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Legal, illegal, scheissegal? – Warum die Öffentlichkeitsfahndung das Prinzip der Unschuldsvermutung gefährden könnte

In Basel werden 20 mutmassliche Teilnehmer*innen einer unbewilligten Demo mit anonymisierten Fotos zur Fahndung ausgeschrieben. Was ist vom Einsatz dieses Mittels im Kontext von Demonstrationen zu halten? Versuch einer Einordnung.

11/19/19, 04:06 PM

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Seit einer Woche bittet die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche nach 20 Personen. Sie hat zu diesem Zweck Fotos veröffentlicht, auf denen das Gesicht der Gesuchten mit einem schwarzen Balken unkenntlich gemacht wurde. Sollten sich die Personen nicht innert zehn Tagen melden, wird die Staatsanwaltschaft die Fotos noch einmal veröffentlichen. Und zwar so, dass die Verdächtigen für alle zu identifizieren sind.

Die Gesuchten werden verdächtigt, während und nach der Demonstration «Basel Nazifrei» vom 24. November 2018 Delikte unterschiedlichen Schweregrades begangen zu haben. 

Bajour wollte von Peter Gill, dem Sprecher der Staatsanwaltschaft (Stawa) Basel wissen: Auf welcher Entscheidungsgrundlage wurde entschieden, von wem ein Foto veröffentlicht wird?

Gill: «Die Veröffentlichung von Fahndungsbildern stützt sich auf Art. 211 bzw. 74 der Strafprozessordnung. Bei den gesuchten Personen besteht der dringende Verdacht einer Straftat. Die Öffentlichkeitsfahndung wird eingesetzt, wenn alle anderen polizeilichen Ermittlungs- und Fahndungsmassnahmen ausgeschöpft sind. Die Stawa wendet die Öffentlichkeitsfahndung zurückhaltend und nur in selten Fällen an.»

Seit 2009 wurde in Basel-Stadt die Öffentlichkeitsfahndung in sieben Fällen angewendet. Drei Mal im Zusammenhang mit Gewalt durch Hooligans, je einmal wegen eines Gewaltdelikts, einer Sexualstraftat und eines Überfalls. Jetzt wird das Fahndungsmittel zum ersten Mal gegen Personen angewendet, die an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen haben und dort gegen das Gesetz verstossen haben sollen.

«Leider zeigt die Erfahrung, dass Mittel der Strafverfolgungsbehörden, die ursprünglich schweren Straftaten vorbehalten waren, im Laufe der Zeit immer breiter eingesetzt werden.»

Rechtsanwalt Martin Steiger

Der Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger beobachtet in Bezug auf die Öffentlichkeitsfahndung eine schleichende Verschärfung der Repressionsmassnahmen von Seiten der Behörden, wie er auf Anfrage erklärt:

«Leider zeigt die Erfahrung, dass Mittel der Strafverfolgungsbehörden, die ursprünglich schweren Straftaten vorbehalten waren, im Laufe der Zeit immer breiter eingesetzt werden. Diese Entwicklung entspricht dem Zeitgeist, der sich jeweils auch bei Volksabstimmungen zeigt, wo «law and order» normalerweise auf viel Zustimmung stossen. Insofern werden wir früher oder später an einem Punkt stehen, wo es meistens gar keine Öffentlichkeitsfahndung mehr braucht, weil fast alle Personen automatisch mittels Gesichts- oder Personenerkennung identifiziert werden können. Technisch ist das heute auch bei grossen Menschenmengen möglich.»

Der Jurist verurteilt den Einsatz der Öffentlichkeitsfahndung nicht per se. «Wenn es zu schweren Straftaten kommt, muss es auch im Rahmen einer Demonstration möglich sein, die mutmassliche Täterschaft zu ermitteln», sagt Steiger. Nur was als schwere Straftat gilt, darüber gebe es keine Einigkeit. Im Deliktekatalog, den die Staatanwaltschaft Basel zur Öffentlichkeitsfahndung mitliefert, stehen Delikte unterschiedlichen Schweregrades. Darunter sind «Verdacht wegen Angriff», aber auch «Nötigung» oder «Störung des öffentlichen Verkehrs».

Welcher der gezeigten Personen aber welche Straftat zugeordnet wird, geht aus den Fotos nicht hervor. Das ist problematisch, weil damit alle Verdächtigen über einen Kamm geschert werden.

Steiger sagt: «Wichtig wäre, dass es klare und schweizweit einheitliche und verbindliche Regeln gäbe, was bislang nicht der Fall ist. Diese Regelung müsste aus meiner Sicht erstens verbindlich sein und zweitens einen Straftatenkatalog umfassen. Letztlich müsste die Strafprozessordnung (StPO) entsprechend ergänzt werden.»

Eine weitere Möglichkeit sei, dass die Öffentlichkeitsfahndung richterlich genehmigt werden müsste, sagt Steiger weiter. Der Anwalt vermutet aber, dass das keinen wesentlichen Unterschied bedeuten würde da «Zwangsmassnahmengerichte erstens im Geheimen arbeiten – ihre Rechtsprechung ist und bleibt geheim. Zweitens folgen die Zwangsmassnahmengerichte fast immer den Anträgen der Staatsanwaltschaften.

Es braucht ein «erhebliches öffentliches Interesse»

In Sachen Öffentlichkeitsfahndung orientiert sich die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt an der «Empfehlung zur Öffentlichkeitsfahndung bei Ausschreitungen und Krawallen» der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz vom 21.11.2013. Darin steht: Damit die Öffentlichkeit bei der Fahndung nach Straftätern einbezogen werden kann, müsse es sich um Vergehen handeln, bei denen ein «erhebliches öffentliches Interesse» bestehe. Ein schwammiger Begriff. Die Empfehlung hat keinen rechtlich bindenden Charakter, sondern dient lediglich der Orientierung. 

Die Veröffentlichung der Bilder erfolgt in der Regel in einem Dreistufenmodell (Ankündigungunkenntliche Fotos, kenntliche Fotos). «Die Verdächtigen melden sich in den bisherigen Fällen grossmehrheitlich selber», sagt Stawa-Sprecher Gill. Ob die aktuelle Fahndung zu Selbstmeldungen führte, ist noch nicht bekannt.

«Öffentlichkeitsfahndung soll keine Bestrafung sein»

Eine weitere problematische Facette der Öffentlichkeitsfahndung ist die Unkontrollierbarkeit ihrer Konsequenz für die Verdächtigen. Sind die Fotos erst einmal im Netz, werden sie auffindbar bleiben und den betreffenden Personen wie Pech an den Hacken kleben. Der online-Pranger wird damit tatsächlich zur ewigen Demütigung, die eine allfällige Rehabilitierung, gerade von jungen Verdächtigen, erschwert. 

Der Schaden, der für die gezeigten Personen erfolgen kann, sei immens, sagt Rechtsanwalt Steiger. Es sei schon zu Pannen gekommen, wo Personen, die sich gestellt hatten, dennoch öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben wurden. Dabei sei zu beachten, dass eine solche Panne erhebliche Auswirkungen auf das Berufs- und Privatleben haben könne, so Steiger. «In jedem Fall soll eine Öffentlichkeitsfahndung keine Form der Bestrafung sein.»

Genau dieser Effekt, der einer unmittelbaren Bestrafung, tritt ein, sobald die Öffentlichkeit der Staatsanwaltschaft beispringt, um sich an der Weiterverbreitung der Fotos zu beteiligen. Aktuelles Beispiel gefällig?

In der Medienmitteilung der Stawa ist explizit von «Tatverdächtigen» die Rede, Sprecher Peter Gill betont auf Nachfrage, dass die Unschuldsvermutung gelte.

Vergleichen wir diese Aussage mit dem Titel des Onlineartikels der Basler Zeitung am 14. November, dem Tag, an dem die Medienmitteilung verschickt worden war:

«Fotos von Demonstranten veröffentlicht», lautete der Titel. Darunter: «Die Kantonspolizei hat ihre Drohung wahr gemacht. Von einigen gewalttätigen Demonstranten wurden verpixelte Fotos publiziert.» Prominent zu sehen und von der Redaktion zu einer Collage verarbeitet: Die Fotos von fünf Personen.

Person gesucht = Person schuldig, sagt unser Hirn

Die Verdächtigen stehen bereits als Tatverdächtige fest, da ist es auch egal, wenn später im Text relativiert wird.

Dass die Text-Bild-Klammer psychologisch ohnehin nur einen Schluss zulässt (Person gesucht = Person schuldig), ist allerdings nicht nur der unsorgfältigen Arbeit einzelner Journalist*innen anzulasten. Es ist ein Bewertungsmechanismus, der tief in uns allen steckt. Sozialwissenschafter*innen sprechen von «Framing». Darum muss man auch Polizeisprecher Toprak Yerguz widersprechen, der sagt: «Der Pranger ist eine Form der Bestrafung durch öffentliche Demütigung. Die Öffentlichkeitsfahndung der Staatsanwaltschaft ist kein ‹Pranger›, wie es verschiedene Medien genannt haben.»

Doch, das ist sie. Sie ist ein Pranger. So wie auch der «umgekehrte Pranger» als solcher zu bezeichnen ist, der als Reaktion auf die Fahndungsbilder im Internet aufgetaucht ist, und der vermutlich Nahaufnahmen von Beamt*innen während des Einsatzes an besagter Demonstration zeigt. Die Machtverhältnisse sind zwar ungleich verteilt, der Effekt ist aber derselbe: Einzelpersonen werden ausgestellt und potenziell angreifbar gemacht. 

Was bedeutet die Beschreibung «Person 538»?

Noch eine Bajour-Anfrage an die Staatsanwaltschaft Basel:

Eine der tatverdächtigen Personen wird als Person 538 bezeichnet. Wieviele Personen wurden während der unbewilligten Demonstration insgesamt fotografiert? Wieviele wurden hinsichtlich eines möglichen Tatverdachts gesichtet?

Stawa-Sprecher Peter Gill: Die Nummer hat nichts mit der Anzahl Personen zu tun, sondern es handelt sich um Teile von Verfahrensnummern. Gestützt auf das Polizeigesetz kann die Kantonspolizei Ausschreitungen zwecks Beweissicherung dokumentieren.

Was geschieht mit den Fotos, die während der Demonstration gemacht wurden und die nicht zu einer Ausschreibung wegen eines Tatverdachts führen?

Gill: Diese Bilder sind Teil eines Verfahrens gegen Unbekannt und werden, gestützt auf die Strafprozessordnung und das Datenschutzgesetz verwendet.

Anwalt Martin Steiger sagt: «Bei Demonstrationen scheint mir für alle Teilnehmer relevant, dass sie inzwischen mit einer Überwachung durch den Geheimdienst rechnen müssen. Diese Problematik dürfte in erster Linie dazu führen, dass viele Personen gar nicht mehr an Demonstrationen teilnehmen, weil sie befürchten müssen, fichiert zu werden und dadurch Nachteile zu erleiden. Aus dem gleichen Grund verzichten viele Personen inzwischen auch darauf, sich im digitalen Raum offen zu äussern.»

Informationstechnologie soll dazu da sein, den Staat und seine Bürger*innen vor Angriffen zu schützen. Doch wenn der Staat will, kann Schutz plötzlich zur Disziplinierungsmassnahme umgedeutet werden. Die Linie zwischen Schutz und Gewahrsam wird dabei immer weiter verschoben, darauf muss man hinweisen. Darüber sollte man reden.

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