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Mein Alltag als Velokurier

«Fahrt vorsichtig, schreibt jemand in unseren Gruppenchat»

Bekommst während der EM auch immer wieder Werbeangebote der Just.eat App? Der Kurierdienst hat mit der UEFA einen Mega-Werbedeal abgeschlossen. Mit dem Glamour der Fussball-Welt hat der Job auf der Strasse wenig zu tun. Ein Basler Velokurier erzählt von unterwegs.

07/06/21, 02:59 AM

Aktualisiert 07/05/21, 02:59 PM

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Den perfekten Lieferdienst für das perfekte Spiel?

Den perfekten Lieferdienst für das perfekte Spiel?

Es ist das aufregendste Spiel der EM: Die Schweiz spielt gegen den Weltmeister Frankreich in einer historischen Partie – das Sommermärchen ist zum Greifen nah.

In den Pausen flimmert ein Werbevideo über den Bildschirm, während kühles Bier die vom Jubel geschunden Kehlen herunterfliesst. Im Clip sieht man einen Velokurier – im Schuss, volle Stadien – im Hoch, viel Action und eine Fussballegende als Kunde, eine Pizza – dampfend. Alles ist perfekt.

Mit dem wahren Leben eines Just-Eat-Kuriers hat das aber wenig zu tun. Das erzählt einer, der es wissen muss, nennen wir ihn Tonio. Er fährt für den Lieferdienst Essen aus. Das ist sein Erfahrungsbericht aus seinem Alltag. Der Name unseres Fahrers, sowie Details aus dem Arbeitsalltag sind zu seinem Schutz verändert. 

Die Realität für uns Fahrer*innen, das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen, die ist eine andere als die im UEFA-Werbevideo. Ich habe noch keine Stars beliefert, und spätestens nach der vierten Tour rolle ich auch nicht mehr so locker den steilen Hügel nach Binningen hoch, wie der sympathische Rider im Video die Treppenstufen in urbaner Kulisse überspringt.

Ein durchschnittlicher Arbeitstag bei Just Eat läuft eher so ab:

Es ist kurz vor 18 Uhr. Die Batterieanzeige meines Smartphones zeigt noch nicht ganz 100 Prozent. Ich überlege kurz. 90 Prozent Akku sollten reichen bis zum Ende meiner Schicht. Kurz verstaue ich noch eine Wasserflasche und etwas Proviant  in meiner Tasche, bevor ich mich pünktlich im System einlogge.

Ab jetzt kommunizieren Algorithmen mit mir. Fünf Minuten nach Schichtbeginn bereits der erste Auftrag. Der Abholort ist ein beliebtes Restaurant in Basel. Ich setze den Helm auf und schwinge mich auf mein Fahrrad. Auf dem Weg habe ich Zeit, mir ein paar Gedanken zu machen.

Dieser Ablauf ist für mich beinahe Alltag geworden. Ich arbeite neben etwa 100 anderen Arbeitskolleg*innen  als Kurier für die Lieferfirma Just Eat. Die orange Farbe ist unser Signal. Angefangen hat für mich alles mit einem Jobverlust und einer Anzeige von Just Eat auf Facebook. Zwei Wochen nach der Bewerbung hatte ich den Job. So einfach ging das bisher noch nie. Ich erhielt ein animiertes Erklärvideo und zehn Fragen zugeschickt, eine Woche später sass ich in einem Videocall mit etwa 20 Teilnehmer*nnen drin.

Wir sollten uns kurz vorstellen und die Fragen beantworten. Kurz danach kriegte ich schon den Vertrag per E-Mail zugeschickt.

Meinen richtigen Namen kann ich aus naheliegenden Gründen hier nicht nennen. Ich bin mittleren Alters, männlich, habe eine Ausbildung und weiss wie es ist, in grossen Konzernen zu arbeiten. Ich wohne schon länger in Basel. Just Eat ist für mich eine Zwischenstation. Am liebsten würde ich mir meinen Unterhalt selbständig verdienen.

Willkommen in der Gig Economy

In der Schweiz kennen wir die Plattform Just Eat eher unter dem Namen eat.ch, welche seit 2007 existiert. Gestartet hat eat.ch mit ca. 80 Bestellungen am Tag in der Stadt Zürich. Heute ist das Unternehmen schweizweit unterwegs, auch in Basel. Seit 2019 ist die Firma Teil des internationalen Konzerns Just Eat. Mittlerweile verdient die Firma ihr Geld nicht mehr nur mit Lieferungen. Die Plattform ist eine Suchmaschine, die Werbeanzeigen und sonstige Dienstleistungen verkauf: Ein Paradebeispiel der neuen «Gig Economy».

Just Eat Fahrer*innen: Bot*innen einer neuen Klassengesellschaft?

Dass sich in unseren Städten eine neue Dienstleistungskultur akzentuiert, lässt sich von blossem Auge beobachten. Die Anzahl Kurier*innen mit quadratischem Lieferrucksack und entsprechendem Logo von Just Eat, Uber Eats, Smood oder anderen Anbietern ist explodiert. Allein bei Essenslieferant*innen hat sich der Umsatz seit 2018 fast verdoppelt: 2020 waren es bereits 2,1 Milliarden Franken, schreibt der Sonntagsblick.

Von aussen betrachtet funktionieren alle Lieferdienste gleich. Die Boten fahren auf E-Rollern, Scootern oder Fahrrädern umher und tragen das Logo ihres Arbeitgebers zur Schau. Doch es gibt Unterschiede. Just Eat beispielsweise garantiert seinen Fahrer*innen eine Unfallversicherung, andere Lieferfirmen tun das nicht. Manche stellen Fahrzeuge und Arbeitskleidung zur Verfügung, andere nicht. Auch der Lohn variiert. Was die Jobprofile teilen, ist das Versprechen auf einen schnellen Job und ein gewisses Mass an Autonomie. Hinter dieser Pseudoselbständigkeit ist der Druck gross. Wer nicht schnell genug liefert, wird ausgetauscht.

Auf der anderen Seite hat sich seit Ausbruch der Corona-Krise die Unsicherheit im Arbeitsmarkt für prekäre Jobs noch verstärkt. Das zeigt unter anderem eine Studie der ETH zu «Corona und Ungleichheit in der Schweiz». Ökonom*innen sprechen mit Blick auf das System der Vermittlungsplattformen von der sogenannten Gig-Economy. Gig ist englisch für «Auftritt». Der Begriff ist auf die neue Konsumhaltung und den Plattformgedanken gemünzt, Arbeitskräfte nicht mehr dauerhaft, sondern auf Abruf anzustellen. Oft ohne soziale Absicherungen.

 

Wohin die Reise des Konzerns Just Eat geht, ist klar. Steil nach oben. Der Beleg dafür? Die starke Expansion in mittlerweile zwölf europäische, zwei asiatische und in ein nordamerikanisches Land. Und natürlich auch die Meldung, dass Just Eat neuerdings offizieller Partner der UEFA ist und dadurch gigantische Wettbewerbe wie die EM oder die Champions League sponsert. Die UEFA sagt, es sei eine der grössten, sprich, lukrativsten, Partnerschaften ihrer Geschichte. Das erklärt auch, warum du von der Just Eat App während der EM so viele Sonderangebote erhältst.

Zurück zu meinem Auftrag. Die Abholung läuft reibungslos und steht sogar schon einige Minuten früher bereit als auf der App angegeben. Die App ist mein zentrales Kontrollinstrument, hier laufen alle Informationen zusammen. Sie ist sehr einfach zu bedienen, user friendly sozusagen, keine Extrafunktionen, kein Schnickschnack. Es soll schnell gehen.

Ich bestätige den Erhalt des Essens und fahre los. Die Wolkendecke verspricht baldigen Regen. In weniger als zehn Minuten bin ich bereits am Lieferort. Mein Kunde ist sehr freundlich und wir machen ein bisschen Smalltalk. Ich erhalte noch einen Fünfliber auf die Hand und bin happy. Nicht alle geben Trinkgeld. Ein guter Start. Nach dem Abschluss gleich der nächste Auftrag auf meiner App. Das Restaurant ist in Basel, der Zielort irgendwo in der nahen Agglo. Nun setzt auch der Regen ein. Schnell zieh ich meine Regenhose an und fahre los. 

Ab jetzt gilt noch mehr Vorsicht. Nasse Strassen, wenig Sicht. Noch mehr SUV-Fahrer*innen die die Breite ihres Fahrzeugs nicht so recht einschätzen können. Die Unfallgefahr steigt entsprechend an. «Fahrt vorsichtig» steht in unserem Gruppenchat.

Kommuniziert wird über die sogenannte Scoober App. Eine Megasoftware. Die App wird von den Fahrer*innen in allen Ländern benutzt und ist auf meinem privaten Smartphone installiert. Ein Arbeitsgerät gibt es nicht. Zu Beginn musste ich einer Reihe von Bedingungen zustimmen, wie beispielsweise der Standorterfassung. Aber was, wenn jemand plötzlich einen Zugriff auf mein Smartphone hat? Obwohl wir ein spezielles Login und Codes zur sicheren Authentifizierung bekommen haben, fahren solche Gedanken immer mit. 

Auf Twitter finde ich immer wieder Berichte von Frauen, die sich belästigt fühlen, weil ihnen ihr Essenslieferant nach dem Job plötzlich private Nachrichten schreibt. Wie oft dies zutrifft, weiss ich nicht. Möglich wäre es, weil Lieferant*innen keine Arbeitsgeräte erhalten und sich so private und berufliche Kontakte vermischen können. Auch bei uns ist das so. 

Bajour hat dem Unternehmen diesbezüglich in mehreren Mails Fragen gestellt, vergeblich. Just Eat hat auf die Kontaktaufnahmen nicht reagiert.

Immer auffindbar? Ein Job im Netz der Daten

Aber zurück zur Kernaufgabe der App. Dort tüfteln ausgeklügelte Algorithmen aus, welcher Driver die kürzesten Distanzen zum Abholort hat. Das System ist eigentlich zuverlässig, jedoch nicht fehlerfrei. Auf dieser App sind sämtliche benötigte Daten wie Abholort, Name und Adresse der Kund*innen abrufbar. Alle zehn Sekunden prüft die App meinen Standort und kommuniziert mit den Algorithmen. Das ist für mich nichts Aussergewöhnliches. Ich hab schon vorher im Transportwesen gearbeitet und das Prinzip, per Geolocation den*die nächste Fahrer*in zu eruieren, ist mittlerweile Standard. 

Seit ein paar Monaten kannst du als Kund*in über die Just Eat App auch deine Bestellung verfolgen. Das heisst, du weisst auch, wo ich bin. Du weisst auch, wer ich bin. Mein Name steht auf deinem Display.

Nach Abschluss der Bestellung sind die Daten auf meinem Smartphone weg, beim Konzern jedoch nicht. Nach Abschluss sehe ich lediglich die JOB ID und den Strassennamen des Abhol- und Lieferorts. Zusätzlich stehen Teams in Basel und Berlin bereit, um mich bei technischen Problemen oder Unklarheiten zu unterstützen. Schichtplanung, Ferien, Dokumentenanforderungen. Alles kann über die App gesteuert werden. Ist zwar unpersönlich, aber auf eine Art auch irgendwie ganz ok. Die Dienstwege über Vorgesetzte fallen dadurch weg. Ich finde das praktisch.

Ein Job bei Just Eat? Geht ganz schnell, dafür ist der Druck gross. Ein Paradebeispiel für die «Gig Economy»:

Ein Job bei Just Eat? Geht ganz schnell, dafür ist der Druck gross. Ein Paradebeispiel für die «Gig Economy»: (Foto: Gaetan Bally, Keystone)

Panne? Pech gehabt

Ich verdiene 23 Franken pro Stunde Brutto. Mit Ferienzulagen steigt der Lohn sogar bis über 24 Franken an. Ich bin auch versichert, die Sozialabgaben werden bezahlt, der Konzern zahlt seinen Teil an die Pensionskasse. Ich bin also geschützt auf meiner Schicht und verdiene heute schon mehr als der in Basel kürzlich angenommene Mindestlohn von 21 Franken pro Stunde.

Die politische Debatte vor der Abstimmung habe ich intensiv verfolgt. Durch die Gespräche mit anderen Lieferdiensten ist mir erst bewusst geworden, wie prekär die Lage für manche Arbeitnehmer*innen sein muss in der teuren Stadt Basel. Vollzeitstellen als Fahrer*in bietet Just Eat aber nicht an. Ehrlich gesagt, ist das auch gut so.

Denn 40 Stunden die Woche auf dem Fahrrad sind selbst für Profis kein Zuckerschlecken. Klar, viele sind mit E-Bikes unterwegs und das macht es um einiges angenehmer. Aber die Remote Fahrer*innen (so nennen wir die, die mit ihrem privaten Fahrrad unterwegs sind) leisten teilweise Übermenschliches. Es gibt Abende, da stehen plötzlich 50 Kilometer geleistete Strecke auf der App. Die App erfasst aber nur die Strecke vom Restaurant zum Kunden. Mit den Rückwegen etc. kommt man so manchmal auf fast 100 Kilometer durch die Strassen und Gassen von Basel. Zum Vergleich: Die kürzeste Etappe der Tour de France ist die 21. auf dem Weg nach Paris. Sie beträgt 112 Kilometer. Die Profis erhalten in dieser Zeit aber beste Spitzensport-Ernährung und medizinische Versorgung.

Der Job als Kurier*in ist an sich nicht herausfordernd. Du fährst von A nach B und lieferst ab. Jedoch wird es schnell mal blöd, wenn du eine Panne mit dem Fahrrad hast oder sonst was mit der Bestellung nicht stimmt. Manchmal gibt es Leerzeiten dadurch. Das bedeutet auch weniger Bestellungen und weniger Trinkgeld. Im dümmsten Fall ist auch noch eine Bestellung im Rucksack, während du eine Panne hast. Und im allerdümmsten Fall hat niemand Zeit dir zu helfen, und du musst zusehen, wie du möglichst schnell zu Fuss zur Kund*in kommst.

Ein unternehmerisches Risiko habe ich jedoch dadurch nicht, wie oft behauptet wird. Zum Glück sind die Kund*innen bisher immer verständnisvoll gewesen, auch bei längeren Verspätungen. Bei anderen Lieferdiensten, auch im Ausland, ist der Zeitdruck offenbar viel grösser.

«Das ist Ausbeutung» 

Ich erhalte bezahlte Ferien und eine fixe Arbeitseinheit pro Woche. Sprich, jeden Monat ist sicheres Einkommen in ähnlicher Höhe verfügbar. Einzig das Trinkgeld kann sich ändern. Damit haben wir es bei Just Eat verhältnismässig gut, und wie gesagt, mit dem Mindestlohn hat sich für mich nicht direkt etwas verändert. Für andere Fahrer*innen bei anderen Lieferdiensten schon. Sie werden zum Beispiel pro Lieferung bezahlt und müssen sich selbst um die Sozialabgaben kümmern. Manche können die AHV-Beiträge nicht zahlen, weil das Geld eh schon knapp ist. Später wird sich das rächen. Davon abgesehen sind sie auch nicht versichert. Das ist Ausbeutung.

Trotz der Sozialabgaben und einem okayen Vertrag: Durch mein Pensum reicht es mir jetzt gerade, die Miete zu bezahlen und knapp über die Runden zu kommen. Und das auch nur dann, wenn nichts Unerwartetes in die Quere kommt. Manche Rechnungen können einfach nicht bezahlt werden. Sprich, ich arbeite eigentlich sehr hart für mein Geld und kann mich trotzdem nur ganz knapp über Wasser halten.

In der Sprache der Politik würde man glaub sagen, ich sei ein Geringverdiener. Und es stimmt. Während vielerorts berichtet wird, wie grossartig doch die Schweizer*innen dank Corona sparen konnten und wie die privaten Vermögen darauf warten, ausgegeben zu werden, hatte ich Monate, wo ich im Denner penibelst genau darauf achten musste was ich mir zu Essen kaufen kann. Da liegt gesunde Bio-Ware oder Demeter nicht drin. 

Seit den Öffnungen sehe ich Leute, die konsumieren und geniessen. Ich freue mich für sie, doch merke ich auch, wie ich immer mehr Abstand halten muss davon. Basel ist teuer und die sozialen Veranstaltungen kosten nunmal Geld. Ein Bier in der Buvette ersetze ich zurzeit lieber mit einem Dosenbier.

Wir gehen den Dingen auf den Grund

Cheeseburger, Yoga, Bett

Es ist 22:15 Uhr. Noch eine Bestellung abliefern. Ich bin durchnässt vom Regen. Die Kleidung, die ich von Just Eat erhalten habe, bietet zwar Schutz. Doch nach drei Stunden Dauerregen ist auch die beste Jacke irgendwann nicht mehr so wasserabweisend. Ich komme am Zielort an und klingle. Die Türe geht auf. Meine Kundin sieht mich und bedankt sich für die Lieferung. Zusätzlich streckt sie mir 20 Franken in die Hand. Ich grinse breit und bedanke mich herzlich. Insgesamt 42 Franken Trinkgeld für heute Abend. 14 Bestellungen in vier Stunden Schicht. Ein guter Abend, leider aber eine Seltenheit.

Die Heimfahrt gehe ich entspannt an. Nun merke ich die Belastung in den Beinen. Die Knie tun leicht weh und ich fühle mich ausgelaugt. Mein letzter Halt, bevor ich nach Hause gehe, ist der McDonalds an der Greifengasse. Ich habe so unglaublich Lust auf einen Cheeseburger Royal, heute gabs schliesslich gutes Trinkgeld. Zuhause erstmal essen, duschen und Yoga. Danach möchte ich einfach nur ins Bett. Morgen um 11 Uhr beginnt die nächste Mittagsschicht.

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Wir haben Just Eat eine Reihe von Fragen zu Erfolgszahlen, Firmenausbau und so weiter geschickt. Bislang haben wir aber keine Antworten erhalten. Wenn sie kommen, liefern wir sie nach.

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