«Es gibt kein Ziel und keinen Ausweg»

Wie können wir angemessen um unsere Toten trauern? Ein Besuch bei einer, die es weiss.

moni bitzi

An einem der ersten warmen Tage im Jahr traf ich vor einem Café zufällig auf eine Bekannte, die ich lange nicht mehr gesehen hatte. Wie immer in den letzten zwei Jahren kam das Gespräch schnell auf den Tod. Bei all den grausamen Dingen, die diese Pandemie hervorgebracht hat – das Reden über Verlust scheint einfacher geworden zu sein. 

Meine Bekannte hatte jemanden verloren, der ihr nahegestanden war, und erzählte von der Haltlosigkeit, die sie in der Familie dieser Person erlebt hatte. Wie Alice im Kaninchenbau. Ein Sturz ohne Aufprall, ohne Ende.

«Genau deshalb», sagte meine Bekannte, «braucht es Menschen wie Moni Bitzi.» 

Ein Mehrfamilienhaus im St. Johann, schwere Tür. Die Fenster im Treppenhaus scheinen mit Farbe übermalt, es dringt kein Tageslicht ins Treppenhaus. Hier sieht es aus, wie ich mir die letzte Reise vorstelle. Dunkel, eng, geräuschlos. Von oben kommt ein Licht, wärmer als das im Flur. «Hallo!» ruft eine herzliche Stimme.

Monika Bitzi, hatte mir meine Bekannte erklärt, ist eine Trauerbegleiterin für Angehörige verstorbener Menschen. Sie ist gelernte Pflegefachfrau und arbeitet im Kinderspital beider Basel und in der Kinder-Spitex. Daneben unterstützt sie freischaffend Trauernde. «Ich sehe das Trauern als eine angeborene Fähigkeit. Eine Fähigkeit, für das Überleben und das Anpassen an eine ‹andere› Realität», schreibt sie über sich auf einer Webseite für Trauerbegleitungen.

Die orangefarbene Tulpe

Ich habe in meinem Leben bisher zwei Menschen unerwartet verloren. Beides waren Kinder, eines ungeboren, eines fast gleich alt wie ich. Das eine habe ich nie gesehen, es existiert als Ultraschallbild im Fotoalbum meines Sohnes und als Tattoo auf dem Brustkorb meines Partners. Das andere sehe ich oft in meinen Träumen, wo ich mit ihr und meinen Geschwistern die Rutschbahn in unserem Garten runterrutsche, während unsere Mütter unter den Glyzinien Schaumwein trinken. 

Kurz nach ihrer Beerdigung entdeckte meine Mutter eine orangefarbene Tulpe in ihrem Garten. «Hallo Zoe!» rief sie und von nun an war unser liebstes Nachbarskind jeden Frühling vor der Terrasse anzutreffen, strahlend schön und schmerzhaft vergänglich. Von da an war alles anders, war ich eine Andere.

Was hatte ich erwartet? Eine missmutige Parze, die in ihrer Dreizimmerwohnung die Lebensfäden der Basler Bevölkerung abmisst?

Die schwere Tür ist offen, aus dem Eingang tritt helles Sonnenlicht. Moni Bitzi ist nicht zu sehen, also schaue ich mir das Bild neben der Tür an. Es zeigt eine Figur im Lotussitz, umgeben von Blumen. Sie hält eine Art brennendes Zepter in der einen, eine Blume mit Buch in der anderen Hand.*

Unter der Figur steht Bitzis Name und ihr Geburtsdatum. Sie ist 1982 geboren, also sechs Jahre älter als ich. Hängt hier der perfekte Auftakt meiner Geschichte – Moni Bitzi, die gottesähnliche Begleitung auf die andere Seite der Welt?

«Das haben mir Mönche im Himalaya geschenkt», sagt eine Stimme und Moni Bitzi steht in der Tür, eine grosse Frau mit blondem Haar und Lachfältchen um die Augen. Ich bin erstaunt. Was hatte ich erwartet? Eine missmutige Parze, die in ihrer Dreizimmerwohnung die Lebensfäden der Basler Bevölkerung abmisst? Für mich war es wohl naheliegend, dass ein Mensch, der von Tod umgeben ist, auch davon gezeichnet ist.

Trauerbegleitung Moni Bitzi
Definitiv keine Parze: Moni Bitzi vor ihrer Wohnung im St. Johann.

Nicht so Moni Bitzi. Fröhlich stellt sie sich mit Vornamen vor und erzählt, wie sie zu dem Bild neben der Tür gekommen ist. Mit Anfang zwanzig hat sie für eine Weile in Nepal gelebt, die Mönche dort haben es ihr geschenkt. «Aber es passt nicht so recht in meine Wohnung, deshalb hängt es jetzt hier neben der Tür. Auch ganz gut, oder?» 

Wir gehen hinein. Die Wohnung ist das Gegenteil des Treppenhauses, sie zu betreten fühlt sich an, als würde man von einem Korsett in einen Kaftan wechseln.

Es gibt einen Flur, von dem drei Zimmer abgehen. Jedes Zimmer ist hell und einladend, an der Kühlschrankwand haftet ein Liebesbrief an «Gotti Moni». «Mein Neffe», sagt Bitzi, «als er noch süss war.» Sie lacht. Wir reden über die Pubertät und wie froh wir sind, dass es in unserer Jugend noch keine Smartphones gab. Es stimmt Bitzi nachdenklich, wie viele Menschen sich mit ihren Smartphones der Welt entziehen. Ihr Handy ist nicht zu sehen und während meines Besuches taucht es kein einziges Mal auf. 

Nach der Fehlgeburt verbrachte ich Stunden in Foren, wo andere Mütter über ihre Erfahrungen schrieben. Ich googelte «Rauchen in der Frühschwangerschaft», weil ich ein paar Tage vor dem positiven Schwangerschaftstest noch eine Zigarette geraucht hatte. Ich brauchte Erklärungen für etwas, wofür es keine Erklärung gibt. Mein Smartphone half mir dabei, es beruhigte mich. Aber es entkoppelte mich auch. Ich merkte wie trügerisch meine Entspannung war. Jedes Mal wenn ich das Handy weglegte, kam die Trauer wieder hoch.

monibitzi
«Seit ich diesen Beruf mache, schätze ich das Leben umso mehr»: Moni Bitzi, ausgebildete Trauerbegleiterin.

Moni Bitzi hat Gebäck und Rhabarberlimonade gekauft. Sie schlägt vor, dass wir uns an den grossen Holztisch im Wohnzimmer setzen. Eine Vase mit gefilzten Blumen steht auf dem Tisch, daneben eine Schale mit Muscheln und Walnüssen, ein paar Kunststoffsterne und Teelichter. «Ich habe so viele Sächeli!», ruft sie belustigt und schenkt Limonade ein. Während des Gesprächs wird sie immer wieder verschiedene Objekte ans Tageslicht befördern. Sie helfen zu benennen, was sich schwer in Worte fassen lässt.

Das erste Ding erscheint auf dem Tisch: Eine Rolle mit roter Schnur, die mit Goldfaden durchzogen ist. Die Verbindung zu einem Menschen, sagt Bitzi, während sie das Garn entrollt, sei wie eine Schnur. Manchmal ist sie ganz kurz, ganz eng. Manchmal ganz weit und komplex verknotet. Wenn jemand stirbt, dann bedeutet das nicht, dass die Schnur gekappt sei. Im Gegenteil: Sie ist weiterhin dynamisch. «Im Fluss» nennt Moni Bitzi das, eine Bezeichnung, die sie immer wieder brauchen wird. 

Bitzi ist es ein Anliegen, dass Trauer nicht ausschliesslich mit dem Tod in Verbindung gebracht wird. Abschiede und Verluste aller Art, Trennungen, ein Orts- oder Schulwechsel können ebenfalls Trauer auslösen. «Wir trauern auch um Träume oder andere Lebenspläne. Das ist eine gesunde Reaktion, die uns hilft, uns an eine andere, eine neue Realität anzupassen.»

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Rotes Garn, buntes Labyrinth: Moni Bitzis Objekte zur Unterstützung der Trauerarbeit.

Das nächste Objekt liegt auf dem Tisch. Ein gezeichnetes Labyrinth mit verschieden bunt angemalten Bereichen. «Ein Verlust, egal welcher Art, hat immer Einfluss auf das ganze Netzwerk eines Menschen. In diesem System trauert jeder anders. Die Eine sucht vielleicht gerade im grün angemalten Bereich ihren Weg, der Andere im blauen. Aber sie befinden sich im selben Labyrinth, wo man sich immer wieder kreuzen kann.» Eine einfache Metapher. «Aber manchen Trauernden hilft sie sehr.» 

Menschen, die sie aufsuchen, haben oftmals ein Bedürfnis, zu werten: Was ist die richtige Art zu trauern? Woran erkenne ich ein gutes Leben? Einen guten Tod? Dabei sei es wichtig, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass es keine angemessene Art zu trauern gibt. Menschen, die weinen, sind nicht trauriger als solche, die es nicht tun. Sentimentalität schlägt nicht Pragmatismus. Optimismus nicht Hoffnungslosigkeit. Es gibt kein gut oder schlecht, es gibt nur ein Voraus. «Das eigene Leben geht weiter», sagt Bitzi. Und die Toten begleiten uns dabei.

Wichtig sei auch das Bild vom Weg als Ziel. «Viele fragen mich: Wie komme ich hier wieder hinaus? Ich versuche ihnen klarzumachen, dass es kein Ziel gibt und keinen Ausweg.» Es gehe nicht darum, über jemanden hinwegzukommen. Bitzi macht eine Bewegung, als würde sie ein Papier zusammenknüllen und in einen Papierkorb schmeissen. «Die Lücke, die ein Mensch hinterlässt, lässt sich nicht schliessen», sagt sie.  «Auch wenn sich die Trauernde das vielleicht wünscht.»

Ein Kind kann zwanzig Minuten lang bitterlich weinen – und von einem Moment auf den anderen in sein Zimmer gehen und zufrieden eine Legoburg bauen. 

Als ich nach der Fehlgeburt wieder schwanger wurde, wählte ich die Konfrontation. Ich schrieb einen Text über unser Erlebnis, gab anderen betroffenen Frauen meine Telefonnummer, damit wir uns austauschen konnten. Es meldeten sich viele Frauen bei mir, auch solche die vor zwanzig, dreissig Jahren ihre Kinder verloren hatten. Manche von ihnen hatten es keinem gesagt, nicht einmal dem eigenen Ehemann. Eine schrieb mir, ihr sei all die Jahre nicht bewusst gewesen, wie sehr sie unter ihrer Fehlgeburt gelitten hatte. 

Das eigene Kind zu verlieren ist im ersten Moment etwas anderes, als eine Partnerin, den besten Freund oder eine Katze. Aber genau hier sollten wir keine Unterschiede machen, sagt Moni BItzi. «Wenn du etwa einem Kind seine Trauer über das verlorene Haustier absprichst – dieses ‹es war doch nur ein Hamster› – dann lehrst du ihm, dass seine traurigen Gefühle keinen Platz haben.» Dabei sei Raum schaffen das Allerwichtigste. 

Moni Bitzi entscheidet bei jedem Menschen neu, wie dieser Raum aussehen soll. Manche Klient*innen kommen zu ihr nach Hause, mit anderen macht sie lange Spaziergänge. Laufen helfe, Dinge zur Sprache zu bringen. «Beim Laufen ist man im Fluss, sowohl körperlich, wie auch emotional.» Mit den Kindern der Trauergruppe, die sie in Bern mitleitet, geht sie einmal im Monat in den Wald. 

Ein Kind, sagt sie, trauere anders als ein*e Erwachsene*r. Kinder haben sich noch keine Barrieren aufgebaut, bei ihnen kommt alles viel ungefilterter heraus. Ein Kind kann zwanzig Minuten lang bitterlich weinen – und von einem Moment auf den anderen in sein Zimmer gehen und zufrieden eine Legoburg bauen. 

Trauerbegleitung Moni Bitzi
Der Handschuh als Körper, die Hand als Seele: Solche Bilder können Kindern helfen, den Tod zu verstehen.

Sie holt einen Gummi-Handschuh aus dem Koffer und streift ihn sich über. Wenn ein Mensch stirbt, sagt sie, erkläre sie Kindern den Tod mit diesem Bild: Der Handschuh, das ist unser Körper. Er ist eine Hülle, die alles, was du machst, mitmacht. Die Hand hingegen ist das, was dich für andere ausmacht. Das, was dich zu dir macht. Manche Menschen nennen es «Seele». 

Wenn ein Mensch stirbt, dann schlüpft die Hand aus dem Handschuh und er bleibt leer zurück. Sein Inneres ist jetzt woanders – vielleicht bei Freund*innen, vielleicht im Himmel, vielleicht in der Luft. Niemand weiss das so genau. Wo es sein soll, dürfen die Kinder ganz allein entscheiden. Wichtig ist, dass es bleibt. Niemand ist einfach so ganz weg.

Mittlerweile habe ich mit meinem Partner drei Kinder. Ihr Leben führt mir unsere Sterblichkeit vor Augen, manchmal so sehr, dass es mir Angst macht. Jeder ihrer Entwicklungsschritte ist auch ein Abschied, jeder Gewinn auch ein Verlust. Wir haben die Familienplanung abgeschlossen, ich werde nie mehr ein Kind gebären, nie mehr stillen. Ich habe diese Etappen für immer hinter mir gelassen. Und bin damit meinem Tod ein bisschen näher gerückt.

«Wir verweigern uns und Anderen die Auseinandersetzung mit dem Tod, aus Angst vor dem Unbekannten.»
Moni Bitzi, Trauerbegleiterin

Es sind Gedanken, die ich lieber von mir wegstosse, als mich ihnen zu stellen. Dabei weiss ich um ihr Ausmass, spätestens seit Zoe nicht mehr lebt: Wir alle werden sterben. Wieso ist es so schwierig, sich damit abzufinden?

Die Antwort, sagt Moni Bitzi, liegt in der Angst. «Wir verweigern uns und Anderen die Auseinandersetzung mit dem Tod, aus Angst vor dem Unbekannten.» Dabei sei das ganz wichtig, am Besten bereits bevor jemand stirbt. «Am schönsten wäre es, wenn wir den Tod in unser Leben integrieren könnten.» Ein Spaziergang in der Natur eigne sich etwa hervorragend dafür, sich seiner Vergänglichkeit bewusst zu werden.

Nach drei Stunden ist der Tisch voller Dinge, wir haben ohne Pause geredet. Ich muss mich verabschieden, um die Kinder von der Kita zu holen. Zeit für eine letzte Frage. Zieht einen die Präsenz von so viel Trauer einen nicht selbst auch runter? «Im Gegenteil», sagt Bitzi und hält die Tür in den dunklen Flur auf. «Seit ich diesen Beruf mache, schätze ich das Leben umso mehr.» 

Auf dem Weg zur Kita fällt mir auf, dass die Magnolien blühen. Als mir mein Sohn in die Arme rennt, frage ich mich, wann der Moment kommen wird, an dem er mich verabschieden muss. Ich spüre seine feinen Nackenhaare an meiner Wange, hole Luft und drücke ihn fest an mich. Heute nicht. 

*Das tibetische Bild habe ich im Nachhinein gegoogelt. Es handelt sich um die buddhistische Figur Manjushri. Sie hält in der einen Hand ein brennendes Schwert, in der Anderen das Buch der Weisheit. Das Schwert soll Licht dorthin bringen, wo nichts als Dunkelheit herrscht. Gut getroffen, würd' ich sagen. 

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Bei Bajour als: Ideenschleuder, Gaspedal, Podcasterin

Hier weil: keine Lust mehr auf Verlagsbunker

Davor: Kulturredakteurin bei Tageswoche, bz, SRF Kultur

Kann: Zuhören

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Liebt an Basel: Die Gipfeli im Damatti, der Schnaps im goldenen Fass, die Seerosen im Beyeler.

Vermisst in Basel: Einen anständigen Glacéladen. Nein, auch das Acero reicht meinem verwöhnten Berner Gaumen nicht. (Gelateria, zu Hilf!)

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