Was steckt hinter dem Begriff «Kulturelle Aneignung»?
Die Schweiz diskutierte ein Sommerloch lang erhitzt über kulturelle Aneignung. Unsere Kolleg*innen bei der WOZ fragen sich, was dieser Begriff eigentlich bedeutet und inwiefern das Konzept taugt.
Dieser Artikel ist am 04.08.2022 zuerst der bei Die Wochenzeitung erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
Müsste man diese Sommergeschichte erfinden, einen passenderen Namen als «Lauwarm» gäbe es kaum für die Band. Lauwarm, im Sinn von gemütlich, schunkelt deren Mundartreggae dahin: «Sunne im Himmel, es Problem. Blätter im Garte, Problem. Schnee uf de Strasse, es Problem» heisst es in einem ihrer Songs. Nicht weniger lauwarm, im Sinn von unentschieden, war der Entscheid der Brasserie Lorraine in Bern, die Band zuerst für ein Sommerkonzert auf die Bühne zu bitten und dieses dann nach dem ersten Set abzubrechen. Mehrere Gäste im Publikum hätten ihr Unwohlsein wegen kultureller Aneignung geäussert, so begründet das Kollektiv den Abbruch.
«Der Entscheid fiel in gegenseitigem Einvernehmen», erzählt Lauwarm-Sänger Dominik Plumettaz der WOZ. «Schliesslich fühlten wir uns nach der Kritik auch nicht mehr willkommen.» Kritisiert worden sei unter anderem, dass zwei weisse Musiker der Band Dreadlocks trugen. Anwesend waren an jenem Montagabend in der Gartenbeiz nur vierzig Personen. Man könnte also von einer Lokalposse im wahrsten Sinn des Wortes reden. Als aber das Lokal ein Statement auf Facebook und Instagram veröffentlichte, brach ein Sturm der Entrüstung los.
«Superwoke erzwingen Konzertabbruch in Bern», titelte «20 Minuten». «Erstmals Streit um ‹kulturelle Aneignung› in der Schweiz», hiess es im «Tages-Anzeiger». Es dauerte nicht lange, da war Lauwarm in Deutschland berühmt, «Spiegel», «Stern» und viele mehr berichteten. Nur die NZZ, die in gefühlt Hunderten Feuilletonartikeln vor dem Gespenst namens Cancel Culture gewarnt hatte, verschlief den grossen Tag. In den sozialen Medien überschlugen sich die Kommentare. Mal empört über eine linke Verbotskultur, mal belustigt über das Thema der kulturellen Aneignung: Ob jetzt alle in der Schweiz jodeln müssten? Ob man noch Pasta essen dürfe? Wie immer besorgt, hielt der Dichter und Denker Jürg Halter eine seiner handgeschriebenen Zuckersack-Weisheiten ins Facebook: «Kultur ist Aneignung. Hilfe! Lasst uns also die Kultur verbieten!!»
Doch so inflationär der Begriff der kulturellen Aneignung plötzlich verwendet wurde, so selten wurde gefragt, woher er kommt.
Alles ausser die Last.
Eine der ersten Auseinandersetzungen stammt vom britischen Kunstprofessor Kenneth Coutts-Smith aus dem Jahr 1976. Vor dem Hintergrund der Dekolonisierung beschrieb er das europäische Streben, sich die Kulturen der Welt zu eigen zu machen, um selbst als deren höchste Verkörperung zu erscheinen. Später wurde der Begriff der Cultural Appropriation von der Kunst auf die Musik- und Modeindustrie ausgedehnt. In seinem Buch «Everything but the Burden» beschrieb der Musikkritiker Greg Tate 2003, wie sich weisse Musiker:innen am Sound von Schwarzen bedienten und damit zu Erfolg und Reichtum gelangten. Wie es im Buchtitel treffend heisst, übernahmen sie alles – ausser die Last der Unterdrückung.
«Entscheidend ist, dass die Kritik an kultureller Aneignung nur als Kapitalismuskritik Sinn ergibt», sagt die Historikerin Jovita dos Santos Pinto, die zu postkolonialen Öffentlichkeiten forscht, im Gespräch mit der WOZ. Ausgehend vom marxistischen Begriff der Ware beschreibt das Konzept, wie kulturelle Ausdrucksformen in Produkte verwandelt und kommerzialisiert werden. Als besonders gewinnträchtig hat sich dabei die Kultur von Minderheiten mit ihrem Flair des «Exotischen» erwiesen. Vom kolonialen Kunstraub bis zur heutigen Konsumkultur zeigt sich dabei die enge Verbindung zwischen Kapitalismus und Rassismus.
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Es geht also nicht darum, die Binsenweisheit infrage zu stellen, dass Kultur immer in einem Austausch entstehe, sondern darum, die Machtverhältnisse in diesem Austausch zu kritisieren. Besonders gut lässt sich dies an einem Beispiel aus der Schweiz beschreiben, das in der aktuellen Diskussion die Runde macht: Alle erzählen jetzt, dass die Schweizer Volksmusik von den Jenischen stammt. Dahinter verschwindet aber eine Geschichte der Verfolgung: Die Jenischen befanden sich im 20. Jahrhundert auf der Flucht, weil ihnen die Pro Juventute rassistisch begründet die Kinder raubte (siehe WOZ Nr. 17/21). Mit ihrem Auftritt als Schweizer Volksmusikant:innen konnten sich die Jenischen ein Stück weit schützen – angesichts ihrer prekären Situation konnte ihre Musik aber auch leicht von der Mehrheitsgesellschaft angeeignet werden.
Kein Anschluss nach rechts
Eine lesenswerte Einführung zum Thema hat 2021 der deutsche Sozialwissenschaftler Lars Distelhorst unter dem Titel «Kulturelle Aneignung» veröffentlicht. Er geht neben der erwähnten Begriffsgeschichte auch auf den oft von Linken geäusserten Vorwurf ein, das Konzept essenzialisiere die Kultur: Es konstruiere Kulturen als feste, abgeschlossene Einheiten und sei damit anschlussfähig an nationalistische Konzepte. Distelhorst verweist darauf, dass in Kämpfen um Emanzipation zur Beschreibung eines Problems ständig Kategorien verwendet werden müssen, die gleichzeitig überwunden werden wollen.
Damit ein statisches Kulturverständnis trotzdem vermieden werden kann, schlägt er eine Definition der Cultural Appropriation vor, in deren Zentrum die Kämpfe um politische Hegemonie stehen. Beim Vorgang der kulturellen Aneignung machten sich demnach Mitglieder der Dominanzkultur die Symbole der um Emanzipation kämpfenden Gruppen zu eigen, um diese in Konsumartikel zu verwandeln. Dadurch werden sie für die politische Repräsentation unbrauchbar gemacht. Das klingt abstrakt – wird aber konkret, wenn es um die viel diskutierten Dreadlocks geht. Schliesslich sind die Haare in der Geschichte des Rassismus alles andere als eine Nebensache.
Den versklavten Menschen wurde die Haarpflege verboten oder ihnen wurden die Haare abgeschnitten. Ihr krauses Haar galt als schmutzig und unhygienisch und wurde so zu einem Symbol für ihre angebliche Unzivilisiertheit. Um den weissen Schönheitsidealen zu entsprechen, glätteten sich Schwarze im 20. Jahrhundert in schmerzhaften Prozeduren das Haar. Im Zug der Black-Power-Bewegung der Sechziger begannen manche, Rastas und Dreadlocks selbstbewusst als Zeichen des Widerstands zu tragen. Ob man sich dieses Symbol nun als weisse Person aneignet oder nicht, bleibt eine individuelle Entscheidung – doch passiert sie eben vor einer weit grösseren Geschichte.
Empörung als Angriff
Das ist denn auch der entscheidende Punkt bei der Frage nach der Nützlichkeit des Konzepts der kulturellen Aneignung: Es gibt keine Checklisten, mit denen besonders Eifrige vor dem Konzertlokal prüfen können, ob bei einer Band nun der Grad der Kommerzialisierung erreicht sei oder ob man sich gar selbst vom Rassismus freisprechen könnte. «Ein solcher Ansatz würde den Rassismus individualisieren und privatisieren. Vielmehr geht es darum, anhand von Beispielen wie den Dreadlocks nach den strukturellen Ursachen von Rassismus zu fragen», sagt Historikerin Jovita dos Santos Pinto.
Gehört werden sollten dabei auf jeden Fall die Stimmen der Betroffenen. Denn bei ihrem Unbehagen und Verletzungen müsse die Beschäftigung mit Rassismus ansetzen. «Im Fall der Brasserie Lorraine wurde das ernst genommen.» Darin liegt wohl auch die Provokation, die zur Empörung führte. Die Mehrheitsgesellschaft will es sich nicht bieten lassen, dass sie die Definitionsmacht darüber verliert, was Rassismus bedeutet. «Oder um noch einen Schritt weiterzugehen: Die Empörungsspirale hat den Effekt, antirassistische Arbeit zu delegitimieren, lächerlich zu machen und sie zu zerstören», sagt dos Santos Pinto. «Diese Empörung ist auch deshalb so wirkmächtig, weil in der Schweiz Rassismus kaum je als politisches Thema aufgegriffen wird.»
Von der Brasserie Lorraine, die ihre Gäste ernst genommen hat, und von einer Band, die sich nicht zum Opfer von Zensur stilisieren liess, kann man aus dem Vorfall also etwas lernen: Sie haben das getan, womit antirassistische Arbeit noch immer beginnt. Sie haben zugehört. Trotzdem würde sich in Kulturlokalen die Diskussion lohnen, ob man mit Kritik an kultureller Aneignung geschickter umgehen kann als mit einem Konzertabbruch, der erwartungsgemäss von den Rechten skandalisiert wird. Schliesslich gehört es auch zur Subkultur, Erwartungen zu unterlaufen.
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