Tante Anna und ihre Neffen – die unglaubliche Geschichte einer Zusammenführung
Sie dachten, ihre Tante sei tot. Bis die Cousins Stefano und Alberto einen Anruf aus Basel erhielten – und ihren Ohren nicht trauten. Es war der Beginn eines wahren Märchens.
«Non vi riconosco proprio», sagt Anna Vallese mit dünner Stimme und erhebt sich aus ihrem Sessel. Die beiden Männer, die sie, wie sie sagt, nicht wiedererkennt, betraten soeben das Zimmer der 88-Jährigen im Pflegeheim Falkenstein. «Eh, abbiamo tutte due la barba», witzelt der eine, wir haben beide einen Bart, kein Wunder erkennst Du uns nicht. Er legt den riesengrossen Blumenstrauss auf den Tisch. Und nun stehen sie da, alle drei, geben sich zuerst die Hand, um sich eine Sekunde später innig zu umarmen. Ein kurzer Blick in die Augen, die Frage: Ist das wirklich wahr? Und die nächste Umarmung. Es ist ein Moment, wie wir ihn aus TV-Shows kennen. Eine Familie trifft sich nach Jahrzehnten wieder. Der 61-jährige Stefano und sein 50-jähriger Cousin Alberto Stival hatten bis vor wenigen Tagen geglaubt, ihre Tante Anna sei längst gestorben. Und plötzlich erfahren sie, nein, sie lebt!
Als ich Stefano Stival anrief, war er zunächst sprachlos. «Das glaube ich ja nicht», sagte er immer wieder. «Tante Anna lebt!» Ich hatte Anna Vallese für das Buch «Ohne Milch und Zucker – Lebensgeschichten aus dem BSB» porträtiert. Sie erzählte mir von ihrem Leben in Libyen, wohin ihre Familie Mitte der 30er Jahre auswanderten. Sie erzählte vom Krieg, davon, dass Mussolinis Militär ihren Vater und zahlreiche andere Italiener zu Soldaten in der libyschen Kolonie erklärt hatte. Sie erzählte, dass dieser 1948 starb und die Mutter mit ihren zehn Kindern von einem Tag auf den anderen auf sich allein gestellt war. Mit 19 Jahren musste Anna zurück nach Italien, Arbeit suchen, Geld verdienen für die Familie. Später heiratete sie einen italienischen Gastarbeiter, der bereits in der Schweiz lebte, und wanderte nach Basel aus. Sie erzählte, dass sie den Kontakt zu ihren Geschwistern verloren habe, nicht wisse, ob diese überhaupt noch lebten. Sie war nachdenklich, als sie davon sprach, traurig.
Zwei Hinweise, ein Volltreffer
Ihr Ehemann Mario starb vor 26 Jahren. Der einzige Kontakt, der ihr blieb, war jener zu Verwandten des Mannes in Italien. Telefonate, ab und zu, mehr nicht. Besuch erhält Anna Vallese kaum. Viele Menschen in der mediterranen Abteilung des Heims sprechen zwar ihre Sprache, sie ersetzen jedoch nicht, was eine Familie ausmachen kann. Trotzdem hat Anna Vallese nie versucht, die Geschwister oder allfällige Nichten und Neffen ausfindig zu machen. «Ich wüsste gar nicht, wo ich nach ihnen suchen sollte», sagte sie im Interview. Für mich war klar: Sobald das Buch erschienen ist, mache ich mich auf die Suche. Frau Vallese informierte ich nicht über mein Vorhaben. Ich wollte sie nicht enttäuschen, sollte ich scheitern.
Als das Buch im Oktober erschien, hatte ich als Anhaltspunkt Anna Valleses ledigen Namen und den Hinweis, dass einer oder mehrere Brüder in den 60er Jahren in der Region Bern ausgewandert waren. Stival – und Bern. Auf einer Website fand ich einen Stefano Stival. Ein Mann im Arbeitsleben, zu jung, um ein Bruder zu sein – aber vielleicht ein Neffe? Volltreffer.
Nach den ersten Umarmungen bittet Anna Vallese ihre Neffen, sich zu ihr aufs Bett zu setzen. Sie hält die Hände der Männer, die sie eigentlich gar nicht kennt. An Stefano kann sie sich zwar erinnern, sie sah ihn, als er ein Bub war. Als junger Mann besuchte er sie einmal in Basel. Doch das ist lange her. «Mein Vater drückte mir damals einen Zettel mit ihrer Adresse in die Hand, da er wusste, dass ich beruflich nach Basel musste. Ich ging bei dem Haus vorbei und traf Tante Anna kurz», erzählt Stefano. Alberto, der jüngere von beiden, meint, seine Tante einmal getroffen zu haben, als er noch ganz klein war. Sie kann sich nicht erinnern.
Die Familie verlor sich aus den Augen, bloss die Väter der Cousins hielten Kontakt. Der eine lebte bei Bern, der andere im Tessin. Die Söhne wohnen immer noch dort. Ihre Väter gingen im Pensionsalter zurück nach Italien. Dort starb Stefanos Vater vor einem Jahr mit 98 Jahren. «Wie gern er seine Schwester noch gesehen hätte», sagt Stefano. Vor nicht allzu langer Zeit habe der Vater ihn gebeten, nach ihr zu suchen. Die Suche blieb erfolglos. «Ich kannte nur ihren ledigen Namen, klapperte Pflegeheime ab, fragte bei den Behörden nach, doch die beriefen sich auf den Datenschutz. Sogar bei den Friedhöfen rief ich an – aber: nichts.» Albertos Vater lebt noch, allerdings ist auch er nicht mehr der Jüngste. Er wird die Reise von Italien nach Basel in nächster Zeit kaum auf sich nehmen, um seine Schwester zu sehen.
«Ohne Milch und Zucker – Lebensgeschichten aus dem BSB» mit Texten von Martina Rutschmann und Bildern des Fotografen Jean Weber erzählt die Lebensgeschichten von 20 Menschen, die im BSB (Bürgerspital Basel) leben oder arbeiten. Das Buch ist in grossen Buchhandlungen und unter www.ohnemilchundzucker.ch erhältlich.
Schwarzweissfotos und Selfies
Es ist bereits nach 19.30 Uhr. Normalerweise ist Anna Vallese um diese Zeit im Bett und schaut fern. Die Mitarbeitenden des Heims hatten sie auf den heutigen Besuch vorbereitet – und sie hat sich entsprechend schön gemacht. Sie wirkt nicht müde, im Gegenteil, ihr Blick ist hellwach. Immer wieder mustert sie ihre Neffen ungläubig und drückt sie an sich. «Ich freue mich so», sagt sie auf Italienisch. «Und wir erst, Zia Anna», erwidern die Neffen.
Tante Anna zeigt ihnen die wenigen Fotos, die sie hat; Bilder ihres verstorbenen Mannes, solche von ihr als Jugendliche. Die Neffen spielen auf dem Handy Videos ihrer Kinder ab. Später führt Anna sie durch ihre Etage, zeigt ihnen die Geranien, die sie hegt und pflegt, die Küche, in der sie dienstags beim Kochen hilft. Sie sprechen über Libyen, Italien, über die zehn Geschwister, von denen nur noch Anna und Albertos Vater leben. Sie sind glücklich, alle drei.
«Anna erinnerte mich stark an meinen Vater, ich musste oft leer schlucken», sagt Stefano am Tag nach dem Besuch. Sein Cousin und er seien überwältigt. Alberto möchte Tante Anna bald mit seiner Familie besuchen. «Es war so schön, sie kennenzulernen. Sie wollte uns kaum gehen lassen», sagt er. Eine Woche nach der Begegnung berichten die beiden, sie hätten bereits mehrfach mit Tante Anna telefoniert und seien dabei, Familienfotos für sie zusammenzustellen. Die neusten sind Selfies von diesem denkwürdigen Abend. Sie erzählen eine Geschichte, die wie ein Märchen klingt – aber wahr ist. Und die erst begonnen hat.