller*innen unterbindet und Nippel zensiert. Google ist nicht katholisch. Die Staatsanwaltschaft ist sehr katholisch. Undsoweiter. Björn sagt: «Die Pornoindustrie hat das Internet erst gross gemacht und heute will man uns zensieren. Diese katholische Moral geht mir auf den Sack.»

Geld ist in der Garderobe ein grosses Thema. Wer hat wieviel verdient hat am DVD-Stand, das wird hier oben in Echtzeit abgeglichen. Vivian Schmitt casht ordentlich ein. Mit einer Handvoll Schweizer Banknoten wedelt sie dann vor dem Schritt herum und ruft, «allemann Maul halten, ich muss Geld zählen Brra Brra Brra». Die Frau ist 41 Jahre alt. Manchmal verkauft sie getragene billig-Stiefel von Deichmann an «so’n komischen Typen», der gibt ihr dann 200 Euro dafür. «Wat willste sagen, Alter.» Wenn jemand die Türe aufmacht ruft die Grande Dame «MACH DIE TÜR ZU ES ZIEHT.» Lena sagt: «Entspann dich, iss doch mal was Süsses», aber Vivian Schmitt, die lustigste Frau in der Branche, hat auf Center Shocks keine Lust. «Man sieht's mir nicht an, weil ich fett bin, aber ich ess nix Süsses.»

So geht das in einem fort. Die Darsteller*innen frotzeln und klagen und lästern über andere Pornostars oder erzählen sich krasse Anekdoten von ihren Drehs. Ich hätte gedacht, dass die in der Branche keinen Bock haben auf Sextalk, wenn das Scheinwerferlicht aus ist. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Es geht die ganze Zeit um Sex und um den wirklich gigantischen Schwanz eines Ungarn, dessen Namen ich mir nicht aufgeschrieben habe. Jetzt werden Fotos herumgezeigt, damit alle, die noch nie mit dem Ungarn gedreht haben, Bescheid wissen. Dann werden Jason und Lullu zur live-Show geholt. Ich geh mit.

Zürich: «Does a vagina look like a flower?»

Das erste Kurzfilmprogramm im Zürcher Kino Riffraff, die Porny Shorts 1, Freitagabend, 18:30 Uhr, ist ausverkauft. Über den Screen flackern künstlich animierte Blumen, Lilien oder so, die wie Geschlechtsteile aussehen. Eine Frauenstimme sagt aus dem Off: «Does a vagina look like a flower?»

Auch wenn wir Zuschauer*innen im Dunkeln sitzen, hat das gemeinsame Schauen auf diese Leinwand auch für uns etwas Exhibitionistisches. Wir sind hier, zusammen, um Pornos zu schauen. Wir tragen dabei keine Ironiemarker wie die besoffenen Homies, die mit Santigglausmützen durch die Extasia torkeln um zu zeigen, dass sie «nur so zum Spass» da sind und «alles nicht so gemeint» sei. Nein, wir haben uns schön angezogen, wir haben gepflegte Bärte und tragen dezentes Make-Up. Wir sind nicht ironisch hier.

Wobei das nicht heisst, dass es nicht lustig zu und her ginge in diesem Kinosaal. Es wird viel gelacht, weil es zum Einen manchmal natürlich sehr lustig ist. Aber das Lachen ist auch eine Entkrampfungsstrategie, eine Art Crinch-Ableiter. Man kann auch reden, aber bitte nicht zu leise weil das Schlimmste ist, wenn alle mucksmäuschenstill sind und auf der Grossleindwand wird hart gevögelt. Erst dann kriegt das Ganze eine wirklich öbszöne Note. Aber mit dem Lachen gehts irgendwie, dann ist es cool und aufgeklärt und ziemlich progressiv, hier zu sein. Die wirklich Abgeklärten erkennt man wiederum daran, dass sie nicht lachen. Sie sagen manchmal «shhht» und dann ist es kurz still.

Neben mir sitzt Luke, blond, 30 Jahre alt, Webentwickler. Wir rauchen nach dem Film Zigaretten und er sagt, er sei pornosüchtig und dass er sich angewöhnt habe, offen über solche Dinge zu reden. Man müsse dringend mehr reden, über all das, was man mag und nicht mag. Sex sei gesellschaftlich betrachtet immer noch «the elefant in the room». Die einen kichern beim Gedanken daran, die anderen machen sexistische Scheisswitze und nichts verändert sich, sagt Luke. Die Porny Days helfen ihm dabei, seine sexuelle Identität und das, was er mag, in Worte zu fassen.

An den Porny Days ist nichts eindimensional, es geht immer um Aushandeln, Beziehungen, Konsens und ich-aussen-Wechselspiele. Jeder voyeuristische Blick wirft mich auf mich selber zurück. In der Spionagekammer mit den Fernrohren zum Beispiel sind die Beobachter*innen längst Teil der Performance geworden. Es liegen Notizbücher herum und an der Wand hängen Post-its, auf denen die Besucher*innen beschreiben, was das hier mit ihnen macht. Jemand schreibt: «Ich fühle mich schuldig, aber kann die Augen nicht abwenden. Warum? Thanks for this experience ❤️.»

Spionage-Equipment in Zürich. Wenn eine Vagina aussieht wie eine Blume, sieht dann eine Kamera mit Teleobjektiv aus wie ein Penis?

Spionage-Equipment in Zürich. Wenn eine Vagina aussieht wie eine Blume, sieht dann eine Kamera mit Teleobjektiv aus wie ein Penis? (Foto: Daniel Faulhaber)

Essen und Fotografieren und Dicks sind an den Live-Shows der Extasia verboten.

Essen und Fotografieren und Dicks sind an den Live-Shows der Extasia verboten. (Foto: Daniel Faulhaber)

An der Extasia ist die Beziehung zwischen sehen und gesehen werden eine Andere, das kann man am folgenden Live-Auftritt von Jason Steel und Lullu Gun sehr präzise beschreiben.

Der Sex findet in einem abgetrennten Bereich statt, filmen ist hier verboten, der Eintritt kostet 20 Franken extra zum 40-Franken-Tagespass dazu. Es ist ein kahler Raum, in der Mitte steht eine runde Bühne aus weisser Leder-Optik. Das Ganze ist szenografisch so arrangiert, dass alle Fluchtlinien auf diese Mitte zulaufen. Jason nennt diese Bühne die «Fickinsel».

Beim Eingang werden 3D-Brillen verteilt. Wozu das, denke ich, ist doch live.

Die Show beginnt, Jason und Lullu kommen rein, er hat wieder diesen dummen Hut auf dem Kopf und der Arsch passt einfach nicht ganz in diese viel zu enge Unterhose. Und ich begreife jetzt rasch, wozu die 3D Brille da ist. Jason und Lullu werden beim Sex gefilmt, live, on Stage. Der Stream wird zeitgleich auf zwei Bildschirmen neben der Bühne direkt übertragen und zwar eben in 3D. Das ist wahnsinnig seltsam. Der Effekt ist, dass hier 60, 70 Leute sitzen und Jason und Lullu beim Sex zuschauen und zwar zu gleichen Teilen live 1, also in persona, wie live 2, also im künstlich reproduzierten Sinn. Die Realität und das Abbild verschmelzen synchron zu einer, wie soll man das nennen, einer technisch angereicherten Fantasie-Realität.

Wir, die Zuschauer*innen, treten dagegen komplett in den Hintergrund. Durch die schwarzen fettigen Brillen auf unseren Nasen sehen wir alle irgendwie gleich aus, wodurch eine Illusion von Anonymität entsteht. Die Männer und Frauen um mich herum starren apathisch, manche haben die Münder offen, auch hier entgleist uns die Mimik im Augenblick erregter oder geschockter, auf jeden Fall voyeuristischer Betrachtung.

Wieder: Im Moment höchster Schaulust werden unsere Gesichter zu Fratzen.

Nur dass im Unterschied zu den Porny Days hier keine Selbstspiegelung stattfindet, im Gegenteil. Alles ist darauf angelegt, sich selbst zu vergessen, um hemmungslos gaffen zu können. Die Musik betäubt uns die Ohren, die Brille betrügt uns um Klarsicht und der Bildschirm suggeriert einen doppelten Boden, wo keiner ist. Aber ohne diesen doppelten Boden kommt die konventionelle Porno-Branche nicht aus, sie ist darauf gebaut.

Diese schlaffe unkritische Geilheit im Publikum ist der Nährboden, auf dem diese Branche steht. Darum darf es nicht «einfach live» als «real» sein, darum hängen hier überall Bildschirme, darum wird jede Sequenz dieser Messe-Realität technisch überdreht, überspitzt und verfälscht, vielleicht sind auch darum alle möglichen Gliedmassen bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, damit unser Restposten funktionierendes Gehirn etwas zum Festhalten hat und beruhigend auf uns einwirkt, als wolle es uns sagen: Das kann ja alles nicht wahr sein.

Die Realität wird hier so inszeniert, als könne man sie wegklicken, wenns so weit ist.

Pornographie, die, wird in einem Entscheid des Bundesgerichts wie folgt definiert: «Der Begriff der Pornographie setzt einerseits voraus, dass die Darstellungen oder Darbietungen objektiv betrachtet darauf ausgelegt sind, den Konsumenten sexuell aufzureizen. Zum anderen ist erforderlich, dass die Sexualität so stark aus ihren menschlichen und emotionalen Bezügen herausgetrennt wird, dass die jeweilige Person als ein blosses Sexualobjekt erscheint, über das nach Belieben verfügt werden kann. Das sexuelle Verhalten wird dadurch vergröbert und aufdringlich in den Vordergrund gerückt.»

Rechts im Bild: Die «letzte Grande Dame des deutschen Pornos», Vivian Schmitt, bei einem Interview auf der Hauptbühne. Dahinter ihr digitaler Schatten. An der Extasia wird alles immer und sofort künstlich verdoppelt.

Rechts im Bild: Die «letzte Grande Dame des deutschen Pornos», Vivian Schmitt, bei einem Interview auf der Hauptbühne. Dahinter ihr digitaler Schatten. An der Extasia wird alles immer und sofort künstlich verdoppelt. (Foto: Daniel Faulhaber)

Ich bin ziemlich erschöpft vom vielen Starren und die Darsteller*innen sind offenbar ebenfalls schlapp vom andauernden Auf- und Abtreten. Ausserdem sind einige langsam besoffen. Manche reden laut und haben rote Gesichter. Lena Nitro hat Rückenweh und Muskelkater und muss sich alle Nase lang von irgendwem den Rücken knacken lassen. Auch Vivian Schmitt klagt über Rückenschmerzen und als Jason fragt, warum denn, ob’s «wegen der Titten» sei, sagt Schmitt nein, das habe mit der ungesunden Haltung vor der Webcam zu tun.

Andere haben Scheuerwunden an den Knien oder an der Hüfte und in einem sind sich alle einig: Sobald man in einem Raum das Wort «Videodreh» in den Mund nimmt, wachsen allen anwesenden Pornodarsteller*innen Pickel am Arsch. Immer. Überall. Das sei dann ganz schlecht fürs Close-Up, aber das Schicksal sei «eben auch nur eine bitch», sagt Björn.

Immerhin könne man mit so einem Pickel hinten und vorne gleichzeitig abspritzen, erwidert Jason.

Und jetzt ruft sogar die hartgesottene Schmitt rüber, was für ein ekliger Typ er denn bitte sei, er solle jetzt besser das Maul halten.

Ich bin am Ende. Jason und Lullu machen sich gerade fertig für ihre vierte Show. Sie wird zum grössten anzunehmenden Unfall.

Lullu Gun und Jason Steel haben mir ausführlich erklärt, dass für sie diese live-Sache nur funktioniert, weil da diese Kamera ist, in die sie schauen können und vor allem, weil da Musik läuft. Das Publikum macht sie nicht nervös, solange die Musik spielt, das hat insbesondere Lullu Gun mehrfach betont. Und dann, in ihrer vierten Show Samstagabends um 22:30 Uhr, gibt es eine technische Störung und mitten während des Lieds «Come Together» von den Beatles (aber in Rockabilly-Version) bricht der Sound ab und die Bildschirme werden schwarz und irgendwie gehen auch ein paar Lichter an, auf jeden Fall wird durch diese technische Panne der gnädige Vorhang der Illusion von einer auf die andere Sekunde aufs Brutalste heruntergerissen. Jason, der schon zuvor geschwächt wirkte und sich zum Schluss der Show wie ein Wahnsinniger darum bemühen musste, nochmal etwas LEBENSELEXIR aus sich herauszuwedeln, sackt jetzt zusammen wie ein Windbeutel und auch bei Lullu ist der Ofen augenscheinlich aus.

Da kommt mitten in der unvorhersehbaren Panik dieses Coitus interruptus plötzlich Lena Nitro hinter dem Vorhang hervor und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, um das Publikum zum Klatschen zu animieren, ohne Scheiss jetzt, und ein paar Zuschauer*innen machen mit, aber leider auch nicht so viele, egal, the Show must go on. Also wedelt Jason wieder und Lullu macht auch irgendwas und Lena klatscht und sie tun mir so wahnsinnig leid da oben, weil irgendwer fummelt jetzt auch noch an der Soundanlage rum und spielt Hiphop, dabei waren Jason und Lullu doch mehr so im Come-Together-Modus. Auf jeden Fall ist das jetzt der komplette Abfuck, aber nun heisst es stark bleiben und Jason gibt echt alles, der alte Vollprofi, und kommt irgendwie doch noch, aber das Publikum ist da schon nicht mehr ganz bei der Sache.

Denn durch das angegangene Licht wurden auch wir, die Gaffer*innen, als Teil der Performance entblösst und als die Voyeur*innen entlarvt, die wir sind. Und alles Augenreiben und Brille abnehmen und Verlegenheitsgetue hilft nichts, denn für einen kurzen Moment haben auch an der Extasia ein paar Leute diese Gesichter, unsere Gesichter gesehen. Unsere Fratzen im Augenblick höchster Lustschau.

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