Kopiert!

Auf allen Kanälen

Schein ist Sein

Die Serie «Inventing Anna» ist der neue Hit von Netflix und bannt die Schweiz vor den Bildschirm. Dabei ist die Serienadaption der Geschichte von Anna Sorokin nur die Spitze der profitablen Pyramide der fabelhaften Betrugskünstlerin.

03/16/22, 11:28 AM

Kopiert!
Anna Sorokin sits at the defense table during her trial at New York State Supreme Court, in New York, Monday, April 15, 2019. Sorokin, who claimed to be a German heiress, is on trial on grand larceny and theft of services charges. (AP Photo/Richard Drew)

Anna Sorokin bei der Urteilsverkündung 2019. (Foto: AP Photo/Richard Drew)

Dieser Artikel ist am 03. März 2022 zuerst in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

Grift, scam, con – schon die Wörter schimmern verlockend. Sie bedeuten tricksen, schwindeln, betrügen, ergaunern oder im Fall von «con» eine potente Mischung aus alledem. «Warum sind wir plötzlich umzingelt von ‹Gaunereien›?» fragte die «New York Times» Ende 2018. Im Frühjahr 2019 betitelte die Zeitung eine Analyse zum selben Thema mit «Statusangst und die Ökonomie des Betrugs».

Beide Artikel kommen zielsicher auf Anna Sorokin zu sprechen, die neuste Hochstaplerin im grossen Schwindlergame; wobei die hölzerne Vokabel «Hochstaplerin» die Bedeutungsfülle und die Anziehungskraft der amerikanischen «con artists» (also Betrugskünstler:innen) nicht richtig wiedergibt.

Reiche Erbin

Anna Sorokin wurde 1991 als Tochter eines Lkw-Fahrers in der Nähe von Moskau geboren. Als Sechzehnjährige kam sie mit ihrer Familie ins deutsche Eschweiler. Neun Jahre später hatte sie die High Society New Yorks unter dem Fantasienamen Anna Delvey so gründlich an der Nase herumgeführt, dass eine angesehene Investmentgruppe ihr beinahe einen Kredit von 28 Millionen Dollar gewährte. Ihre Masche: Sie gab sich als reiche deutsche Erbin aus, deren Millionen aber noch in Fonds blockiert seien.

Ganz im Habitus der selbstbewussten Superreichen lebte sie ein mondänes Partyleben – und wickelte alle um den Finger: Conciergen, Stararchitekten, Künstlerinnen, Geschäftsleute, andere potenzielle Sponsoren und Türöffnerinnen für die exklusive Anna-Delvey-Stiftung, die sie an der Park Avenue einrichten wollte, wie sie allen erzählte. Bezahlt hat sie ihre Extravaganzen eigentlich nie selber. Stattdessen entwickelte sie ein routiniertes Bluffsystem mit abgelaufenen Kreditkarten, angekündigten Überweisungen, weiteren fantastischen Ausreden. Am Ende beglichen die Rechnungen meist andere, die unachtsam genug waren einzuspringen, wenn Sorokins Kreditkarte wieder einmal nicht funktionierte.

Mit dem WOZ-Newsletter wissen Sie jeweils schon am Mittwochabend, was in der WOZ vom Donnerstag drin steht.

Ein Instagram-Account diente ihr als Echokammer und Verstärker: Kühn erschlich sie sich Treffen und Selfies mit Reichen und Berühmten für dieses Porträtportfolio, das ihre erfundenen Geschichten mit bekannten Gesichtern «beglaubigte». 2017 war der Bogen überspannt, zu viele Leute fühlten sich geprellt, zu zahlreich waren die unbezahlten Hotelrechnungen. Anna Sorokin wurde verhaftet. 2019 verurteilte ein New Yorker Strafgericht sie zu einer mehrjährigen Haftstrafe.

Ende der Geschichte? Mitnichten. Sorokin wäre keine «con artist», wenn diese Verurteilung sie ausgebremst hätte. Vielmehr bot ihr der Prozess eine neue Plattform, eine noch breitere Bekanntheit. Und das Schneeballsystem ihrer Schwindeleien eröffnete Profitkanäle für weitere Akteur:innen. Eine monatelange Recherche zu Sorokins Leben brachte dem Magazin «New York» die grösste Aufmerksamkeit seiner Geschichte – und erlaubte es der federführenden Autorin, einen früheren journalistischen Fehltritt vergessen zu machen. Der Anwalt, der Sorokin verteidigte, verglich Sorokin mit Frank Sinatra, punktete mit einem Plädoyer zum amerikanischen Traum, der straflos bleiben müsse: Auf Vorschuss zu leben, sei nicht illegal.

Erneut in Haft

Eine Fotoredaktorin des Magazins «Vanity Fair», die zu Sorokins innerstem Kreis gehört hatte, verwertete ihre Gefolgschaft und die darauffolgende Enttäuschung (über die eigene Dummheit?) in einem Artikel, später in einem Buch. Die Filmrechte zu diesem Buch hat die Serienautorin Lena Dunham gekauft. BBC machte einen Podcast über Sorokin, HBO eine seiner True-Crime-Dokus.

Die Recherche des Magazins «New York» wiederum wurde unter dem Titel «Inventing Anna» als Netflix-Serie fiktionalisiert, mit zwei Hauptfiguren: Anna Sorokin – und der Journalistin, die ihre Geschichte aufgedeckt hat. Der Abglanz der Hochstaplerin und ihrer Luftschlösser vergoldet manch weitere Existenz. Das ist zwar nicht die glamouröse Anna Delvey Foundation, die Sorokin im Sinn hatte, aber wie ein florierendes KMU ist es alleweil – und dazu eine Lektion zu unserer kapitalen Anfälligkeit für Blenderei.

Heute sitzt Sorokin erneut in Haft, sie soll nach Deutschland ausgeschafft werden. Und obwohl die 320 000 Dollar, die Netflix auf ihr Konto überwiesen hat, bereits wieder aufgebraucht sind, wird auch das kaum das letzte Kapitel ihrer Geschichte sein.

WOZ – helfen Sie mit beim Aufdecken! Leisten Sie sich ein Probeabo, 8 Wochen für 25 Franken.

Wird geladen