«Literatur braucht die Vielstimmigkeit»

Martin R. Dean kennt den Basler Literaturbetrieb seit mehreren Jahrzehnten, er spielte bereits vor 25 Jahren bei der Gründung des Literaturhauses Basel eine Rolle. Im Gespräch blickt er zurück auf seine eigene Geschichte und auf die Entwicklung der Basler Literaturszene.

Martin R. Dean, in deinem Roman «Tabak und Schokolade» geht es um deine eigene Familiengeschichte und Kindheit, die du in den ersten Jahren in Trinidad verlebt hast. Wie bist du auf diese Geschichte gestossen?

Es ist meine Familiengeschichte inklusive der Geschichte meiner Vorfahren. Schweizerseits hatte ich auf der einen Seite zwei Grosseltern, die in der Tabakindustrie gearbeitet haben. Väterlicherseits hatte ich Vorfahren, die aus der Karibik kamen. Sie wurden 1876 in einem Umsiedlungsprogramm aus Indien in die britische Kolonie Trinidad geschifft. Diese beiden Teile, die zwei Fenster meiner Identität bilden, wollte ich im Buch «Tabak und Schokolade» zusammenbringen. Das war ein lange recherchiertes Projekt, das ich dann nach dem Tod meiner Mutter realisieren konnte.

Bider & Tanner
Bajour goes Bider & Tanner

Jeden Monat präsentiert das Buchclübli mit Vali ein Buch des Monats in der Belletristik-Abteilung im Kulturhaus Bider & Tanner. In diesem Monat ist es der neue Essayband «In den Echokammern des Fremden» des Basler Autors Martin R. Dean.

Du bist als vierjähriger Junge mit deiner Mutter in die Schweiz zurückgekommen und hast in Menziken in den sechziger Jahren auch Ausgrenzung erfahren. 

Das stimmt. Zu dem Zeitgeist Anfang der sechziger Jahre gehörte natürlich auch die ganze Ära der Fremdenfeindlichkeit. Aber in dem Buch erzähle ich nicht nur meine Geschichte, sondern auch die Geschichte, wie es damals zu- und hergegangen ist. Mein Buch ist aus vielen Schichten zusammengesetzt, denn es vereint soziologische, biografische und dokumentarische Aspekte. 

Dein Buch wurde für den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert. Hast du auch sonst viel Resonanz erhalten?

Ja, ich bin sehr positiv überrascht. Sehr viele Leute kommen an meine Lesungen und erzählen mir dann ihre Geschichte. Ich entdecke so eine Schweiz, die es im Parteiprogramm der SVP nicht gibt. Eine im besten Sinne multikulturelle Schweiz, die sehr grosse und starke Verflechtungen zum nahen und auch fernen Ausland hat.

«Ich wünsche mir, dass die Schweiz weiterhin so multikulturell leben kann wie sie eigentlich ist.»
Martin R. Dean, Autor

Aktuell gibt es aber auch wieder viele Rückschritte …

Die grosse Angst ist, dass jetzt unter Donald Trump und der ganzen rechten Bewegung das Rad zurückgedreht wird, was Integration und Frauenrechte und LGBTQ angeht. Es gibt starke Kräfte, die das alles wieder ungeschehen machen wollen und ich rechne in den nächsten Jahren mit einem verstärkten Kampf und Engagement, um nur das Niveau halten zu können, das wir bisher erreicht haben. Literatur kann versuchen, eine andere Perspektive aufzuzeigen. 

Was wünscht du dir für die gesellschaftliche Zukunft der Schweiz? 

Ich wünsche mir, dass die Schweiz weiterhin so multikulturell leben kann wie sie eigentlich ist. Und dass sie es zu ihren Tugenden zählt, ein modernes, aufgeschlossenes und offenes Land zu sein.

Du bist schon sehr lange im Basler Literaturbetrieb aktiv. Hast du vor 25 Jahren zusammen mit den Autor*innen Verena Stössinger und Matthias Jenny auch an der Entstehung des Literaturhaus Basel mitgewirkt?

Ende der achtziger Jahre hatten wir eine Szene, wir trafen uns regelmässig, lasen uns zu Hause gegenseitig vor. Dann entstand der Wunsch nach einem Ort für Literatur in Basel. Zusammen haben wir das Literaturfestival gegründet und daraus hat Matthias Jenny den starken Wunsch entwickelt, ein Literaturhaus zu gründen. Ich erinnere mich genau: Am Morgen vor der Geburt meiner Tochter im April 1995 habe ich bei der damaligen Kulturbeauftragten Hedy Graber vorgesprochen und gefragt, ob sie uns unterstützen könnte. So ist es dann tatsächlich gekommen.

«Die Monopolisierung von Literaturveranstaltungen ist keine gute Sache.»
Martin R. Dean, Autor

Wie hat sich die Literaturszene in Basel dann gewandelt?

Das Literaturhaus hat auf der einen Seite sehr viel Internationalität in die Stadt gebracht. Lesungen mit Autor*innen, die man sonst einfach nicht erleben kann. Auf der anderen Seite wurde die Basler Literaturszene etwas marginalisiert und hat sich auch weniger getroffen. Denn es war schwer, neben der Dominanz und der Ausstellungskraft des Literaturhauses noch Dinge zu unternehmen. Heute glaube ich nicht, dass es so etwas wie eine Basler Literaturszene gibt. Das liegt aber sicher auch am Internet und daran, dass ein Generationenwechsel stattgefunden hat.

Es gibt heute das Netzwerk Lokal Lesen und das Literaturfestival in der Trafohalle in Bottmingen für Autor*innen aus der Region. 

Das finde ich sehr wichtig. Es ist von grosser Bedeutung, dass junge Schreibende Ihre Lesungen machen können, ohne beim Literaturhaus anklopfen oder gar betteln zu müssen, das nicht immer offen für junge Schreibende ist. Die Monopolisierung von Literaturveranstaltungen ist keine gute Sache. Literatur braucht die Vielstimmigkeit.

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Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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