«Bei den meisten muss erst etwas geschehen»

Der auf sexualisierte Gewalt spezialisierte Psychiater Werner Tschan über die Gründe, weshalb in so vielen Institutionen, wie etwa Universitäten, Spitälern und Schulen die Prävention verschlafen wird, obwohl man sie als Hochrisiko-Bereich einstufen muss.

Werner Tschan Psychiater sexualisierte Gewalt Institutionen
Findet, dass unsere Gesellschaft lange weggeschaut hat, wenn es um sexualisierte Gewalt ging: Psychiater Werner Tschan. (Bild: Ina Bullwinkel)
Zur Person

Werner Tschan ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und hat sich auf sexualisierte Gewalt spezialisiert. Tschan behandelt Opfer, berät Behörden, Institutionen und Fachverbände und hat in der Rehabilitation von Täter*innen mitgewirkt. Er ist 72 Jahre alt und führt eine Praxis in Allschwil.

Werner Tschan, wo findet Machtmissbrauch am häufigsten statt? 

In Institutionen, die nicht hingucken. Und das sind viele.

Auf Ihrer Website heisst es, Institutionen, wie zum Beispiel Kirchen, Spitäler und Schulen, müssten als Hochrisikobereiche für Übergriffe verstanden werden. Warum ist das so? 

Weil die Machtkonstellation ein Risikofaktor für Sexualstraftäter ist, den sie ausnutzen können. Die Opfer sind von ihnen abhängig, wissen häufig nicht recht, was ihnen geschieht und können so sehr einfach ausgenutzt werden.

Haben Sie ein Beispiel?

Denken Sie mal an eine Arztpraxis. Wenn der Arzt sagt, bitte ziehen Sie sich aus, dann denken Sie nicht daran, dass der irgendetwas im Schilde führt, sondern Sie machen das, oder? Und wenn der Lehrer Ihnen sagt, Sie bleiben noch für eine Strafaufgabe, dann können Sie als Schülerin oder Schüler nicht gross widersprechen. Das sind Machtpositionen, und wenn diese von tatwilligen Leuten ausgenutzt werden, dann geschehen unfassbare Dinge.

Welche Institutionen sind typischerweise noch betroffen?

In Universitäten haben wir ebenfalls dieses Abhängigkeitsverhältnis. Dozierende können das ausnutzen, wenn sie tatbereit sind. Und die Studierenden sind darauf angewiesen, eine gute Benotung oder gute Projekte zugesprochen zu bekommen. Das kann ausgenutzt werden: Wenn du was sagst, dann kannst du deine Karriere vergessen, heisst es dann. Auch im Sportbereich finden wir Täter, die genau das ausnutzen.

«Wir haben ein strukturelles, gesamtgesellschaftliches Problem mit sexualisierter Gewalt.»
Werner Tschan, Psychiater, spezialisiert auf sexualisierte Gewalt

Fehlt es ganz grundsätzlich an der Sensibilität gegenüber diesen Gefahren?

Die Institutionen waren bisher recht blauäugig bezüglich des Machtgefälles oder haben nicht genau hingeguckt und waren dann überrascht, wenn etwas geschehen ist. Und eigentlich sind in den letzten Jahren so viele Dinge ans Tageslicht gekommen, die alle hellhörig machen müssten. In allen Bereichen. 

Warum tritt dieses Phänomen aktuell so prominent auf?

Unsere Gesellschaft hat lange weggeschaut, wenn es um sexualisierte Gewalt ging. Es war sogar zum Teil richtiggehend erlaubt – denken Sie daran, dass die Vergewaltigung in der Ehe lange kein Straftatbestand war. Das hat sich geändert, wir haben heute ein anderes Bewusstsein. Früher galt das Narrativ, das seien alles Einzelfälle und ein paar Feministinnen und Fachleute, die sich aufbauschen. Man wollte das nicht wahrhaben. Aber wir haben ein strukturelles, gesamtgesellschaftliches Problem mit sexualisierter Gewalt. 

Gewaltverbrechen sind die extremste Form von sexistischem Machtmissbrauch. Er kann sich aber zum Beispiel auch in anzüglichen Kommentaren oder aufdringlichem Verhalten äussern. Wo muss man aus Ihrer Sicht noch ansetzen?

Beim Thema Sensibilisierung. Die Aufklärung sollte auch bei potenziellen Opfern ankommen. Das muss schon im Kindergarten beginnen, dass auf einfache Art und Weise den Kindern beigebracht wird, was nicht ok ist und was sie machen müssen, wenn ein Übergriff stattfindet. In der Schule muss es dann eine Vertiefung geben. Das kann man nicht allein dem Elternhaus überlassen – dort geschieht die Hälfte aller Übergriffe. Wenn wir Prävention wollen, müssen wir da ansetzen.

Wer schon im Kindergarten lernt, was in Ordnung ist und was nicht, kann vermutlich auch später als betroffene erwachsene Person Fehlverhalten viel besser einordnen, oder?

Selbst Erwachsene verstehen manchmal nicht, was ihnen geschieht. Nicht immer wird ein Übergriff gleich als ein solcher verstanden, sondern Betroffene sind zunächst verwirrt. Und dann fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Deshalb hilft Sensibilisierung, aber auch aufzuzeigen, wo man Hilfe bekommen kann. Und die Ermunterung, diesen Schritt auch zu tun.

Flyer Podium Uni Basel zu Machtmissbrauch
Podium: Machtmissbrauch an Unis – wie weiter?

Die Strukturen und Hierarchien an Hochschulen begünstigen Machtmissbrauch und Übergriffe. Welche Ansätze kann es geben, um das Studieren und das Arbeiten an der Uni zu verbessern? Wie können Abhängigkeitsverhältnisse fair gestaltet sein? Wie kann Machtmissbrauch verhindert werden? Darüber diskutieren wir am Podium am 20. November um 18.30 Uhr im kHaus.

Hier anmelden

Man hört aber immer wieder, dass es kein Vertrauen in die Meldestellen gibt oder dass daran gezweifelt wird, dass eine Meldung zu einer Besserung führt. An der Uni Basel nutzte ein Professor seine Stellung als Doktorvater aus, um eine Doktorandin zu sexuellen Handlungen zu überreden, woraufhin ihre akademische Laufbahn endete, während seine weiterging. Was braucht es?

Wir raten Institutionen, Organisationen und auch Universitäten, dass sie zwei Arten von Meldestellen aufbauen. Eine interne Stelle, die durch die Institution betrieben wird, und eine externe Meldestelle. Wegen möglichen Befangenheiten sollte man immer beides haben. Es reicht nicht, dass man einfach eine Opferberatungsstelle einrichtet und den Menschen gut zuredet, sondern es braucht auch Wissen. Ausserdem ist es wichtig, dass Betroffene sehen, jawohl, man nimmt das ernst und macht was, Täter werden sanktioniert. Das fördert Vertrauen. Das grosse Beispiel, wie man es nicht machen soll, ist die katholische Kirche mit ihren zahlreichen Missbrauchsfällen. 

Alles unter den Teppich kehren und die Täter schützen.

Zum Beispiel. Oder bagatellisieren und die Opfer nicht ernst nehmen.

Wenn man ein Problem nicht wahrhaben möchte, was macht das mit den Betroffenen?

Lange Zeit wurde Opfern kein Glauben geschenkt. Im Gegenteil, man hat sie ausgelacht oder nicht ernst genommen. Dieses Nicht-Glauben-Können hat auch viel damit zu tun, dass wir über diese Dinge wenig gesprochen haben. Das war ein Tabu. Und das hat auch dazu beigetragen, dass das Wissen um sexualisierte Gewalt bei Fachleuten und der ganzen Gesellschaft nur ansatzweise vorhanden war.

«Es ist es, dass Betroffene sehen, jawohl, man nimmt das ernst und macht was, Täter werden sanktioniert. Das fördert Vertrauen.»
Werner Tschan

Wie sieht Prävention bei potenziell gewalttätigen Sexualstraftäter*innen aus?

Man muss versuchen, potenzielle Täter von ihren Taten abzuhalten. Damit diese, wenn sie merken, dass sie ein Problem mit ihrer Sexualität haben, rechtzeitig Hilfe suchen. Das ist eine Form von Sensibilisierung und Vermittlung von Wissen. Man darf natürlich nicht erwarten, dass das alle tun.

Und der andere Teil?

Der begeht Taten ohne ein Bewusstsein dafür. Wie zum Beispiel beim Fall Pelicot in Frankreich, bei dem eine Frau von ihrem Ehemann mit Medikamenten betäubt wurde und bewusstlos von verschiedenen Männern vergewaltigt wurde. Manche Männer haben ausgesagt, dass ihre Taten aus ihrer Sicht keine Übergriffe waren. Da liegt eine Frau vor ihnen, nackt – wieso sollten sie nicht zugreifen? Das war ihre Argumentation. Das ist natürlich völlig schräg.

Zu welchem Zeitpunkt kommen Institutionen und Behörden meistens auf Sie zu? 

Ich muss fast lachen. Immer nach Vorfällen.

Also selten präventiv?

Ja, praktisch nie. Bei den meisten muss zuerst etwas geschehen, bis sie auf die Idee kommen, ein Schutzkonzept zu implementieren und zu sensibilisieren. In der Krisensituation fehlt dann eine Strategie, wie man vorgeht. Die Reporter stehen auf der Matte, halten die Mikrofone hin, und die Leute ersaufen im Krisenmodus. 

«Sie können noch so viel Präventionsarbeit machen, es wird immer wieder sexualisierte Gewalt geben.»
Werner Tschan

Was bringt das Schutzkonzept konkret?

Wenn sich eine Vorgehensweise etabliert hat, in aller Ruhe, ohne Stress, dann wissen die Verantwortlichen, was zu tun ist und können auch gegenüber der Öffentlichkeit oder den Angestellten dastehen und sagen, wie sie vorgehen. So kann auch den Betroffenen rasch geholfen werden. Aber man muss auch wissen: Sie können noch so viel Präventionsarbeit machen, es wird immer wieder sexualisierte Gewalt geben. Manchmal reichen die besten Vorsichtsmassnahmen nicht aus.

Wie sieht ein typisches Konzept aus, das Sie mit einer Institution erarbeiten? 

Ein Schutzkonzept beinhaltet immer drei Ebenen: Prävention, Intervention und Nachsorge. Dazu muss man sich ein Bündel von Massnahmen überlegen. Dazu gehören zum Beispiel die Meldestelle oder ein Code of Conduct, vielleicht auch ein Katalog, welche Massnahmen in welcher Situation erfolgen. Das muss für alle transparent sein. 

Sie sind jetzt 72 Jahre alt, haben gerade ein neues Buch veröffentlicht und sind immer noch sehr aktiv in Ihrem Beruf. Was treibt Sie an?

Es macht nach wie vor Spass. Also Spass – ich muss aufpassen, wie ich das formuliere. Ich habe eine wichtige Funktion für die Menschen, die Hilfe suchen. Deshalb ist das eine Arbeit, die mir Sinn gibt. 

Sie haben über lange Zeit viele schlimme Erfahrungen erzählt bekommen.

Ja, und es hat mein Leben und meine Sicht auf viele Dinge verändert. Das lässt einen nicht unberührt. Ich bin Arzt und als Arzt lernt man, dass es manchmal lange dauert, bis die Dinge wieder in Ordnung kommen und Menschen von ihrem Trauma geheilt sind, aber es lohnt sich. 

Vielen Dank für das Gespräch.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren

Ersti Umfrage Uni Basel

David Rutschmann am 15. September 2025

«Ich freu mich aufs Studileben, Menschen kennenlernen, zusammensein – und hoffentlich etwas lernen»

Wir haben Erstis auf dem Petersplatz abgepasst und sie gefragt, was ihr erster Eindruck von der Uni Basel ist.

Weiterlesen
Gastkommentar Zumbrunn Kopie 2

Miriam Locher am 15. September 2025

Für eine vernünftige Hochschulpolitik

Die «Uni-Finanzierungs-Initiative» und die damit angestrebte Kündigung des Universitätsvertrags sind nicht nur rechtlich problematisch, sondern bergen auch erhebliche finanzielle Risiken, schreibt SP-Ladrätin Miriam Locher in ihrem Gastkommentar.

Weiterlesen
Gastkommentar Zumbrunn

Thomas Zumbrunn am 15. September 2025

Vogel-Strauss-Politik muss ein Ende haben

Die beiden Basel würden basierend auf dem Universitätsvertrag pro Student*in vier bis fünf Mal mehr zahlen als die übrigen Kantone. Daher brauche es die Uni-Finanzierungs-Initiative, schreibt der Präsident der Gemeinde Rünenberg.

Weiterlesen
Ina Bullwinkel Porträt

Das ist Ina (sie/ihr): Nach journalistischen Stationen u. a. in Bremen (Volontärin, Weser-Kurier) und Berlin (Redaktorin am Newsdesk, ntv.de) hat es Ina mitten in der Corona-Pandemie zu Bajour verschlagen. Dank Baseldytsch-Kurs hat sie sich schnell dem Dialekt der Einheimischen angenähert – ihre Mundart-Abenteuer hält sie regelmässig im Basel Briefing fest. Seit April 2023 ist Ina Chefredaktorin und im Wochenkommentar «Bullwinkels Blickwinkel» teilt sie einmal die Woche ihre Meinung zu aktuellen (meist politischen) Themen.

Kommentare