«Auftreten ist einfacher als kochen und zugleich aufs Kind aufpassen»

Der Satiriker, Filmproduzent und KI-Dozent Patrick Karpiczenko hat ADHS. Das hat ihn lange Zeit nicht gross eingeschränkt. Bis er Vater wurde.

Patrick Karpiczenko, Karpi, Freischaffender Autor und Regisseur fuer Film, Fernsehen, Theater und Werbung im Interview mit der Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Ausnahmesituationen mag Karpi lieber als Routinen – Kindern hilft aber Struktur. (Bild: Christine Strub)

Patrick Karpiczenko, von allen Karpi genannt, entspricht nicht dem ADHS-Klischee. Weder quatscht er ohne Ende, noch sitzt er unruhig da oder braucht lange, bis er zurückschreibt. Er ist das pure Gegenteil. Seine Erzählungen sind stringent, er schweift nicht ab und wirkt voll entspannt – obwohl er gerade von einem ganzen Tag Unterrichten kommt. 

Der Eindruck täuscht. Bei der Einschulung wurde bei Karpi ADHS diagnostiziert. Das sei noch vor der «Ritalin-Zeit» gewesen. Er spürte kaum Konsequenzen: Zwar absolvierte er die erste Klasse in zwei Jahren, danach sei die Diagnose aber vergessen gegangen. Er führt das auf verständnisvolle Eltern und relativen Wohlstand zurück. Und darauf, dass Buben mit ADHS in der Gesellschaft akzeptierter seien als Mädchen. Weil der nervöse ADHS-Junge ein Klischee sei, das man kenne. Im Gegensatz zur Ausprägung bei Mädchen, die sich oft anders zeige. «Und ich habe mich in der Schule immer gut herausreden können», sagt Karpi.

Später blieb er an keinem Arbeitsort länger als zwei Jahre und machte sich früh selbstständig. So konnte er nach dem Rhythmus leben, der ihm sein ADHS diktierte.

Patrick Karpiczenko, Karpi, Freischaffender Autor und Regisseur fuer Film, Fernsehen, Theater und Werbung im Interview mit der Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Über die Person

Der gebürtige Jegenstorfer Patrick Karpiczenko, besser bekannt als Karpi, ist Satiriker, Filmproduzent und KI-Dozent. Sein mit KI erstellter und furchteinflössender Heidi-Trailer ging 2023 viral. Er war bis 2020 Teil des Satireformats Deville im Schweizer Fernsehen und ist zurzeit bei KI-Themen medial sehr gefragt. 

Karpi thematisiert sein ADHS in seinem Umfeld, auf Social Media und überall, wo er auftritt. Darüber zu reden helfe ihm – und Menschen im Publikum melden zurück, dass es auch ihnen helfe.

ADHS steht für Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität. Die Störung ist vorwiegend genetisch bedingt, das Gehirn verarbeitet Informationen anders als das Gehirn von Menschen ohne ADHS. Das zeigt sich unter anderem durch die drei Kernsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität.

Heute geht Karpi nicht mehr ohne ADHS-Medikament aus dem Haus. Der Grund dafür ist vor drei Jahren geboren: Seine Tochter. 

Vater mit ADHS

Kinder stellen das eigene Leben auf den Kopf. Das würden die meisten Eltern bestätigen. So geht es auch Karpi und seiner Partnerin, der Regisseurin Natascha Beller. Die ADHS-Symptome des Satirikers haben sich mit der Geburt seiner Tochter verstärkt. 

Das zeigt sich in verschiedenen Lebensbereichen. Er kann nicht mehr seinem eigenen Rhythmus nachgehen, kann sich keine Auszeit nehmen, wenn er sie braucht. «Wenn es früher nicht mehr ging, bin ich einfach in einen anderen Raum gegangen und habe eine Stunde lang die Tapeten angeschaut.» Mit einem kleinen Kind könne er das nicht machen. «Da musst du schauen, dass der kleine Mensch nicht kaputt geht – und leidest selber.»

Bald wurde der Leidensdruck zu hoch. Karpi holte sich Hilfe bei einem Therapeuten und erhielt bald darauf ein ADHS-Medikament – Ritalin. Das nimmt er, wenn er mit Menschen zu tun hat – also quasi immer. 

Nebenwirkungen habe er davon kaum. Er plappere etwas mehr und es zügle seine Appetit, sagt er. 

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Zum Projekt


Gemeinsam mit unseren Partnermedien Bajour und Tsüri widmen wir uns diese Woche dem Thema ADHS, da die Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen zunehmen. Es wird zwar mehr und transparenter darüber gesprochen als früher, dennoch bleibt Neurodiversität für viele ein Tabuthema. Drei Persönlichkeiten haben mit uns über ihre Diagnose gesprochen und darüber, wie diese ihr Leben verändert hat. Was bedeutet ADHS im Beruf und was im Privaten? Daniel Graf, Patrick Karpiczenko, von allen Karpi genannt, und Kafi Freitag geben Auskunft. Wir haben die drei zu einem Austausch am Mittwoch, 11. September, eingeladen. Hast du auch Fragen an Sie? Dann maile uns gerne.

«Es wirkt wie eine Mischung aus Kaffee und Kokain», sagt er, obwohl er selbst nie Kokain probiert habe. Er werde zwar ruhiger, aber gleichzeitig aufgedrehter – was nicht immer einfach zu handhaben sei. Die wichtigere Wirkung für Karpi ist aber eine andere: «Es macht alles weniger schlimm.» Zum Beispiel Buchhaltung. Oder Steuern. Beides werde einfacher. Erträglicher.

Rückblickend wünscht er sich, dass er bereits als Kind das ADHS-Medikament Ritalin erhalten hätte. Seine Schulzeit sei sehr hart gewesen. Still auf dem Stuhl sitzen oder Französisch lernen. «Mit Medis hätte ich eine angenehmere Kindheit gehabt.»

«Ich brauche Jokes»

Für Karpi ist klar: Wenn er wählen könnte, hätte er lieber kein ADHS. «Man tendiert dazu, ADHS zu glorifizieren», findet der Komiker. Weil Milliardär*innen, Wissenschaftler*innen oder andere bekannte Menschen ADHS hätten. Bei sich sieht er kaum Vorteile – und wenn, seien sie nicht kontrollierbar. 

Obwohl auch er einräumt, dass er wohl wegen seines ADHS überhaupt erst Komiker, Filmproduzent und KI-Experte geworden sei. «Mein ADHS hat mich gezwungen, etwas zu arbeiten, das ich gern mache.» Weil er ohne eine Leidenschaft stundenlang vor etwas sitze, ohne vorwärts zu kommen.

Patrick Karpiczenko, Karpi, Freischaffender Autor und Regisseur fuer Film, Fernsehen, Theater und Werbung im Interview mit der Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Wenn er sich zuerst belohnt, surft Karpi auf der Dopaminwelle und füllt die Steuererklärung mühelos aus. (Bild: Christine Strub)

In Karpis Fall ist das zum Beispiel auch ein zwingendes Bedürfnis nach Jokes. «Der Alltag ist langweilig. Und Langeweile versetzt einen in einen Dopaminsturz.» Das sei für einen Menschen mit ADHS so schlimm, dass er eine Strategie brauche, um wieder Dopamin (ein Hormon, das für die Ausschüttung von Glücksgefühlen verantwortlich ist) auszuschütten – in Karpis Fall: sich lustige Dinge ausdenken. 

Zuerst das Vergnügen und dann die Arbeit

Bevor er Medikamente genommen hat, musste Karpi sich selbst überlisten, um lästige Aufgaben wie die Steuererklärung in Angriff zu nehmen. Zum Beispiel begann er, sich für die Geschichte der Bürokratie und der Steuererhebung zu interessieren. Als er den Sinn dahinter verstanden hatte, fand er es auch weniger schlimm, die Steuererklärung auszufüllen. 

Eine andere Strategie habe er – leider – erst vor kurzem gelernt: Sich zuerst belohnen und danach die Arbeit machen: «Wenn ich zuerst eine halbe Stunde eine Serie schaue, bin ich quietschvergnügt, mein Dopaminlevel ist hoch. Danach rausche ich nur so durch die Steuererklärung.»

Das durchzuziehen sei aber schwierig. Auch weil es vom Umfeld missverstanden werden könne.  

Routinen oder Abenteuer

Eine weitere Strategie, um mit ADHS besser umgehen zu können, ist für Karpi, dass er Dinge dann tut, wenn er Lust darauf hat. «Wenn ich um zwei Uhr morgens das Gefühl habe, ich könnte jetzt die Steuern machen, dann mache ich das.» Zu diesem Zeitpunkt sei er effizient und sitze nicht fünf Stunden tatenlos am Tisch.

Patrick Karpiczenko, Karpi, Freischaffender Autor und Regisseur fuer Film, Fernsehen, Theater und Werbung im Interview mit der Hauptstadt. Bild: Christine Strub, ©christinestrub.ch
Multitasking mit Kind ist für den Satiriker unmöglich. (Bild: Christine Strub)

So ein Leben sei ohne Kind einfacher gewesen. Das Kind diktiere jetzt den Alltag. Für seine Tochter seien Routinen «durchaus etwas Angenehmes». Für Karpi aber nicht: «Routinen sind für mich soul crushing», sagt er und erklärt: Ausnahmesituationen seien für Menschen mit ADHS angenehmer als Routinen.  

Kein Multitasking mit Kind

«Ich habe Eltern gesehen, die auch etwas anderes machen konnten, während sie mit dem Kind waren.» Lesen, telefonieren, kochen. Er könne das nicht. Etwas kochen und gleichzeitig auf die Tochter schauen, kommt für Karpi einem Hochleistungssport gleich. «Ein Fernsehauftritt ist einfacher.»

Zwar sei es für die Tochter schön, einen Vater zu haben, der zu hundert Prozent da ist. Aber für ihn sei es sehr anstrengend. Es könne passieren, dass die Tochter am Schluss bei der Mutter lande, weil er nach einem Tag mit Kind so kaputt sei. «Meine Partnerin muss dann alles auffangen – und das ist blöd.»

Karpi denkt, dass auch seine Dreijährige ADHS haben könnte  – er will aber keine Vordiagnose machen. 

Falls sie es hätte, sieht Karpi doch einen Vorteil darin, dass er auch betroffen ist: Er versteht, was bei ihr abläuft. So könnte er ihr helfen, wenn sie älter ist. 

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Kommentare

Sonja
10. September 2024 um 08:39

Danke

Ein sehr schöner Beitrag. Vielen Dank dafür!

bADHSler
10. September 2024 um 09:28

Kind + undiagnostiziertes ADHS = (potenzielles) Burnout

Vielen Dank für dieses Portrait und die Serie! Ich sehe sehr viele Parallelen zu meinem eigenen Leben. Ich hatte keine Mühe mit Schule und Studium, weil ich nur mir selbst gegenüber Verantwortung hatte. Mit der Geburt meines ersten Kindes, hat sich (wie bei allen) vieles verändert: - Positiv: plötzlich sind die Prioritäten klar und man kriegt viele schöne Momente zurück. - Negativ: man verliert die Kontrolle über das (meist eh schon schwierige) Zeitmanagment und läuft immer wieder in Überforderungssituationen, weil auch die (lebens)notwendigen Pausen fehlen. Mittlerweile habe ich die Diagnose und das Medi und damit auch viel mehr (emotionale) Kontrolle zurückgewonnen. Starke und offen gezeigte Emotionen sind ein zu wenig beachtetes Symptom von ADHS und sind gerade im Bezug auf Kinder von besonderer Bedeutung! Übrigens: Dopamin ist kein "Glückshormon". Es spielt eine Rolle im Belohnungssystem des Gehirns und lässt uns Aktivitäten aufrecht erhalten. (immer noch stark vereinfacht)