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Klatschen reicht nicht

«Ich fühle mich hintergangen»

Daniela und Fabio arbeiten in der Pflege. Zwar sind ihre Arbeitsbedingungen durch Corona in den öffentlichen Fokus gerückt. Doch die Politik verpasst es, ihre Verantwortung wahr zu nehmen – und schiebt das Thema auf die lange Bank.

05/02/20, 03:40 PM

Aktualisiert 05/06/20, 01:21 PM

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Fabio ist in der Ausbildung zum Pflegefachmann.

Fabio ist in der Ausbildung zum Pflegefachmann.

Daniela ist Pflegehelferin und verdient unter 30 Franken pro Stunde. Sie ist bei einer privaten Spitex in Basel-Land im Stundenlohn angestellt. Seit fast zehn Jahren macht sie diesen Job nun. Sie sagt: «Ich bin von der Politik enttäuscht. Wir Pfleger*innen sind diejenigen, die diese Krise ausbaden müssen. Wir sind zurzeit zusätzlich belastet. Aber die Unterstützung, die wir gerade mehr denn je gebrauchen könnten, bleibt aus.»

Zusätzliche Belastung für Pfleger*innen seit Corona

Jeden Tag fährt Daniela mit ihrem E-Bike von Patient*in zu Patien*in - oder Klient*innen, wie sie Daniela nennt. Sie hat je nachdem fünfzehn Minuten bis zu zwei Stunden Zeit, um sich um sie zu kümmern und ist pro Woche für zehn Menschen verantwortlich. Die Pflegebedürftigen sind physisch oder psychisch eingeschränkt und leiden teilweise unter Krankheiten wie Demenz, Parkinson oder Krebs.

«Ich komme nicht umhin, mich irgendwie hintergangen zu fühlen.»

Daniela, Pflegehelferin

Unzufrieden über die mangelnde Wertschätzung und schwierigen Konditionen ist Daniela schon eine Weile. «Unser Beruf wird falsch wahrgenommen», sagt sie. Ihre Arbeit sei anspruchsvoll, körperlich anstrengend und beinhalte eine Vielzahl von Aufgaben, wie das Waschen und Anziehen bis hin zur Abgabe von Medikamenten und Messen von Blutdruck. Aber damit ist es nicht getan. «Gerade die Angehörigen wünschen sich, dass wir uns für ihre Eltern und Grosseltern Zeit nehmen. Es ist eine sehr intime Angelegenheit, die Vertrauen und darum Geduld braucht», sagt sie. Denn viele ihrer Klient*innen seien nicht nur froh, dass Daniela ihnen beim Aufstehen oder Duschen hilft, sondern auch einfach zuhören könne.

«Ich komme nicht umhin, mich irgendwie hintergangen zu fühlen», sagt sie. Vor allem, seit durch die Pandemie ihre Arbeit erschwert wird. «Ich verliere so viel Zeit damit, bei jedem Klienten alles desinfizieren zu müssen. Dazu kommt, dass ich für manche seit Wochen die einzige Person bin, die sie noch zu Gesicht bekommen.»

Das sei belastend, weil alle Sorgen und Ängste so bei ihr abgeladen würden.

«Man lügt sich selbst an, wenn man mehr gibt»

«Ich schätze das Vertrauen und die Dankbarkeit der Klienten, die mir in meinem Beruf entgegengebracht werden und kann mir nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tun», sagt sie. Aber sie merkt besonders jetzt, dass mehr von ihr verlangt wird, als eigentlich verhältnismässig wäre. «Seelenpflege», nennt es Daniela, wenn sie sich um das emotionale Wohl ihrer Klient*innen kümmert. Gleichzeitig weiss sie, dass das in ihrem Jobprofil eigentlich nicht vorgesehen ist, dafür nicht bezahlt wird.

«Klatschen ist schön und gut. Aber wir wollen lieber, dass sich jetzt endlich etwas ändert.»

Daniela

«Man lügt sich selbst an, wenn man mehr gibt», sagt Daniela bedauernd.

Es sei frustrierend mitanzusehen, dass trotz der grossen Aufmerksamkeit, die sie und ihre Kolleg*innen momentan national erhalten, nichts geschehe.

«Ein CEO wird dafür belohnt, wenn er für sein Unternehmen Aussergewöhnliches leistet. Klatschen ist schön und gut. Aber wir wollen lieber, dass sich jetzt endlich etwas ändert.»

Politik steht still 

Dafür muss nicht erst auf nationaler Ebene etwas geschehen. Auch die Kantone seien in der Lage, für ihre Pflegenden bessere Bedingungen zu schaffen, sagt Yvonne Ribi, die den Schweizerischen Berufsverband für Pflegefachpersonen vertritt: «Beispielsweise könnten sie verlangen, dass sich Heime, Spitäler etc. immer einem GAV anschliessen müssen, der spezielle Kriterien erfüllen muss, damit die Institutionen eine kantonale Betriebsbewilligung erhalten.»

Hinschauen statt wegsehen?

Im Landrat Baselland sei man aber noch nicht so weit, dass man schon über konkrete Massnahmen zur Besserung der Arbeitsbedingungen für Pflegende sprechen könne. Simone Abt-Gassmann sitzt für die SP im Kantonsparlament und ist in der Gesundheitskommission. Sie versteht Danielas Frustration und ist auch der Meinung, dass sich etwas ändern müsse: «Es stimmt. Für das, was die Leute leisten, ist die Bezahlung nicht motivierend. Man kann nicht weitermachen wie bisher. Darum ist es meiner Meinung nach gerechtfertigt, dass wir uns in Zukunft überlegen müssen, wie wir dieses Problem lösen».

«Meine persönliche Meinung ist, dass bezüglich der tiefen Löhne das marktwirtschaftliche System des Angebots und Nachfrage spielen sollte.»

Christina Jeanneret, FDP-Landrätin

In Zukunft. Denn momentan steht die Debatte still. Das sei auch dem reduzierten Ratsbetrieb geschuldet, sagt sie. «Wir sind momentan noch nicht im Aufarbeitungsmodus», so Abt. Für sie ist aber bereits jetzt klar, dass die finanzielle Frage im Zentrum stehen wird: «Es ist nicht realistisch, dass Private die erhöhten Kosten tragen werden können.» Darum müsse man eine Lösung finden, um solche Leistungen abrechnen zu können und um das Versicherungsmodell anzupassen. «Wir brauchen eine Pflegeversicherung oder eine Ausweitung der Leistungen, die über die Krankenkasse abgerechnet werden können», sagt Abt.

Private in der Pflicht? 

Die Bürgerlichen sehen die Gesellschaft in der Verantwortung, um den Pflegenotstand zu bekämpfen. «Die Lohnfrage ist nur ein Teil des Problems», sagt FDP-Landrätin Christina Jeanneret. «Meine persönliche Meinung ist, dass bezüglich der tiefen Löhne das marktwirtschaftliche System des Angebots und Nachfrage spielen sollte.» Ein Eingreifen des Staates hält sie nicht für sinnvoll.

Ihr FDP-Ratskollege Sven Inäbnit sieht die einzelnen Institutionen in der Verantwortung. Bis dato sei das Thema aber auch in der FDP nicht konkreter behandelt worden. «Es ist ein systemisches Problem, das durch die Gesellschaft gelöst werden muss», sagt er. Wie Abt glaubt Inäbnit, dass momentan nicht der richtige Zeitpunkt sei. «Ich verstehe die Missmut der Pflegenden.» Dennoch sei die Situation nur mit langfristiger und nachhaltiger Optik zu lösen, sagt er. «Man sollte sich in der akuten Krisensituation nicht in überhasteten Aktivismus stürzen.» Aber auch für Inäbnit ist klar, dass das Thema Pflege für die Politik an Priorität gewonnen hat und in Zukunft neue Vorschläge ausgearbeitet werden müssen.

Aber auch für Inäbnit ist klar, dass das Thema Pflege für die Politik an Priorität gewonnen hat und in Zukunft neue Vorschläge ausgearbeitet werden müssen.

Obwohl schon vor Corona Pflegenotstand herrschte, hat es erst die Pandemie geschafft, die Problematik prominent ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Während jedoch in den Medien die untragbaren Arbeitsumstände für Pflegende an den Pranger gestellt werden, geschieht auf politischer Ebene weiterhin wenig bis nichts. National wie kantonal. Stattdessen wird die Problematik auf die lange Bank geschoben. 

Seltener Nachwuchs

Wie eine Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (OBSAN)  ergab, werden im Jahr 2030 in der Schweiz 65'000 zusätzliche Pflegende fehlen. Denn der Beruf hat einen schlechten Ruf. Unflexible Arbeitszeiten, hohe Belastung und mangelhafte Entlöhnung führen dazu, dass immer weniger Menschen sich dazu entscheiden, ihren beruflichen Weg in der Pflege zu gehen. 

Einer, den das umstrittene Image trotzdem nicht abgeschreckt hat, ist Fabio.

Fabio blinzelt müde in die Nachmittagssonne, seine Haare sind etwas zerzaust. «Ich bin noch nicht sehr lange wach», sagt er entschuldigend. Seitdem wegen des Corona-Virus der Notstand ausgerufen wurde, schiebt Fabio – wie viele andere Pfleger*innen – 12-Stunden-Schichten. Seine freien Tage verbringt er vor allem mit schlafen, sagt der Zwanzigjährige.

Es war, als wäre der Krieg ausgebrochen. Wir bereiteten uns auf das Schlimmste vor.»

Fabio, Pflegefachmann in Ausbildung (2. Semester)

Zurzeit ist Fabio in der höheren Fachschulausbildung zum Pflegefachmann. Erst letzten Herbst hat er sein Studium in Basel begonnen. Seine erste Praxiserfahrung sammelt er nun während eines Ausnahmezustandes. Denn Fabio hat in den vergangenen Wochen im Referenzspital Bruderholz gearbeitet und musste erleben, wie sein Arbeitsalltag innert kürzester Zeit umgekrempelt wurde. «Es war, als wäre der Krieg ausgebrochen. Wir bereiteten uns auf das Schlimmste vor.»

Was in solchen Fällen zu tun ist, darauf war Fabio nicht vorbereitet. «Den Stoff hatten wir nämlich in der Theorie noch gar nicht», sagt er. Aber als die Lage sich verschärfte, war man in den Spitälern um jede helfende Hand froh.

 «Unsere Arbeit sollte man jederzeit schätzen»

Aber nicht nur während Corona ist man froh um sie – um die Menschen, die sich dazu entschlossen haben, in die Pflege zu gehen. Um Nachwuchs, wie Fabio.

«Unseren Job nicht nur in Ausnahmesituationen schätzen.»

«Unseren Job nicht nur in Ausnahmesituationen schätzen.»

«Es fühlt sich etwas seltsam an. Wir werden in den letzten Wochen beklatscht, erhalten Geschenke. Manche haben mir geschrieben, um mir für meine Arbeit zu danken», sagt Fabio. Dabei habe er bloss seinen Job getan, sagt er. «Und die sollte man jederzeit schätzen. Nicht nur, in Ausnahmesituationen wie diesen.»

Jedes Jahr geben 2'400 Pflegende ihren Beruf auf

In seiner 20-köpfigen Klasse hätten im letzten Herbst drei Studierende bereits wieder abgebrochen, sagt Fabio. Die Studie des OBSAN ergab, dass jedes Jahr 2'400 Pflegende ihren Beruf aufgeben.

Dass der Personalmangel in der Pflege untragbare Zustände anzunehmen droht, ist keine Neuigkeit. Yvonne Ribi der SBK sagt: «Es ist längstens bekannt, dass die Arbeitsbedingungen verbessert werden müssen, die Berufsverweildauer tief ist. Die Zahlen und Argumente liegen seit Jahren auf dem Tisch.»

Im Jahr 2017 reichte der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachpersonen beim Bund die Pflege-Initiative ein. Vergangene Woche richtete der SBK seine Forderungen in einem offenen Brief an den Bundesrat mit dem Appell, diese sofort umzusetzen.

«Wir fordern Taten. Leere Worte haben wir genug gehört», steht fettgedruckt in dem Brief.

Zeitmangel, Stress, emotionale Erschöpfung

Die Pflegenden klagen schon zu lange über Zeitmangel, unzuverlässige Schichtplanung, Stress und daraus folgende emotionale Erschöpfung, ohne das auf politischer Ebene gehandelt wurde, sagt Ribi. Durch die Corona-Krise und den öffentlichen Fokus sei lediglich deutlicher geworden, dass die Pflege systemrelevant ist. «Die vielen Klatschaktionen zeigen, die Bevölkerung steht hinter der Pflege und will, dass sich etwas verändert», sagt Ribi. Darum sei jetzt der richtige Zeitpunkt, den Politiker*innen die Forderungen nachhaltig in Erinnerung zu rufen.

Es sei das Mindeste, dass man Pflegende für ihre ausserordentlichen Leistungen mit einem Corona-Bonus belohne, sagt Ribi. Langfristig wolle man aber mit Hilfe der Pflege-Initiative dafür sorgen, dass der Beruf aufgewertet wird.

Das kann aber noch einige Jahre dauern. Denn dafür müssten die Parlamente den Notruf der SBK erhören und ihre Verantwortung, die Anliegen politisch voranzubringen, wahrnehmen.

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