«Struktureller Rassismus ist in der Schweiz alltäglich»
Im aktuellen Wahlkampf wird erneut die Angst vor Ausländer*innen geschürt. Die Geschäftsleiterin der Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus GRA zeigt auf, wann Aussagen rassistisch sind und was die Zivilgesellschaft tun kann, um für Minderheiten einzustehen.
Was genau ist eigentlich Rassismus, wie definieren Sie den Begriff?
Es gibt verschiedene Definitionen von Rassismus. Grundsätzlich aber ist Rassismus eine Ideologie der Unterdrückung. Diese Ideologie wurde im Zuge des Kolonialismus und des Versklavungshandels hervorgebracht. Sie fusst auf einer «Rangordnung» von Menschen, die Menschen klassifiziert und nach beispielsweise Hautfarbe, Sprache, Religion oder ethnischer Herkunft einordnet. Rassistische Argumentationen dienen dazu, Machtverhältnisse zu legitimieren und die eigene Überlegenheit einer anderen Personengruppen auszudrücken.
Wir befinden uns im Wahlkampf. Wie ordnen Sie die Aussagen der SVP ein, die besonders in Social-Media-Posts gegen Asylbewerber*innen und Ausländer*innen wettert?
Leider ist es ja kein neues Phänomen, dass einzelne Politiker*innen Angst vor dem vermeintlich Fremden verbreiten und Hass schüren. Wir erhalten aktuell immer wieder Meldungen, diese Woche zum Beispiel zur «Schweizerzeit», die getitelt hat: «Achtung, Nordafrikaner! Junge Männer aus dem Maghreb missbrauchen unser Asylsystem. Sie sind besonders kriminell, gewalttätig und belästigen Frauen..». Solche Aussagen nehmen wir in den jährlichen Bericht «Rassismus in der Schweiz» bei den «rassistischen Meldungen» mit auf.
Stephanie Graetz ist Geschäftsleiterin GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, sie hat mehrjährige Projekt- und Accounterfahrung als Kommunikationsberaterin in Agenturen. Ferner ist Graetz, Mitgründerin des Spendenprojekts «Social Kitchen – Support your Restaurant». Sie hat einen Master in Journalismus (Universität Hamburg) und einen Bachelor in Law (Universität Luzern).
Hat es Konsequenzen, wenn die Aussagen in der Chronologie landen?
Ob ein öffentlicher Vorfall strafbar ist oder nicht, obliegt den Justizbehörden und Gerichten. Wir erfassen in der Chronologie öffentlich gewordene Vorfälle, welche offensichtlich diskriminierend sind und im weitesten Sinne die Diskriminierungsstrafnorm von Art. 261bis StGB tangiert.
Müssen rassistische Aussagen auf sozialen Medien und in Kommentarspalten hingenommen werden oder könnte man dagegen vorgehen?
Natürlich kann und sollte jede und jeder dagegen vorgehen. Zuerst einmal haben wir alle die Möglichkeit, Posts und Kommentare zu kommentieren, argumentativ dagegenzuhalten oder sie zu melden. Vorfälle können einerseits bei uns auf der GRA-Website mit dem Button «Vorfall melden» gemeldet werden oder auf auch auf der Meldeplattform für rassistische Online-Hassrede der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Wir alle sind als Zivilgesellschaft mitverantwortlich, Rassismus Einhalt zu gebieten und die Stimme zu erheben, wenn andere Menschen diskriminiert werden.
«Hass und Hetze auf ethnische, religiöse, sexuelle und andere Minderheiten werden auch bei diesen Wahlen wieder geschürt.»Stephanie Graetz
Zurück zum aktuellen Wahlkampf: Was bedeutet ein derart aufgeheizter und rauer Ton für die politische Stimmung im Land?
Hass und Hetze auf ethnische, religiöse, sexuelle oder andere Minderheiten werden auch bei diesen Wahlen wieder geschürt. Die SVP greift kulturelle Konflikte auf - das ist leider nichts Neues. Bereits im Frühjahr hat die Partei ihr Parteiprogramm vorgestellt und erklärt, dass sie gegen den «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» kämpfen werde. Mit populistischen Themen, die sich gegen Minderheiten richten, gelingt es der SVP meist, eine grosse Anhängerschaft zu mobilisieren. Aber eben: Wir alle, die Rassismus und Diskriminierung nicht tolerieren, sind aufgefordert, uns zu Wort zu melden und Einspruch zu erheben.
Nimmt Rassismus in der Schweiz eher zu oder ab?
Es ist schwierig, das pauschal zu beantworten. Wir beobachten, dass gewisse Ereignisse Rassismus und Antisemitismus triggern, so waren beispielsweise während der Corona-Pandemie auffällig viele Verschwörungstheorien im Umlauf. Eines ist aber klar ersichtlich: In der Schweiz ist struktureller Rassismus eine Realität und Minderheiten erleben ihn täglich… Strukturellem Rassismus begegnen wir zum Beispiel im Racial Profiling, bei der Wohnungssuche oder auf dem Arbeitsmarkt. Minderheiten werden aufgrund ihres ausländisch klingenden Namens oder eben aufgrund ihrer Hautfarbe benachteiligt. Er ist alltäglich, wird aber häufig verleugnet oder nicht bewusst erkannt.
«Viele Aussagen sind nicht absichtlich beleidigend gemeint, bleiben aber trotzdem rassistische Mikroagressionen.»Stephanie Graetz
Sie sprechen von strukturellem Rassismus. Heisst das, Rassismus geschieht auch ungewollt?
Absolut, das ist richtig. Viele Aussagen sind nicht absichtlich beleidigend gemeint, bleiben aber trotzdem rassistische Mikroagressionen. Es ist von grosser Bedeutung, dass wir uns darin üben, die Perspektiven von Menschen zu verstehen, die einer Minderheit angehören. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess, den wir alle durchlaufen sollten. Wir sollten vermeiden, Worte zu verwenden, die in der Vergangenheit Schaden angerichtet haben. Nur so können wir als Gesellschaft in einer vielfältigen Gemeinschaft friedlich zusammenleben.
Kürzlich benutzten wir bei Bajour unabsichtlich einen Begriff, der einen rassistischen Hintergrund hat. Eine PoC machte uns darauf aufmerksam. Wir entschuldigten uns in einem Artikel dafür. Später nannte die BaZ die Reaktion der Leserin und unsere Entschuldigung in einem Kommentar eine «Überreaktion». Wer entscheidet, was angemessen ist?
Die Frage nach dem angemessenen Verhalten und der Bewertung von Reaktionen in solchen Situationen ist meist subjektiv und kann von verschiedenen Personen unterschiedlich beurteilt werden. Wenn eine Person darauf hinweist, dass eine Handlung oder ein Wort rassistisch oder diskriminierend ist, ist es wichtig, ihre Sichtweise anzuhören und einen konstruktiven Dialog führen.
Wer sich bei gewissen Worten unsicher ist und wissen möchte, woher das Wort «Schnorrer» kommt, ob der Ausdruck «Sonderbehandlung» historisch belastet ist oder warum man im Zusammenhang von Globalisierung besser nicht von «Globalisten» sprechen sollte, der findet Antworten im Glossar der GRA. Hier werden zahlreiche Begriffe und ihre Herkunft erklärt.
Sie haben vorhin rassistische Mikroagressionen angesprochen. Was muss man darunter verstehen?
Ein Beispiel, welches uns oft genannt wird, ist, wenn eine Person of Color andauernd und wiederholt gefragt wird «Woher kommst du?», obwohl sie zum Beispiel fliessend Schweizerdeutsch spricht. Mit solchen Fragen gibt man implizit der Person das Gefühl, dass sie nicht von hier sei, weil sie eine andere Hautfarbe hat und sie darauf reduziert wird. Solche Fragen und Aussagen sind meist nicht absichtlich böse gemeint, aber für die Betroffenen ist diese wiederholte Ausgrenzung ermüdend und verletzend.
Der GRA werden auch antisemitische Vorfälle gemeldet. In der Schweiz sind Nazi-Symbole noch immer nicht verboten …
Das ist für uns absolut unverständlich. Menschenverachtende Symbole haben in der Öffentlichkeit nichts verloren und wir begreifen nicht, dass ein demokratischer Rechtsstaat diese nach wie vor erduldet. Hakenkreuz und Hitlergruss stehen sinnbildlich für eine Ideologie und sind nicht mit den Grundprinzipien eines Rechtsstaates vereinbar. Aktuell liegen mehrere politische Vorstösse zu einem Verbot von menschenverachtenden Symbolen im öffentlichen Raum bei der Rechtskommission des Ständerates und wir hoffen, dass Mitte Oktober – also noch vor den eidgenössischen Wahlen – darüber entschieden wird. Wir sehen hier auch eine Notwendigkeit, da wir aus den Schulen erfahren, dass das «Dritte Reich» aktuell wieder hochgelebt wird.
Wirklich?
Erschreckenderweise ja. Wir erhalten viele Anfragen von Lehrer*innen, die uns um Unterstützung bitten, da die Ideologie des Zweiten Weltkriegs sich offenbar im Aufwind befindet und die Erinnerungskultur immer mehr verloren geht.
Was empfehlen Sie den Lehrer*innen?
Das kommt auf die Bildungsstufe an. Als GRA Stiftung haben wir zum Beispiel ein Bildungsprojekt namens «Zitatkarten – Antisemitismus im Alltag». Denn Antisemitismus und judenfeindliche Sprache ist nach wie vor tief in der Gesellschaft verankert und latent. Die Zitatkarten ermöglichen der Stufe Sek I und Sek II, sich interaktiv damit auseinanderzusetzen. Ein weiteres Projekt ist unsere Website stopantisemitismus.ch. Auch unterstützen wir Bildungsreisen zu Shoah-Gedenkstätten, sodass die Erinnerungskultur gepflegt wird.
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