Pfarrer Frei: «In jeder WG gibt es Streit»
Jetzt erklären einige Medien die Solidarität für ukrainische Geflüchtete als beendet. Integrationspfarrer Daniel Frei stört das. Schliesslich weiss jede*r Studi: Es gibt nichts Normaleres als Konflikte in Wohngemeinschaften.
Irgendeinmal mussten Schlagzeilen wie diese kommen: «Viele Gastfamilien sind ermüdet», titelte SRF. Und die Sonntagszeitung schreibt sogar von der «Grenze der Solidarität: Probleme mit ukrainischen Flüchtlingen in privaten Haushalten häufen sich». Danach folgen mehrere Szenen von Konflikten zwischen Gastfamilien und Ukrainer*innen.
Nachdem sich die Schweizer Medien am Anfang des Invasionskriegs in der Ukraine nicht genug über die Schweizer Hilfsbereitschaft freuen konnten, kommen jetzt die Solidarität-am-Ende-Storys. Und sie werden aus einer Perspektive erzählt: Aus Sicht der Schweiz. Aus Sicht von Familien, deren Gäste sich nicht an die Regeln halten. Aus Sicht der Behörden, die nun Geflüchtete umplatzieren müssen.
So sagt Gundekar Giebel, Sprecher der Berner Sozialdirektion, der Sonntagszeitung: «Es ist klar, dass das Konzept Gastfamilie auf die Länge oft nicht funktioniert.» Unterschiedliche Lebensweisen und kulturelle Missverständnisse können laut Giebel «über einen längeren Zeitraum für beide Seiten belastend sein». Immer häufiger beobachte man, dass sich Gastgeber und Flüchtlinge trennten. Auch in Basel-Stadt gab es laut Sozialhilfe einzelne solche Fälle.
Willkommenskultur?
Daniel Frei stört diese Diskussion. Er leitet das reformierte Pfarramt für weltweite Kirche beider Basel und koordiniert für die Kirchgemeinden beider Basel die Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine. Er beobachtet: «Jetzt passiert uns genau dasselbe wie während der Flüchtlingskrise 2015.» Anfangs feierten alle die Willkommenskultur und waren dann rasch frustriert, als die ersten Probleme auftauchten.
Der Pfarrer wünscht sich ein bisschen mehr Gelassenheit und Vertrauen in der Gastfamiliendiskussion: «Natürlich gibt es Konflikte, das ist doch normal», sagt er. «In jeder WG gibt es Streit.» Der Unterschied: Dort legt man die Hausregeln gemeinsam fest und spricht dieselbe Sprache. Hier ist es von der Ausgangslage her die Gastfamilie, die bestimmt. Und häufig können sie sich aufgrund der unterschiedlichen Muttersprachen schlecht mit ihren Gästen verständigen: «Das macht den Umgang noch schwieriger.»
Bisher wurden dem Kanton Basel-Stadt knapp 1600 Ukrainer*innen zugewiesen. 1300 leben bei Gastfamilien, 300 in den Strukturen der Sozialhilfe, d.h. in eigenen Wohnungen, wie Rudolf Illes, Leiter Sozialhilfe, auf Anfrage schreibt. Die Basler Behörden arbeiten mit GGG/Benevol, dem Kompetenzzentrum für Freiwilligenarbeit, zusammen. Aktuell werden von GGG/Benevol rund 400 Gastverhältnisse betreut mit ca. 900 Ukrainerinnen und Ukrainern.
Trotzdem sieht Frei das Konzept der Gastfamilien nicht als gescheitert. Im Gegenteil: «Für die Integration von Geflüchteten ist eine Gastfamilie das allerbeste», sagt er. Denn durch den Kontakt mit Einheimischen üben sie Deutsch, lernen das Schulsystem kennen, wissen, was wo läuft und wie Basel tickt.
Dabei seien die ersten Monate für die Integration entscheidend: «Wenn die Geflüchteten hier ankommen, sind sie motiviert und wünschen sich Kontakt zur Bevölkerung. Das muss man nützen.» Alleine schaffen sie es aber nicht. Eigentlich gäbe es zahlreiche Integrationsangebote in Basel-Stadt. Doch eine Umfrage der Basler Stadtentwicklung zum Potenzial von Migrationskirchen unter 120 Personen kam zum Schluss: Ausländer*innen wissen zu wenig davon. Frei sagt: «Den Staatsangestellten fehlt häufig das Know-How, sie kommen nicht an die Communitys heran.» Ausserdem seien die verschiedenen Integrationsangebote häufig zu wenig vernetzt.
Gastfamilien können den Geflüchteten helfen, sich einen Überblick zu verschaffen. Daniel Frei hat das selbst erlebt, er hat Ukrainer*innen aufgenommen. Aber nicht allein: «Ich sage schon lange: Um einen Geflüchteten zu betreuen, braucht es ein ganzes Dorf.» Frei hat sich deshalb mit Menschen aus seiner Hausgemeinschaft zusammengetan. Zusammen helfen sie einer Familie, organisierten ihnen eine Bleibe in einem Hotel, das der Basler Mission gehört, vermitteln Deutschkurse, helfen bei den Behördengängen und laden sie zum Znacht ein. «Alleine wäre man überfordert, aber zusammen funktioniert das gut», sagt Frei. Auch, weil die Geflüchteten eine eigene Unterkunft haben.
Hab Vertrauen
Pfarrer Frei wünscht sich mehr Vertrauen in die Gastfamilien: «Bei den meisten klappt es gut, die wissen, worauf sie sich einlassen.» Aber eins ist für ihn klar: «Bei Gastfamilien ist es wie bei WGs: Irgendwann wollen die meisten Bewohner*innen selbstständig wohnen.» Das macht aber nichts: «Wenn die Geflüchteten nach drei Monaten weiterziehen, haben sie schon ein Netzwerk mit Basler*innen geknüpft. Dann ist der erste und wichtigste Schritt für die Integration getan.»
Wenn Gastfamilien allenfalls mehr Support brauchen, um ihre enorme Integrationsleistung zu erbringen, sollte man sich überlegen, wie man sie besser unterstützen kann. In Basel-Stadt klappt das bereits, so Frei: Wer eine Wohnung anbietet, wird von der GGG Benevol kontaktiert. Diese begutachtet die Wohnung und begleitet die Gastfamilie. «Das ist sehr gut.» Andere Kantone könnten von Basel lernen.
Bei den Basler Behörden unterstreicht man ebenfalls die integrative Funktion von Gastfamilien. Aber auch die Einstellung der Geflüchteten selbst sei wichtig, gibt die kantonale Asylkoordinatorin Renata Gäumann zu bedenken: Viele Schutzsuchende aus der Ukraine würden von einem vorübergehenden Aufenthalt in der Schweiz ausgehen (wie auch ihr Aufenthaltsstatus ‘vorübergehender Schutz’ suggeriert). «Sie sind innerlich ihrer Heimat zugewandt und hoffen auf eine baldige Rückkehr», sagt Gäumann. Aber: «Nachhaltige Integration ist erfahrungsgemäss erst möglich, wenn für die Betroffenen klar ist, dass ein Leben in der Schweiz die realistischere Lebensperspektive darstellt als eine baldige Rückkehr.»
Zum von Frei kritisierten fehlenden Draht der Staatsangestellten zu Migrationscommunities sagt Gäumann: «Von 1'600 Ukrainer*innen in Basel-Stadt sind unterdessen 1'540 Personen bei der Sozialhilfe erfasst. Sie sind informiert, dass die Beratungsteams der Sozialhilfe und namentlich die «Fachstelle Arbeitsintegration für Personen mit Aufenthaltsstatus F/B/S» sie in ihrem Integrationsprozess unterstützten.» Die Sprachkurse seien kostenlos.
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