Dieser Pseudo-Realismus geht mir auf die Nerven
Generationenübergreifend spielen sich die pensionierte Protestlerin Anita Fetz und die klimabewegte Aktivistin Pauline Lutz die Bälle zu. Heute spricht Pauline über ihre Zweifel am Kapitalismus.
Liebe Anita
Ich zweifle. Woran ich zweifle? Ich zweifle am endlosen Wachstum, ich zweifle an unseren starren Hierarchien und ich zweifle daran, dass «das alles halt so ist» und damit alternativlos. Ich zweifle an unserem Wirtschaftssystem. Ich zweifle, ob wir so weiterleben können. Und vor allem zweifle ich, ob wir so weiterleben wollen. Kennst du diese Zweifel?
Diese Zweifel kommen nicht irgendwoher. Ich stehe am Rand des Kohleabbaugebiet Hambach, es ist Sommer 2019. Der Bergbau ist riesig. Kilometerweit braunschwarze Erde, Schutt soweit mein Auge reicht. Das ist er also, der Kompromiss zwischen Wirtschaft und Natur. Diese schier endlose Umweltzerstörung lässt meine altbekannten Zweifel ins Unendliche wachsen. Ich bin am europäischen Klimastreik in Nordrhein-Westfalen und angesichts des Tagebaus macht mir dieses eine Wort, vor dem sich so viele scheuen, keine Angst mehr: Antikapitalismus. Ich bin antikapitalistisch. Für mich war das ein Wendepunkt.
Die Klimakrise, die ich hier vor mir sah, Menschenrechtsverletzungen, von denen ich durch meinen Aktivismus bei Amnesty International mitkriegte, Kriege, über die ich in den Zeitungen las. Die immer grösser werdende Schere zwischen Arm und Reich. Der Kapitalismus basiert auf der Illusion, dass es Vermögenswerte gibt, die die Fähigkeit besitzen zu wachsen. Das können sie allerdings nicht.
Wir leben auf einem endlichen Planeten. Das heutige Wirtschaftswachstum geht immer auf Kosten einer anderen Ressource. Es ist sozusagen eine konstante Umverteilung, vom Regenwald in den wachsenden Palmölmarkt und vom Portemonnaie der Kleinbäuer*innen in die Gewinnbilanz der Saatgutkonzerne. Es sind natürliche Werte wie die Biodiversität und saubere Gewässer, die dem Wachstumszwang weichen.
Ich glaube nicht an eine soziale Marktwirtschaft oder an einen grünen Kapitalismus, denn diese Modelle erkennen zwar die Probleme, lösen sie jedoch nicht. Sie sind vielmehr eine Pflästerlipolitik. Ich will echte Lösungen und keine Symptombekämpfung.
«Der Wachstumszwang unserer Wirtschaft muss überwunden werden.»
Ich kann verstehen, dass viele Menschen nicht so viel mit dem Begriff Antikapitalismus anfangen können, denn beim Antikapitalismus scheint es in erster Linie um die Ablehnung eines bestehenden Systems zu gehen, anstatt eine Alternative zu bieten. Einfach nur anti-sein halt.
Ausserdem hat das Wort einen geschichtlichen Hintergrund, der für viele Menschen abschreckend ist. Doch mir wurde irgendwie bewusst, dass ich das Kind beim Namen nennen möchte. Der Wachstumszwang unserer Wirtschaft muss überwunden werden.
Antikapitalistisch zu sein, heisst zu erkennen, dass es vielen Menschen in Westeuropa materiell gut geht und dass wir auch einfach mal chillen können. Chillen mit unserem Warenfetisch, chillen mit dem Druck zu immer mehr und mehr und mehr. Mehr arbeiten, mehr Häuser, mehr Produktivität. Wir könnten die dadurch gewonnene Zeit dafür benutzen, unsere eigenen Menschenleben über Profit zu stellen.
«Zu Wohlstandszeiten werden Gewinne privatisiert und zu Krisenzeiten Schulden vergemeinschaftlicht.»
Das alles ist komplett unrealistisch? Der Kollaps des Kapitalismus' wird schon seit Jahren vorausgesagt, aber trifft nie ein? Nein, vielleicht gab es bis anhin nicht den einen grossen Kollaps. Aber es gibt andauernde massiv strukturelle Probleme und kleinere Krisen: die Finanzkrise 1999 und 2008, die jetzige Wirtschaftskrise wegen Corona, etc. Diese Krisen überwinden wir aber gerade nur, weil der Staat massiv Geld in die sogenannt freie Wirtschaft buttert und sie so am Laufen hält. Zu Wohlstandszeiten werden Gewinne privatisiert und zu Krisenzeiten Schulden vergemeinschaftlicht.
Ja, vielleicht könnten wir einfach so weiterleben und mit sozialunverträglichen Mitteln das Gröbste der Umweltzerstörung abwenden. Aber dieser Pseudo-Realismus geht mir auf die Nerven. Er wird ausnahmslos von privilegierten Menschen unterstützt: «So war es schon immer und alles andere ist unrealistisch.» Weisst du, liebe Anita, ich glaube Utopie zu träumen, das ist der neue Realismus. Lösungen für die Umweltkatastrophe innerhalb des Systems zu suchen, dass diese verursacht hat, ist für mich leider unrealistischer als jegliche Utopie.
Die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen.
«Pour ce qui est de l’avenir, il ne s’agit pas de le prévoir, mais de le rendre possible.»Antoine de Saint Exupéry, Citadelle, 1948
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Pauline Lutz (2002) engagiert sich bei der Basler Klimajugend und studiert internationale Beziehungen in Genf. Die Kleinunternehmerin und ehemalige Ständerätin Anita Fetz (1957) politisierte bei der SP.