«Die Nähe eines kantonalen Gerichts kann einen Einfluss haben»

Markus Mohler, ehemaliger Staatsanwalt und Kommandant der Basler Kantonspolizei, erklärt im Interview, inwiefern der Staat seinen Inhaftierten gegenüber eine Schutz- und Sorgfaltspflicht hat. Von strukturellem Rassismus innerhalb der Behörden mag er nicht sprechen.

Blick in einen Spazierhof des Basler Gefaengnis Waaghof in Basel am Samstag, 5. November 2005. (KEYSTONE/Markus Stuecklin)
Kowsika, eine 29-jährige Tamilin, nahm sich im Basler Untersuchungsgefängnis Waaghof 2018 das Leben. (Bild: Keystone)

Herr Mohler, Sie waren von 1967-1979 Staatsanwalt in Basel-Stadt und von 1979-2001 Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt. Was sagen Sie zu den mutmasslichen Verfehlungen der Behörden im Falle Kowsika?

Ich kenne nur die drei Artikel Ihrer gemeinsamen Recherche mit der «Republik», die Akten und das Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt kenne ich nicht. Ich möchte mich also nur über grundsätzliche Aspekte äussern und nicht zum konkreten Fall, das wäre unseriös. Was ich sage, ist keineswegs als Kritik am offenbar ergangenen Urteil des Strafgerichts aufzufassen. Ich kann nur sagen, was in einer solchen Situation grundsätzlich gilt und was zu machen ist.

Also: Was gilt in so einer Situation grundsätzlich?

Gemäss Ihrer Recherche gibt es zwei unterschiedliche Phasen: Die erste Phase ist jene der Anhaltung dieser Frau im Kanton Bern wegen illegalen Aufenthalts, respektive zur Ausschaffung. Das ist ein rein verwaltungsrechtliches Vorgehen. Hier gilt das Ausländergesetz mit vielen verschiedenen Bestimmungen, was unter welchen Voraussetzungen wie zu geschehen hat. So gibt es die vorläufige Festnahme, es gibt Vorbereitungshaft, die Ausschaffungshaft, die Haft im Rahmen des Dublin-Verfahrens und die Durchsetzungshaft. Das Ganze ist sehr kompliziert. Gemäss Ihrer Recherche wurde die Frau in dieser ersten Phase in Bern vorläufig festgenommen, darauf zur Ausschaffung nach Basel verbracht und kam im Untersuchungsgefängnis Waaghof in eine Zelle. Da begann die zweite Phase.

War die Unterbringung im Untersuchungsgefängnis Waaghof richtig?

Es gibt eine Bestimmung im Asylgesetz, wonach die ausländerrechtlich begründete Haft in einem Untersuchungsgefängnis durchgeführt werden kann, wenn es im Ausschaffungsgefängnis keinen Platz mehr gibt. Ich nehme an, das sei der Fall gewesen. Ob es mit Sicherheit so war, kann ich aus den eingangs erwähnten Gründen nicht sagen. Sonst braucht es jedoch den Verdacht auf eine strafbare Handlung und zudem die Voraussetzungen für einen Freiheitsentzug, um jemanden im Untersuchungsgefängnis festzuhalten. Das geschieht dann im Rahmen des Polizeigewahrsams oder der Untersuchungshaft gemäss Strafprozessordnung, also nicht verwaltungs- bzw. ausländerrechtlich.

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Zur Person

Der Curriculum Vitae von Dr.iur. Markus H.F. Mohler ist lang, 1965 absolvierte er sein Licenziat der Jurisprudenz in Basel, von 1967-1979 war er ebenfalls am Rheinknie, Staatsanwalt, von 1979-2001 dann Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt. Danach war er Dozent für öffentliches, speziell Sicherheits- und Polizeirecht an den Unis von Basel und St. Gallen.

Was lief während der Haft schief?

Ohne Kenntnis der Akten kann ich die Frage so nicht beantworten. Wenn eine Person aus welchen gesetzlichen Gründen auch immer in Haft genommen wird, entsteht sogleich ein sogenanntes Sonderstatusverhältnis. Mit anderen Worten: Zwischen dem Staat und der inhaftierten Person besteht ein besonderes Rechtsverhältnis. Dieses auferlegt dem Staat eine Schutz- und Sorgfaltspflicht. Auch Inhaftierte haben beispielsweise ein Recht auf Privatsphäre, wenn auch eingeschränkt. So liesse sich ohne Grund eine permanente Videoüberwachung nicht rechtfertigen.

Kowsika wurde aber videoüberwacht, sogar mit zwei Kameras.

Die Frau wurde, immer gemäss Ihrer Recherche, wegen ihres auffälligen Verhaltens von einer «normalen» Zelle in eine spezielle Zelle verlegt mit permanenter Videoüberwachung. Damit konkurrieren zwei grundrechtliche Schutzpflichten des Staates: jene auf Privatsphäre einerseits beziehungsweise diejenige auf physische und psychische Integrität andererseits (Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung [BV], § 11 Abs. 1 Bst. b der Kantonsverfassung Basel-Stadt [KV]). Wenn die Verlegung in eine solche spezielle Zelle stattfindet, hat die Schutzpflicht für die körperliche und psychische Integrität in der Beurteilung des Gefängnispersonals offensichtlich Vorrang vor dem Schutz der Privatsphäre erhalten.

In diesem Fall müsste man dann aber auch entsprechend aufpassen, die Inhaftierte also tatsächlich überwachen?

Ist dies der Fall, so gebietet die Schutzpflicht, dass das Geschehen in der Zelle vom Personal auch wirklich überwacht wird. Wenn es weiterhin Anzeichen für ein aussergewöhnliches Verhalten gibt, müssten entsprechende Massnahmen ergriffen werden.

Leider sind Beschwerden bis ans Bundesgericht wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs mit allen seinen Komponenten keine Seltenheit.
Dr.iur. Markus H.F. Mohler

Was offenbar lange nicht geschah.

Dazu kann ich nur soviel sagen: Bei aussergewöhnlichem Verhalten müsste das Personal selber sogleich die Person in der Zelle aufsuchen, mit ihr versuchen zu reden, die Situation neu beurteilen und wenn nötig rasch Fachpersonen zuziehen. Das verlangt die grundrechtliche Schutzpflicht auf physische und psychische Unversehrtheit hier im Rahmen des Sonderstatusverhältnisses. Dies muss auch schnell erfolgen, um eine Verschlechterung der Situation erfolgversprechend zu verhindern.

Die Inhaftierte wurde nicht ernst genommen, in den Akten finden sich mehrfach Smileys, inwiefern kann man hier von strukturellem Rassismus sprechen? Und wie haben Sie diesen innerhalb der Behörden wahrgenommen?

Mit dem Ausdruck «struktureller Rassismus» muss man etwas vorsichtig umgehen. Es gibt leider zweifellos Rassismus von Angehörigen einzelner Behörden. In aller Regel sind das aber Einzelfälle, die aufzeigen, dass etwas schiefläuft. Deswegen kann man nicht schon von strukturellem Rassismus sprechen. Smileys haben jedoch in behördlichen Schriften sicher keinen Platz. Dem sollte nachgegangen werden.

Kowsika dürfte ein Extrem-, aber wohl kein Einzelfall sein. Was ihr widerfahren ist – die unzureichende Information, das fehlende Überbrücken der Sprachbarriere, das mangelnde Verantwortungsgefühl staatlicher Institutionen gegenüber Menschen, die aufgrund der geltenden Gesetze in die Illegalität gedrängt werden –, scheint System zu haben.

Die Rechtslage ist eindeutig: Sowohl das Ausländergesetz wie auch die Strafprozessordnung schreiben zwingend vor, dass die festgenommene Person über die Gründe der Festnahme unverzüglich zu orientieren ist. Das muss selbstverständlich mit Dolmetschern geschehen, wenn die Person einer Landessprache nicht genügend mächtig ist. Das gehört zum Anspruch auf rechtliches Gehör, ein Grundrecht. Auch die Einsprachemöglichkeiten sind der Person bekannt zu geben. Leider sind Beschwerden bis ans Bundesgericht wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs mit allen seinen Komponenten keine Seltenheit, aber bei weitem nicht nur in ausländerrechtlichen Fällen.

Strukturellen Rassismus finden Sie meines Erachtens nicht innerhalb der Schweizer Behörden.
Dr.iur. Markus H.F. Mohler

Was wird innerhalb der Behörden gegen Rassismus - ob strukturell oder punktuell - unternommen?

Gerade in Polizeikorps wird sehr viel gegen jegliche Form von Rassismus gemacht. Das beginnt schon bei der Selektion für die Aufnahme in die Grundausbildung. In Theoriestunden wird das Thema generell und dann anhand von publik gewordenen Fällen in der Weiterbildung behandelt. Das ist im Einzelfall nicht immer erfolgreich, aber deswegen ist das noch kein struktureller Rassismus.

Was wäre denn struktureller Rassismus?

Beispielsweise eine geschriebene oder ungeschriebene Weisung, wonach anders behandelt würde, wer nicht von hier, also Schweiz, ist. Struktureller Rassismus würde heissen, Menschen, die nicht von hier sind, nicht den gleichen Grundrechtsschutz zu gewähren, sie deswegen ungleich zu behandeln. So etwas finden Sie meines Erachtens nicht innerhalb der Schweizer Behörden.

Stacheldraht und Sicherheitsnetze ueber einen Spazierhof des Basler Gefaengnis Waaghof in Basel am Samstag, 5. November 2005. (KEYSTONE/Markus Stuecklin)
Ist das Verantwortungsgefühl staatlicher Institutionen gegenüber Menschen, die aufgrund der geltenden Gesetze in die Illegalität gedrängt werden, zu wenig ausgeprägt? (Bild: Keystone)

Die vier Gefängnisaufseher*innen müssen sich im Berufungsverfahren ja erneut vor Gericht verantworten. Diese Mitarbeitenden des Gefängnispersonals gehören zur niedrigsten Hierarchiestufe. Müssten nicht auch Vorgesetzte zur Rechenschaft gezogen werden?

Diese Frage kann ich aufgrund dieses Falles nicht beantworten. Das kann unter Umständen nötig sein, wenn festgestellt wird, dass die Führung - von der Selektion über die Ausbildung bis zur Kontrolle und Massnahmen - ungenügend war in Bezug auf die Ungleichbehandlung mit allenfalls auch rassistischer Komponente. Dann müsste untersucht werden, was auf der Führungsebene schiefgelaufen, wer dafür verantwortlich ist.

Inwiefern müsste und könnte ein solcher Fall aufgearbeitet werden?

Wenn der Verdacht aufkommt, dass Unterlassungen der Führung vorliegen könnten in Bezug auf die Bekämpfung von Rassismus oder anderweitige Ungleichbehandlungen, dann müsste ein Verfahren eingeleitet und geprüft werden, ob dies zutrifft. Die Rechtslage ist in dieser Sache eindeutig: Grundrechte einschliesslich das Gleichbehandlungsgebot sind gemäss Bundesverfassung, in Basel-Stadt auch gemäss Kantonsverfassung, massgebend. Grundrechtsverletzungen sind nachträglich zu untersuchen und die Verantwortlichen, wenn die strafrechtlichen Voraussetzungen vorliegen, zu bestrafen. Das entspricht der ständigen Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Bundesgerichts.

Wenn der Verdacht aufkommt, dass Unterlassungen der Führung vorliegen könnten in Bezug auf die Bekämpfung von Rassismus oder anderweitige Ungleichbehandlungen, dann müsste ein Verfahren eingeleitet werden.
Dr.iur. Markus H.F. Mohler

Es wurde Strafanzeige gegen die Gefängnisleitung eingereicht, aber der Fall wurde von der Staatsanwaltschaft mit Verweis auf das laufende Verfahren sistiert, ist das rechtens?

Wiederum: Ich kenne die Akten, also die Verfügung der Staatsanwaltschaft nicht. Eine Sistierung ist nach Art. 314 der Strafprozessordnung vorgesehen, sofern unter anderem «der Ausgang des Strafverfahrens von einem anderen Verfahren abhängt und es angebracht erscheint, dessen Ausgang abzuwarten». Auf diese Befugnis könnte sich die Staatsanwaltschaft stützen.

Bei der Recherche kam der Verdacht auf, dass sich Behörden im Kanton gegenseitig decken. Ist dem so?

Das ist in gewissen Fällen eine berechtigte Frage. Nicht einfach in Bezug auf Basel-Stadt, sondern auch auf andere Kantone. Schaut man sich die Bundesgerichtsurteile in Bezug auf eine Nichtanhandnahme von Strafverfahren an, so erstaunt oft, was an die kantonalen Obergerichte mit der Auflage, ein Verfahren einzuleiten, zurückgeschickt wird. Man wird den Eindruck nicht los, dass manchmal die Nähe der kantonalen Gerichte, ob es sich dabei um die erste oder zweite Instanz handelt, nicht ganz ohne Einfluss ist, wenn es um die Beurteilung von Angehörigen der «eigenen» kantonalen Verwaltung geht.

Könnte man da nicht ausserordentliche Richter*innen einsetzen?

Auf Stufe der Staatsanwaltschaft werden in gewissen Kantonen ausserkantonale, also ausserordentliche Staatsanwält*innen eingesetzt. Beim Gericht ist das aber praktisch nicht möglich, weil es einen Anspruch auf ein verfassungsmässiges Gericht am Tatort gibt.

Ist eine Lösung dieses Problems denkbar?

Theoretisch ja: zwei oder drei Kantone müssten dann – zum Beispiel in Fällen, bei denen kantonseigene Angestellte zu beurteilen sind – miteinander staatsvertraglich vereinbaren, dass eines der anderen Konkordatsgerichte in solchen Fällen urteilen könnte. Aus meiner Sicht wäre das sogar die einzige Möglichkeit, das Problem des Anspruchs auf ein verfassungsmässiges Gericht zu lösen und gleichzeitig diese «Nähe» aufzuheben. «Staatsvertraglich» bedeutet, dass ein solches Konkordat auf der Stufe der Kantonsverfassungen zwingend durch die Parlamente der Konkordatskantone – mit Referendumsvorbehalt – zu beschliessen wäre.

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Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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