«Am meisten betrübt mich, dass niemand etwas gegen die Vergewaltigung tun konnte. Das macht mich wirklich sehr betroffen»

Wir haben mit Passant*innen, Anwohner*innen und Angestellten über die Vergewaltigung an der Elsässerstrasse gesprochen und gefragt: Wie unsicher ist das St. Johann? Und was löst dieser Akt sexualisierter Gewalt bei ihnen aus?

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Screenshot des Eingangs zur Elsässerstrasse vom Voltaplatz aus gesehen.

Eine Schilderung des mutmasslichen Tathergangs steht am Ende dieses Textes oder in unserer Reportage über die Spontankundgebung vom Sonntagabend.

Die Confiserie Brandl liegt etwas zurückversetzt, aber dennoch in unmittelbarer Nähe zum Voltaplatz. Die Haltestelle der Tram Nr. 14, aus der die Frau und die zwei Männer am Samstagmorgen ausstiegen, liegt eine Gehminute entfernt um die Ecke. Die Verkäuferin gibt gerne Auskunft, möchte aber lieber nicht fotografiert werden.

Was am Samstagmorgen passiert ist, hat mich natürlich erschreckt. Ich wohne seit 1983 im Quartier, mein Mann seit 1971. Unsicher fühlten wir uns nie. Wenn wir am Wochenende frühmorgens die Maschinen in der Backstube anschmeissen, übertönt der Geräuschpegel alles. Manchmal klopfen Betrunkene, die auf dem Heimweg vom Ausgang sind, an das Fenster der Backstube, dann verkaufen wir denen ein paar Gipfeli. Man kann nicht sagen, das Quartier sei so oder so, es verändert sich dauernd. Früher waren hier viele Spanier und Italiener, dann kamen viele aus den Ländern Ex-Jugoslawiens dazu. Seit dem Bau der Davidsbodensiedlung hat es wieder mehr Schweizer. Ich habe den Eindruck, die Gewalt auf der Strasse hat allgemein zugenommen, nicht nur im St. Johann.

Der Kiosk am Voltaplatz öffnet Samstags um 8:00 Uhr. Der Verkäufer, Schnauzer, graues Hemd, freundliche Augen, hat von der Vergewaltigung aus der Zeitung erfahren. 

Ich arbeite hier seit fünf Jahren. Bevor ich den Job angenommen habe dachte ich, oha Voltaplatz, da muss ich aufpassen. Seit ich hier arbeite, denke ich das nicht mehr. Am Wochenende hat es frühmorgens manchmal Betrunkene auf dem Platz, das ist normal. Aber Gewalt, nein, das habe ich nie erlebt. 

An der Haltestelle «Voltaplatz» der Tram-Linie 11 sitzt eine junge Frau und tippt auf dem Handy. Sie wartet auf ihr Tram. Ihren Schal hat sie tief ins Gesicht gezogen gegen die Kälte.  

Ich wohne seit vergangenen Samstag im St. Johann, verstehen Sie, seit Samstag! Als ich am Sonntag von diesem Vorfall an der Elsässerstrasse erfahren habe, bekam ich natürlich ein mulmiges Gefühl. Aber ich fühle mich nicht unsicher. Ich bin früher viel im St. Johann verkehrt, da war nie ein Problem. So etwas kann überall passieren und wer weiss, ob die sich womöglich gekannt haben. Es ist schlimm, natürlich. Ich gehe nicht oft in den Ausgang, aber wenn, dann nehme ich auch das Tram. Oder das Velo.

An der Ecke neben der Baubrache steht das Spielwarengeschäft Spiil Butyyg. Geschäftsführer Mario Ress wartet vor der Tür auf den «DHL-Glunggi» und die Neuware zur Fasnacht. 

Von der Presse sind sie? Also ich muss Ihnen jetzt einmal etwas sagen! Ich habe diesen Laden seit über zehn Jahren. Ich war lange Präsident des Quartiervereins und schon damals habe ich immer gesagt: Das St. Johann ist ein Scherbenviertel. Aber wenn die Sonne in die Scherben scheint, dann leuchtet das umso schöner! Jetzt passiert so etwas und dann kommen Sie von der Schwarzen Zunft, also die Presse, und walzen das aus bis zum St. Nimmerleinstag. Manchmal möchte ich Euch einen Gingg geben, habt ihr nichts Besseres zu tun? Hier schaut man zueinander, früher noch mehr. Heute hat es halt auch ein paar Gesellen, wie soll ich sagen, wir würden die Sozialgelder lieber unseren Alten geben als denen.

Und wann soll das passiert sein, frage ich, um 7 Uhr morgens? Ich sage: Un-mög-lich! Um diese Zeit hat es Leute auf der Strasse! An den Tramhaltestellen warten um diese Zeit schon Menschen. Das sowas passieren kann, das ist doch krank. Das muss so ein schwanzgesteuertes Arschloch sein. Ich sage aber auch, es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. Kürzlich habe ich gelesen, dass eine Gruppe Männer einen 14-Jährigen verprügelten, um ihm sein Handy wegzunehmen. In was für einer Welt leben wir eigentlich? 

Der Geschäftsführer des Quartierladens «Sagai Mark» hat nicht viel Zeit, ausserdem waren schon andere Journalist*innen da. Und die Polizei auch. Während der Mann seinen Laden aufmacht, gibt er doch ein bisschen Auskunft.

Ich habe zwei Kameras vor meinem Laden. Eine hier oben an der Ecke, die andere da vorne, hinter der Jalousie. Die Polizei war da und hat die Aufnahmen mitgenommen. Ich habe sie nicht gesehen. Ich habe auch am Samstagmorgen nichts gesehen. Diese Sache ist wirklich sehr schlimm. Probleme hatte ich hier nie. Ich glaube, die Leute wohnen gerne im St. Johann. 

In der Europa-Apotheke mit drive-thru-Fensterklappe arbeiten drei Frauen, sie tragen weisse Kittel, fallen sich beim Reden ins Wort und ergänzen die Aussagen der anderen. Sie sind sichtlich aufgebracht. 

Wir sind sehr erschrocken als wir von der Vergewaltigung gehört haben. Natürlich fragen wir uns, ist das einer Kundin von uns passiert? Die arme Frau! Das St. Johann ist ein buntes Quartier, das weiss man. Es hat seltsame Gestalten auf der Strasse und dann diese Autos, immer fahren hier schicke Autos die Strasse hoch und runter. Die gehören doch nicht hier her? Die Leute hier sind arm, oder auf jeden Fall sehen sie nicht so aus, als könnten sie sich solche Autos leisten. Einmal hat sich ein Polizist inkognito bei uns hinter den Regalen versteckt und die Strasse beobachtet. Es gibt hier immer wieder Polizeikontrollen an der Ecke.

Apothekerin 1: Ich fühle mich nicht unsicher, aber ich wohne auch nicht hier. Bei der Arbeit gab es nie Probleme. Am vergangenen Samstag habe ich um 7:45 Uhr die Apotheke aufgemacht, kurz davor war ich noch bei Coop einkaufen. Ich habe nichts gesehen. 

Apothekerin 2: Ich wohne im Gotthelf Quartier und komme mit dem Velo zur Arbeit. Ich fühle mich auch nicht unsicher, aber ich bin stark. Das mit dem Sicherheitsgefühl ist vielleicht auch eine Charakterfrage. Am Samstagmorgen ist im St. Johann sehr wenig los, die Leute schlafen lange. 

In der Metzgerei Pippo sind Giuseppe «Pippo» Sequenzia, seine Frau und eine jüngere Frau bei der Arbeit. Die Frauen drapieren die Auslage, die jüngere der beiden paniert Schnitzel. Während des Gesprächs schiessen ihr die Tränen in die Augen. 

Die Frau, diese Frau tut mir so unendlich Leid. Ich muss immerzu an sie denken. Am meisten macht mich traurig, dass niemand etwas dagegen tun konnte. Das macht mich wirklich sehr betroffen. Wir waren so nah, und haben nichts bemerkt, wir haben nichts tun können. Heute morgen haben wir darüber diskutiert, was macht man in so einer Situation? Ich wäre hingelaufen, ich hätte geschrieen, ich hätte auf die Männer eingeschlagen, ganz egal was. Ich habe eine kleine Tochter, bei so einer Geschichte schiessen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wenn ich daran denke, kriege ich Hühnerhaut. Diese Arschlöcher, einer soll die Frau festgehalten haben. Wie krank kann man sein? Wenn ich die Strasse entlanglaufe habe ich immer das Handy in der Hand, das gibt mit ein Gefühl von Sicherheit. Im St. Johann ist mir nie etwas passiert, ich wurde nie bedrängt. Einmal hat mir jemand eine Telefonnummer auf einem Zettel ans Auto geklebt, das ist alles. Den Zettel habe ich weggeworfen. Ich sage immer, im St Johann brauchst du keinen Fernseher, da draussen geht genug ab. 

Vor der UBS-Filiale warten zwei junge Frauen an der Ampel auf Grün. In der Hand haben sie angebissene Donuts aus der Kult Bäckerei. Morgenpause. Sie haben es eilig. 

Wir gehen ins St. Johann Schulhaus. In der Schule haben wir über die Vergewaltigung geredet. Der Lehrer hat uns einen Bericht aus der Zeitung ausgedruckt und auf den Tisch gelegt . Das macht uns schon Angst, ja. Das ist doch krank. Im St. Johann wurden wir noch nie dumm angequatscht oder so. Wir wohnen aber nicht hier, sondern im 4057. 

In der Kult Bäckerei arbeitet eine junge Frau im Verkauf. Sie nimmt sich zwischen zwei Kunden kurz Zeit.

Also ganz ehrlich: Ich hatte heute morgen brutal Schiss auf dem Weg zur Arbeit. Normalerweise bin ich um 6:30 auf dem Weg durchs Quartier hier her und dieser Vorfall war ja ungefähr genau zu dieser Zeit. Am Samstag machen wir erst um 8:00 Uhr auf, da stand die Polizei schon auf der Strasse. Aber hier steht oft irgendwo eine Polizeistreife, wir haben uns nichts weiter gedacht. Am Samstagmorgen ist es in der Regel sehr ruhig, bis am späteren Vormittag ist wenig los. 

Im Schwarzen Peter, dem Verein für Gassenarbeit, ist gerade Teamsitzung als wir das Büro betreten. Einer der Mitarbeitenden hat trotzdem kurz Zeit. Er hat von der Vergewaltigung noch gar nichts gehört.

Was erzählen Sie da? Davon habe ich noch gar nichts mitbekommen. Das schockiert mich, was für ein  schrecklicher Vorfall! Ich wohne selber im St. Johann. Das Quartier hat sich verändert. Früher war mehr multikulti, die Leute haben aufeinander geachtet. Wenn dir einer das Velo vom Laternenpfosten klauen wollte, war da ein Nachbar und hat interveniert. Heute sind alle in ihrer eigenen Ego-Welt. Am Voltaplatz sieht man das schon länger an den Häusern, schauen Sie sich die Betonwüste mal an, tot ist es da, tot!

Oder in den Trams, das ist doch vollkommen asozial. Alle schauen auf ihre Handys und in all den Videos wird so viel gebrüllt, ich weiss gar nicht, ob das noch jemand mitkriegt wenn in der echten Welt jemand schreit. Wenn da draussen, auf der Kreuzung Mülhauserstrasse / Elsässerstrasse einer mit dem Velo auf den nassen Tramschienen ausrutscht und hinknallt, dann kann man froh sein, wenn überhaupt jemand hingeht, um zu helfen. Das habe ich schon öfter beobachtet. Ich will nicht zynisch klingen, aber ich finde in Sachen Rücksicht und Anteilnahme hat sich Vieles zum Schlechten verändert, ich könnte da noch viele weitere Anekdoten erzählen. Aber darum geht es ja gerade nicht, ich bin einfach schockiert, dass so eine Vergewaltigung mitten im Quartier – dass so etwas möglich ist. 

Vor dem Saintnoir Tattoo Shop steht ein Mann, ca. 40 Jahre alt, gelbe Regenjacke und raucht.

Wenn so etwas passiert, schaut jeder weg, das ist ja das Schlimme. Ich wollte auch schon eingreifen, wenn es irgendwo Stress gab, aber am Schluss kriegt man noch selber auf die Fresse. Ich glaube, darum machen viele gar nichts mehr. Meistens ist man in der Unterzahl. Mich betrifft das jetzt nicht, mit diesem Vorfall, Glück gehabt, aber cool ist das nicht. Das ist schlimm. Meine Freundin lasse ich am Abend aber schon lange nicht mehr auf die Strasse, auch wenn ich nicht im St. Johann wohne. Ich arbeite ja nur hier. Für die Menschen im Quartier ist das alles bestimmt nicht cool, das führt natürlich zu einer gewissen Unsicherheit. Mir hat man vor Jahren mal das Schaufenster versprayt, aber sonst hatte ich nie Probleme. Ich frage mich schon, wer so etwas macht, ich meine, was bringt das?

Im Eingangsbereich des Coops an der Elsässerstrasse steht ein Kiosk. Die Verkäuferin, eine Frau Anfang 40 in dunkelblauer Arbeitsuniform, hat auch am vergangenen Samstag gearbeitet. Sie war zur Tatzeit bereits im Dienst. 

Ich kam am Samstagmorgen gegen fünf vor Sieben mit der Tram, dann bin ich ausgestiegen und hier zum Eingang gelaufen. Als ich um halb Acht die Türe aufgemacht habe, stand auf der Strasse schon die Polizei. Das muss also in der Zwischenzeit passiert sein. Ich habe nichts mitgekriegt, absolut nichts. Ich bin betroffen, sehr betroffen. Mir tut die Frau wahnsinnig Leid. Aber man kann nichts nichts dagegen machen, wenn so etwas passiert, ich meine, ich war ja da. Nichts habe ich mitgekriegt, das beschäftigt mich sehr.

Letzte Begegnung. Aus einer Seitenstrasse zwischen Voltaplatz und St. Johanns-Tor biegt eine junge Frau um die Ecke, grüner Mantel, auf dem Kopf trägt sie ein Berret. Sie sagt, so wie die Diskussion jetzt laufe, sei das nicht richtig.

Ich denke, es ist falsch, dass man jetzt das Quartier so in den Vordergrund rückt. Als hätte das etwas mit dem St. Johann zu tun, das ist doch Quatsch. Diese Typen sind das Problem, nicht die Strasse, oder der Platz, oder eine Tramhaltestelle oder ein Hauseingang. Es sind diese Männer, die dieses Verbrechen begangen haben, sie tragen die alleinige Schuld. Wenn man jetzt über das Quartier redet, dann klingt das so, als wäre irgendwie die Umgebung mitschuldig oder so. Ich war am Sonntagabend auf der Spontan-Kundgebung, da wurden viele gute Dinge gesagt. Aber auch dort dachte ich, es ist zu einfach, dem Patriarchat die Schuld an solchen Vorfällen zu geben. Es sind erst einmal diese beiden Männer, die die Schuld tragen. Das muss klar sein, das muss ganz klar verurteilt werden, sie müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Dann können wir immer noch über Strukturen reden. 

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Die Staatsanwaltschaft schilderte den Tathergang in einer Medienmitteilung wie folgt: Am Samstagmorgen, den 2. Februar um 7:20 Uhr morgens wurde eine Frau beim Verlassen der Tram  Nr. 14 am Voltaplatz von zwei Männern auf ihrem Heimweg «begleitet» und dann vor ihrer Haustüre an der Elsässerstrasse vergewaltigt. Einer der Täter hielt die Frau dabei fest. Die Täter flüchteten in Richtung Voltaplatz. Die Kriminalpolizei sucht Zeugen.

Personen, die sachdienliche Hinweise geben können, werden gebeten, sich mit der Kriminalpolizei der Staatsanwaltschaft, Tel. 061 267 71 11, oder mit der nächsten Polizeiwache in Verbindung zu setzen.

Unser Basel-Briefing hält dich über die weiteren Entwicklungen in diesem Fall auf dem Laufenden. Hier gehts zur Anmeldung.

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Bei Bajour als: Reporter und Redaktor

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Kann: Ausschlafen.

Kann nicht: Kommas.

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Vermisst in Basel: Unfertigkeit. Alles muss hier immer sofort eingezäunt und befriedet und geputzt werden. Das nervt. Basel hat in vielem eine Fallschirmkultur aus der Hölle. Absichern bis der Gurt spannt. Ich bin schon oft aus Versehen eingeschlafen.

Interessensbindung: Vereinsmitglied beim SC Rauchlachs.

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