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Affenpocken

Identitätspolitik und Stigma

Im Gegensatz zur Corona-Pandemie werden die Affenpocken in der Schweiz weniger als gesamtgesellschaftliche Krise wahrgenommen. Dies hat nicht nur medizinische, sondern auch soziale Gründe. Reatch berichtet, welche Lehren wir aus der Bekämpfung dieser Infektionskrankheit dank eines soziologisch-historischen Blicks ziehen können.

12/13/22, 02:23 PM

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(Foto: reatch.ch)

Seit dem 29. November 2022 verteilt die Armeeapotheke eine zweite Lieferung von 14‘000 Impfdosen gegen die Affenpocken an die Kantone. Affenpockenimpfungen sind in der Schweiz seit dem 11. November möglich – zunächst in den am stärksten betroffenen Kantone Basel-Stadt, Genf, Waadt und Zürich. Am 24. August dieses Jahres versprach der Bundesrat der Bevölkerung die Anschaffung von 40‘000 Dosen und unterschrieb die entsprechenden Kaufverträge Mitte Oktober, nachdem die Infektionsrate der Affenpocken seit Mai stark angestiegen war. Die WHO erklärte den Krankheitsausbruch am 23. Juli als «Notlage von internationaler Tragweite», woraufhin der Druck auf den Bundesrat und das BAG zugenommen hatte. Ausgeübt wurde dieser vor allem von Pink Cross, der Dachorganisation schwuler und bisexueller Männer in der Schweiz. Eine von 6500 Personen unterzeichnete Petition forderte den Bundesrat zu raschem Handeln gegen die Ausbreitung der Affenpoken in der Schweiz auf. Deren Nachbarländer hatten zu diesem Zeitpunkt bereits damit begonnen, Risikogruppen zu impfen, Deutschland beispielsweise schon im Juni.

Es stellt sich die Frage, wo das vergleichsweise zaghafte Handeln der Behörden bei der Bekämpfung der Affenpocken herrührt und weshalb diese Krankheitsausbreitung sowohl in den Medien als auch in der Politik weniger alarmierend aufgefasst wird als die Corona-Pandemie. Geht man den epidemiologischen Gründen und Fragen, wie derjenigen der Risikogruppe nach, treten rasch auch relevante soziale Faktoren in Erscheinung.

Im europäischen Vergleich handelte die Schweiz zwar bereits bei den Massnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus langsam, allerdings waren die Handlungen des Bundesrats wegen der offensichtlichen Dringlichkeit der Lage gesamtgesellschaftlich abgestützt, zumindest befürwortete die Stimmbevölkerung in zwei Abstimmungen die Politik des Bundesrates. Es bedurfte also keiner zivilgesellschaftlichen Organisation, um den Ernst der Lage in Erinnerung zu rufen und die Wichtigkeit eines schweizweiten Vorgehens gegen die Verbreitung der Infektionskrankheit zu fordern.

Bei den Affenpocken ist es nun anders: Sie sind weniger als gesamtgesellschaftliches Problem präsent, was zum Teil auf Unterschiede zurückzuführen ist, die bei der Krankheit selbst und ihrer Verbreitung anzusiedeln sind. So wurde in der Schweiz noch kein Todesfall infolge einer Affenpockenerkrankung gemeldet und die absoluten Ansteckungen liegen vergleichsweise tief – seit dem ersten registrierten Fall am 19. Mai infizierten sich 550 weitere Personen und derzeit sinken die Ansteckungsraten. Da sich aber Menschen in verschiedenen Regionen der Welt, wo die Krankheit zuvor noch nie in Erscheinung getreten war, über engen Körperkontakt und Tröpfchen ansteckten, rief die WHO die Notlage aus. Obwohl die Schweiz zu diesen Regionen gehört, liess ein Handeln der hiesigen Behörden zur Eindämmung der Krankheit auf sich warten, was das Engagement der Betroffenen erforderlich machte.

Eine „Schwulenkrankheit“?

Pink Cross setzte sich stellvertretend für die Risikogruppe der Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), für Massnahmen gegen den Krankheitsausbruch ein. Es gibt folglich zwei zu unterscheidende Gruppen: Einerseits gibt es die vom BAG definierte medizinische Risikogruppe, innerhalb welcher sich das Virus am stärksten verbreitet, andererseits die soziale Gruppe homo- und bisexueller Männer, insbesondere repräsentiert durch deren Dachverband Pink Cross. Diese beiden Gruppen überschneiden sich zwar stark, sind aber nicht ganz deckungsgleich, was bei einer Infektionskrankheit von Relevanz ist: Nicht alle MSM identifizieren sich als homo- bzw. bisexuell, weshalb es durchaus zu Ansteckungen ausserhalb der Gay-Community kommen kann. Und nicht jede männlich-gleichgeschlechtliche Sexualpraktik muss zu einer Ansteckung mit Affenpocken führen.

Identitätspolitik und Emanzipation

Das Engagement von Pink Cross lässt sich als ein typischer Fall von Identitätspolitik verstehen, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Dieser Begriff meint nämlich die Ausrichtung des politischen Handelns an Interessen von Menschen, die anhand gewisser Kategorien als eine Gruppe zusammengefasst werden. Bei diesem in politischen Debatten zum Teil auch polemisch und als Vorwurf verwendeten Begriff schwingt auch eine emanzipatorische Komponente mit, da sich historisch gesehen stets Minderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft mittels Identitätspolitik Gehör verschaffen mussten. Im Rahmen des Gay-Rights-Movements geschah dies über die Aneignung der abwertenden Fremdbezeichnungen der Gruppe von aussen und deren Umwandeln in einen selbstbewussten Stolz – noch heute redet man von „Gay-Pride“.

Als ein jüngeres Beispiel eines solchen emanzipatorisch-identitätspolitischen Bestrebens lässt sich der letztes Jahr gewonnene (Abstimmungs-)Kampf um die „Ehe für Alle“ nennen, wo eine bislang bestehende Ungleichheit im Recht auf Ehe behoben wurde. Es handelte sich also um den konsequenten Ausbau der Gleichstellung aller Bürger*innen in einer liberalen Demokratie und weniger um das Durchsetzen von Partikularinteressen einer bestimmten Gruppe. Insofern lässt sich dieses Beispiel als einen für die Gesamtgesellschaft und die schweizerische Demokratie gewinnbringenden Fall von Identitätspolitik verstehen.

Um aber der Verbreitung einer Infektionskrankheit entgegenzuwirken, ist Identitätspolitik ein ungeeignetes Mittel, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Es treten gar kontraproduktive Aspekte hervor. 

Erinnerungen an die 1980er Jahre

Die Aids-Krise der 1980er Jahre brachte nicht nur individuelles Leiden durch eine Erkrankung, sondern auch drastische soziale Folgen mit sich. Wie Susan Sontag in ihrem kritischen Essay „Aids und seine Metaphern“ 1988 aufzeigte, wurde im Fall von Aids eine Krankheit gesellschaftlich stigmatisiert und dadurch auch die kranke Person selbst. Dies hatte die Konsequenz, dass eine Unterscheidung zwischen den Kranken, den potenziell Kranken und der Gesamtbevölkerung konstruiert wurde, was zum Teil bis heute noch in Vorurteilen spürbar ist. Diese Dimension des Stigmas um Aids und genau diese drei Gruppen gilt es im Kopf zu behalten, wenn man die aktuelle Affenpockensituation betrachtet.

Das BAG unterscheidet auf seiner Webseite zwischen der „am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppe“ und der „Gesamtbevölkerung“ für die es „aktuell von einem geringen Risiko“ ausgeht. Sind Männer, die Sex mit Männern haben, nicht Teil der Gesamtbevölkerung? Dies will das BAG wohl kaum suggerieren und zieht mit der Unterscheidung der zwei Gruppen eine rein medizinische, auf das Infektionsrisiko bezogene Trennlinie. Da aber der Bundesrat im Vergleich zu anderen Europäischen Staaten so zögerlich hinsichtlich der Beschaffung des existierenden Impfstoffes gegen die Affenpocken handelte, führte dies bei vielen Betroffenen zum Gefühl, allein gelassen und eben doch von der Gesamtgesellschaft ausgeschlossen zu sein.

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Eine aus einer infektiologischen Perspektive sinnvolle Gruppendefinitionen kann nachhaltige soziale Auswirkungen haben, insbesondere wenn die medizinische Grenzziehung der Risikogruppe entlang ähnlicher Grenzen, wie diejenigen einer historisch marginalisierten Gruppe, verläuft. Susan Sontag zeigte diese Problematik anhand des Stigmas von Aids auf. Noch heute muss gegen das Stigma einer HIV-Infektion gekämpft werden und die Aids-Hilfe Schweiz führt als eidgenössische Meldestelle für Diskriminierungen und Persönlichkeitsverletzungen im Bereich HIV/Aids Register über gemeldete Fälle von Diskriminierung und hilft den Betroffenen.[13] Aber auch das Stigma der potenziell Kranken hält sich, und tritt wegen der aktuellen Risikogruppe wieder zu Tage.

Schon 1984 – drei Jahre nach dem weltweit ersten Auftreten eines Aids-Falls in den USA – beklagte der Autor eines Artikels in der New York Times die Problematik des zaghaften, beziehungsweise zunächst unterlassenen, Handelns der Behörden bei der Bekämpfung des neuen HI-Virus aufgrund des Stigmas. Dass beispielsweise das Sprechen von Geldern für die Erforschung der neuen Krankheit immer wieder verzögert wurde, führte er darauf zurück, dass vor allem eine soziale Minderheit betroffen war: „Compassion for the victims was mingled with relief among those outside the known risk groups“. Identitätspolitik wurde folglich schon in der Aids-Krise zum notwendigen Mittel, um Massnahmen zur Bekämpfung der Infektionskrankheit einzufordern. Aber auch die Erkenntnis, dass das HI-Virus nicht immer Halt an den Rändern der Risikogruppe machte, sondern sich in der Gesamtgesellschaft zu verbreiten drohte, beförderte schliesslich das Verständnis um die Dringlichkeit der eindämmenden Massnahmen.

Die sozialen Aspekte der Affenpockenbekämfung

Bei den Affenpocken spielen also – wie schon bei der Aids-Krise und der Corona-Pandemie – nicht nur medizinische, sondern auch soziale Faktoren eine Rolle, die in diesem Fall anders geartet sind als noch 2019 bei der Covid-Bekämpfung: Wie im Fall von Aids wird die Krankheit stark vom Faktor des Stigmas umgeben. Eine Infektion mit den Affenpocken bedeutet zwangsweise ein Outing, nicht nur als MSM, sondern auch als jemand, der wahrscheinlich häufig den Sexualpartner wechselt, was schambehaftet sein kann. Hinzu kommt die zum Teil auftretende Folge der Erkrankung, dass die entstandenen Pusteln sichtbare Narben hinterlassen, die entstellend sein können und das Stigma visualisieren.

Aber nicht nur auf der Ebene des erkrankten Individuums lässt sich die Tragweite des unterlassenen raschen Handelns bei den Affenpocken anhand einer weiteren Parallele zur Aids-Bekämpfung aufzeigen. UNAIDS, das Programm der UNO zur Bekämpfung von HIV/Aids, kritisiert in seinem World AIDS Day Report 2021 bezüglich der Bekämpfung von Aids im globalen Süden wie folgt: “Pandemic responses fail when health technologies are available to some but are denied to others. It took the HIV response many years and millions of avoidable infections and deaths to learn that lesson [...].“ [15] Diese Problematik zeigt sich auch bei der Affenpockenbekämpfung in der Schweiz. Bei dieser Krankheit handelt es sich – anders als bei Covid-19 und Aids – um eine bereits bekannte Krankheit. Da die Impfung nicht neu entwickelt werden musste, begannen viele Schweizer Nachbarländer schon im Sommer damit, Risikogruppen zu impfen. Letztendlich trug wahrscheinlich das rasche Handeln dieser Länder auch dazu bei, dass die Ansteckungsrate in der Schweiz trotz der lange Zeit fehlenden Impfung derzeit abnimmt, da sich impfwillige Personen von Landesgrenzen nicht aufhalten lassen. Die Tragik aber des verzögerten Handelns ist dieselbe, wie bei der HIV-Bekämpfung: Ansteckungen mit Affenpocken in der Schweiz wären vermeidbar gewesen, was nicht nur individuelles Leiden, sondern auch gesamtgesellschaftliche Kosten verringert hätte.

Dass Gesundheit nicht nur ein individuelles, mittels Identitätspolitik zu erkämpfendes Anliegen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Gut ist, scheint uns seit der Corona-Pandemie vertraut – bedenkt man das oft gefallene Stichwort der Solidarität. Die letzten Jahre haben uns gezeigt, dass Pandemien gesamtgesellschaftliche, ja weltgesellschaftliche Probleme sind und viel mehr als nur die Gesundheit einer infizierten Person tangieren. In unserer globalisierten Welt, in der sich die Lebensräume vieler Arten zunehmend verkleinern, werden Affenpocken- und Corona-Viren nicht die letzten Erreger sein, die sich vom Tier auf den Menschen übertragen und weltweite Infektionswellen verursachen.

Als Lehre aus der Affenpockenbekämpfung in der Schweiz lässt sich also festhalten, dass soziale Ungleichheiten durch medizinische Krisen verschärft werden können. Identitätspolitik ist für solch komplexe, viele Lebensbereiche tangierende Probleme nicht das richtige Mittel. Sie erforderlich zu machen, ist ethisch problematisch und führt zu sozialen Problemen wie Stigmatisierung und Diskriminierung. Wir tun alle gut daran, Infektionswellen als solche anzuerkennen und frühzeitig zu handeln. Dies ist aus medizinischer, volkswirtschaftlicher und letzten Endes aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive wichtig.

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