Warum Staatsfeind*innen schon wieder eine Institution unweit von Basel belagern
Nachdem Staatsverweigerer*innen und Massnahmengegner*innen wochenlang die Kinderschutzbehörde (KESB) in Sissach belagerten, steht nun ein Kinderheim im Schwarzbubenland in ihrem Fokus. Was steckt hinter der Gruppierung? Eine Spurensuche zwischen Verschwörungsglaube und Radikalisierung.
Vor einem Wohnheim für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Einschränkungen versammelt sich seit Anfang des Jahres eine kleine Gruppe Staatsverweigerer*innen zu einer Mahnwache. Es ist kalt und neblig, unter einem mitgebrachten Beizenschirm suchen sie Schutz vor der Witterung.
Regelmässig wird sich hier versammelt, teilweise täglich. Sie halten ein Plakat mit der Forderung «Freiheit für Lisa». Eine Kerze brennt. Für Lisa, die eigentlich anders heisst. «Ich wurde von der KESB entführt», heisst es auf einem Flyer, der Lisa von hinten zeigt. Der Flyer wird an Eltern verteilt, die ihre Kinder zur Schule bringen. Und an Kinder. «Morgen könntest du und deine Familie betroffen sein», steht auf dem Flugblatt.
* Lotta Maier ist ein Pseudonym. Ihren bürgerlichen Namen gibt die Autorin aus Sicherheitsgründen nicht preis. Lotta recherchiert seit Jahren zu den Themen Rechtsextremismus, Esoterik und Staatsverweigerung.
Die Geschichte von Lisa begann sich bereits vor über einem Jahr, in einem Staatsverweigerer*innen-Chat zuzuspitzen. Der geheime Chat liegt Bajour vor. Eine Frau möchte einen Aufruf starten, um ein Kind zu unterstützen. Es werde gegen seinen Willen «gefangen gehalten». Schnell formiert sich ein «Unterstützungskomitee» um Lisa und ihre Mutter, die auch in diesem Chat aktiv ist. Das Kind soll aus der «Gefangenschaft» – also der behördlich angeordneten Heimplatzierung – «befreit» werden. Diese Gruppe verfügt offenbar über Erfahrung und tauscht sich über Taktiken aus, wie die zuständige KESB eingeschüchtert werden könnte. «Wir müssen sie mit eingeschriebenen Briefen bombardieren», schreibt ein Chat-Mitglied.
Das gleiche Mitglied verfasst einen Brief an die KESB, der sich wie ein Drohschreiben liest. «Selbst wenn sie sich in der Schweiz sicher fühlen», ist zu lesen, hätten sie gegen Menschenrechte verstossen, lautet die Anschuldigung. Die KESB-Mitarbeitenden würden deswegen vor ein Gericht im Ausland gestellt. Naheliegend ist, dass damit ein Fantasiegericht von Reichsbürger*innen im Ausland gemeint ist.
Naheliegend ist das, weil dieses Mitglied, die diesen bedrohlich wirkenden Brief in die Gruppe postet, «Delegierte» einer internationalen Reichsbürger*innen-Organisation mit Fantasie-UNO ist, die ihren Mitgliedern eigene Ausweise ausstellt, die sie von den staatlichen Gesetzen befreien sollen. Pikantes Detail: Gemäss Recherchen von Bajour kandidierte dieses Mitglied 2022 für die SVP zur Grossratswahl im Kanton Graubünden.
Die KESB, so wird geglaubt, arbeite dieser Elite zu und «klaue» ganz legal Kinder zu diesem Zwecke. Der Glaube an diese Verschwörung ist gross – besonders im Raum Basel.
Die Aufrufe für Lisa verbreiten sich auf Telegram in Chats, die zum Beispiel «KESB Genozid Schweiz» oder «Kinderschänderagenda KESB» heissen. Auch Lisas Mutter ist in diesen Kanälen aktiv. Die Kanäle drehen sich um die Qanon-Verschwörungstheorie. Deren Anhänger glauben, dass Kinder in unterirdischen Folter-Tunnelsystemen, sogenannten DUMBS (Deep Underground Military Bases), satanisch missbraucht werden. Die angeblichen Täter*innen sind ranghohe Politiker*innen und einflussreiche Personen. Die KESB, so wird geglaubt, arbeite dieser Elite zu und «klaue» ganz legal Kinder zu diesem Zwecke. Der Glaube an diese Verschwörung ist gross – besonders im Raum Basel, da hier viele DUMBS vermutet werden.
Im Kanton Solothurn sorgten zwei weitere Fälle vor zwei Jahren für mediale Aufmerksamkeit. Der Fall Nathalie und der Fall Noah – zwei Kinder, die Opfer dieser Verschwörungstheorie wurden. Im Fall Noah führte dies dazu, dass die eigene Mutter das Kind gemeinsam mit Mitgliedern der mutmasslich terroristischen Reichsbürger*innen-Organisation «Patriotische Union» nach Deutschland entführte. An der Entführung beteiligt soll auch Nathalies Mutter gewesen sein. Diese glaubt bis heute, dass ihre Tochter Opfer der satanistischen Elite wurde, obwohl es dafür ausser den Aussagen ihres Kindes keine Beweise gibt. Mehrere psychiatrische Gutachten sind eindeutig darin, dass dem Kind der Missbrauch eingeredet wurde. Das Urteil gegen die beiden Frauen wegen der Entführung steht aus, es gilt die Unschuldsvermutung.
Im Fall Lisa wird anders vorgegangen, «durch Öffentlichkeitsarbeit und versierte juristische Schritte» soll eine «Befreiung» des Kindes erzielt werden, so ist es im Zweck des Chats «Freiheit für Lisa» vermerkt. «Nachdem wir in Sissach ein klares Zeichen setzen konnten», ist in den Kanälen der Staatsverweigerer*innen zu lesen, «braucht nun Lisa unsere Hilfe». Aus Ressourcengründen seien kleine und gezielte Aktionen geplant, nicht wie bei der Mahnwache in Sissach. Dort fanden grössere Demonstrationen statt, denen sich auch Freiheitstrychler*innen und Mitglieder der Jungen Tat anschlossen und durch Exponent*innen wie Nicolas Rimoldi (Massvoll), Sarah Regez (SVP) oder Laura Grazioli (ehem. Grüne) unterstützt wurden.
Im vergangenen Herbst belagerten Staatsverweigerer*innen, Coronaleugner*innen und Rechtsextreme wie Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Junge Tat die KESB in Sissach nicht nur mit Protesten, sondern hielten dort eine 40-tägige Mahnwache ab und campierten vor dem Gebäude der Behörde. Ihr Ziel war es, einen Bundesgerichtsentscheid zu einer Masern-Impfung zweier Kinder zu verhindern. Da sich die Eltern nicht einigen konnten, entschied schliesslich das Bundesgericht, dass die Kinder geimpft werden sollten.
Das Ergebnis der Mahnwache: Die Behörden ruderten zurück, und die Impfung wurde nicht durchgeführt. Auch in diesem Fall wurden Fotos und Videos der Kinder über Kanäle des Messenger-Dienstes Telegram verbreitet, wie auch von Lisa und anderen Jugendlichen in ihrer Einrichtung.
Die geheimen Chatverläufe gewähren Einblick in die Organisation dieser Kreise und ihre Vorgehensweise. Eine klare Anweisung lautet: «Gebt die Informationen nur an vertrauenswürdige Personen weiter.» Ein Chat mit über 200 Mitgliedern organisiert sich schweizweit. Zur Mahnwache vor dem Kinderheim, reist man gar aus der Ostschweiz an.
Per Umfrage-Clicks bilden sich Aktionsgruppen, etwa um regelmässig bei der Heimleitung vorbeizugehen und unangenehme Fragen zu stellen. Wie auch in Sissach werden hier Telefonnummern und Anschriften von Verantwortlichen des Kinderheims und der KESB geteilt. Die Organisation ist klar und hierarchisch strukturiert, es scheint nicht die erste derart geplante Aktion zu sein. Der «Owner» des Kanals auf Telegram ist ein gewisser «Wolf», aktiv bei den Freiheitstrychler*innen. Ein anderer Admin ist auch in der Szene des «Königreichs Deutschland» bekannt und organisierte Treffen von dieser Reichsbürger*innen-Gruppe, vor der der deutsche Verfassungsschutz als extremistische Gruppe warnt.
Der KESB wird nicht nur gedroht, es wird ihr auch eine Frist gesetzt, bis wann die Jugendliche Lisa wieder bei ihrer Mutter sein soll. Auf Nachfrage antwortet die Betroffene KESB, dass «Drohungen jeglicher Art» zur Anzeige gebracht werden, wenn sie strafrechtlich relevant sein sollten. Die Chats verstummten, und die Diskussion um Lisa verebbte vorerst. Die Ruhe endete Anfang dieses Jahres. Kurz danach begannen die Mahnwachen.
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