Stets eine Minderzahl entscheidet

Zur Geschichte der Direkten Demokratie in Basel.

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Nicht alle Volksentscheide wurden umgesetzt, in Einzelfällen war das sogar gut so. Das geplante Theodor-Schwimmbad bei der Wettsteinbrücke wurde 1907 zwar gutgeheissen, aber aus Geld- und anderen Gründen (zum Glück) nie gebaut. (S. 271)

Sollen Basler Bürgerinnen und Bürger über Parkplätze vor dem Hörnli-Friedhof oder über die Trottoirs in der St. Alban-Vorstadt abstimmen dürfen – oder müssen? Eva Gschwind, Politologin, Journalistin, Kommunikationsverantwortliche des Grossen Rats, wirft diese nicht zufällig den Strassenverkehr betreffende Frage in ihrer kürzlich erschienen Geschichte der Direkten Demokratie im Kanton Basel-Stadt auf. Sie hütet sich aber, sie mit Ja oder Nein zu beantworten. Entsprechend ihrer demokratischen Überzeugung geht sie davon aus, dass Leserinnen und Leser ihres Buches eine eigene Meinung haben oder bei der Lektüre entwickeln.

Das Buch dient aber nicht nur der Meinungsbildung gerade zu dieser Einzelfrage. Es regt auch zu einer generelleren Auseinandersetzung mit dem demokratischen Potenzial an, das in unserer Gesellschaft angelegt ist. Und es gibt Auskunft darüber, was unsere Direkte Demokratie seit ihrer Einführung in den letzten 150 Jahren mit ihren rund 180 Initiativen und rund 300 Referenden geleistet, was sie zustande gebracht hat. 

Gemäss einem altem Spruch sind Volksentscheide beinahe Gottesurteile – «vox populi – vox dei». Anhand von konkreten Fällen, kann man sich hier im vielleicht weiseren Rückblick überlegen, ob die Abstimmungen richtig ausgegangen sind. Die Ablehnung des Kanalisationsgesetzes von 1876 war sicher keine Glanzleistung. Diese Abstimmung zeigt aber auch, dass Gesamt- und Staatsinteressen und nicht unberechtigte Privat- und Partikularinteressen zueinander in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen.

Eva Gschwind
Eva Gschwind

Die Politikwissenschafterin Eva Gschwind arbeitete früher als Journalistin. Heute ist sie Öffentlichkeitsbeauftragte des Grossen Rats. Sie ist freie Autorin und hat mehrere Bücher und Artikel rund um die Basler Politik, Frauenbiografien und die Stadt Rheinfelden (mit)verfasst.

Abstimmungssiegerinnen und -sieger sprechen gerne davon, dass das Volk gesprochen habe. Von Zeit zu Zeit gibt es aber auch äusserst knapp ausgegangene Abstimmungen – sozusagen Zufallsentscheide. Die Initiative von 1914, die ein Schulgeld für Auswärtige verlangte, wurde beinahe angenommen, das heisst mit bloss sechs Stimmen Mehrheit verworfen. Und die Abstimmung zur Initiative von 1916, welche eine Verkleinerung des Grossen Rates forderte, fiel gar mit nur zwei Stimmen Mehrheit durch.

Die Proporz-Initiative, es war der dritte Anlauf in dieser Sache innerhalb von 15 Jahren, wurde 1905 mit einer Mehrheit von nur zehn Stimmen angenommen. Die Knappheit dieses Resultates könnte die Berechtigung dieser inzwischen bewährten Wahlordnung infrage stellen. Sie zeigt aber auch, wie wichtig die Teilnahme jedes einzelnen Bürgers (damals nur die Männer) sein konnte und sein kann.

Beim Lesen dieser Schrift treten wir einen Gang durch Basels Geschichte an und erhalten Einblicke in die Auseinandersetzungen um verschiedenste politische Geschäfte, über die in Volksabstimmungen entschieden wurden. Diese werden nicht nur textlich, sondern auch visuell dokumentiert, Bauvorhaben mit Fotografien, abstrakte Vorlagen mit eindrücklichen Abstimmungsplakaten illustriert. Die Nutzung der Direkten Demokratie im Laufe der Zeit wird auch mit Tabellen und Grafiken veranschaulicht.

Parallel zum Buch entstand die Website baselvotes.ch, die zu allen Abstimmungen reichlich Auskünfte vermittelt. Gewisse Geschäfte können uns sehr bekannt vorkommen, obwohl sie bereits Jahrzehnte zurückliegen: etwa die Abstimmung von 1943 zur Frage, ob der Hardwald dem Bau eines Flugplatzes weichen soll, was Gschwind als die erste Umweltabstimmung bezeichnet. Oder die Abstimmung von 1882 zur Frage, ob der Impfzwang abgeschafft werden soll. Oder die Abstimmung von 1941 über die mit der Parole «Die Schweiz den Schweizern» eingebrachte Initiative zu Einbürgerungsbestimmungen etc.

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Eva Gschwind: Auf zur Urne! Direkte Demokratie in Basel von den Anfängen bis heute. Basel, Christoph Merian Verlag, 2022. 319 S.

Zum Buch

Das Buch fokussiert logischerweise auf die Abstimmungsvorgänge. Am Rande kann man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass sich Demokratie nicht auf Ausfüllen des Stimmzettels beschränkt und eine durchgehende, permanente Gegebenheit ist und politische Anteilnahme auch im Alltag vor und nach Urnengängen gelebt werden soll. Die in Basel wohnhaften Menschen sind immer Teil des kollektiven Gestaltungsprozesses: a) als Mitbestimmende, b) als Desinteressierte und c) als Ausgeschlossene und dennoch davon Betroffene. Die letzte Kategorie beträgt zur Zeit etwa 48 Prozent mit wachsender Tendenz.

In Basel-Stadt ist nicht das «Volk» souverän, sondern bloss die Hälfte der mit Stimmrecht ausgestatteten Einwohnerinnen und Einwohner sind es. Und von denen machen wiederum nur die Hälfte von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Eva Gschwind schreibt dazu: Eine «krasse Minderheit» bestimmt über die Gesamtbevölkerung. Das könnte eine Mahnung sein sowohl an die Adresse der Abstimmungsfaulen als auch an die schon jetzt Stimmberechtigten, gegenüber der «fälligen Einführung des Ausländerstimmrechts» eine positivere Haltung einzunehmen.

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