Ein Monat Krieg – Eugenia schaut zurück
Am heutigen Tag ist es Eugenia Senik besonders wichtig, einen Text zu veröffentlichen. Manche ihrer Freundinnen haben sich an den Krieg gewöhnt, doch die ukrainische Schriftstellerin trifft jede neue Nachricht wie die erste.
Wenn ich mir den Donnerstagsmorgen vor einem Monat ins Gedächtnis rufe, an welchem die Welt sich auf Anhieb geändert hat, scheint es mir, dass ich jede Minute dieses Tages mit klarer Genauigkeit nachgestalten könnte.
In der Nacht auf den 24. Februar habe ich kaum eine Stunde geschlafen. Nicht, weil ich den Einmarsch ahnen konnte, aber weil ich mich unglaublich schlecht fühlte. Am Tag zuvor hatte ich meine 3. Impfung und die Nebenwirkungen rissen mich stark aus dem Schlaf. Ich habe meinen Freund geweckt, um zu sagen, dass wir vielleicht zur Notfallstation müssen, so schlecht ging es mir. Wir haben aber entschieden noch ein bisschen zu warten.
Langsam ging es mir besser und danach wieder schlecht. So geisterte ich die ganze Nacht zwischen dem Bett und dem Sofa im Wohnzimmer herum. Dabei las ich ohne Pause die Nachrichten. Als ich um 4 Uhr 33 entschied, es doch mit dem Einschlafen zu probieren, bekam ich eine kurze Nachricht von meinem Kollegen aus Kyiv: «Sie bombardieren uns». In der Ukraine war es 5 Uhr 33 und wenige Minuten später hatte ich schon die Bestätigung der Invasion von unserem Präsidenten auf Instagram gehört.
Eugenia Senik (35) ist eine ukrainische Autorin. Seit August 2021 lebt sie in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Für ihr Studium zog es sie nach Basel, wo sie Literaturwissenschaften im Master studiert.
Ich vergass sofort, wie schlecht es mir vor kurzem noch gegangen war. Adrenalin verbreitete sich blitzschnell im Blut. Und damit ging ich rasch ins Schlafzimmer zu meinem Freund: «Steh auf, es hat angefangen». Ohne weitere Erklärungen verstand er alles sofort, weil wir schon mehrere Wochen angespannt lebten.
Danach folgten Messages und Telefonate mit meinen Freunden und meiner Schwester. Jemand war schon auf dem Weg in die U-Bahn, jemand sass erschüttert wach im Bett und fragte nur, was man eigentlich machen soll, während man bombardiert wird, jemand anderes schlief aber immer noch ruhig. Egal, ob man die schrecklichen Nachrichten einige Minuten später oder früher erfuhr, wir alle haben an diesem Tag einen emotionalen Elektroschock bekommen.
«Die Welt und die Wirklichkeit werden nie mehr dieselben» – höre ich seitdem von vielen Freunden, die sich gerade in verschiedenen Städten der Ukraine befinden. Und ich stimme ihnen zu.
«Was soll man eigentlich tun, während man bombardiert wird?»Freundin von Eugenia
Ich habe nicht die Bombardierung, Raketen und Militärflugzeuge über meinem Kopf erlebt, aber auch für mich wurde die Welt nicht mehr dieselbe. Viele Stützen, an welche man sich bis vor kurzem halten konnte, wurden auf einmal zerstört. Das Gehirn lehnt es immer noch ab, an diese grausame und verrückte Realität zu glauben. Viele wollen immer noch erwachen und rausfinden, dass es nur ein kollektiver Alptraum war. Auch am neunundzwanzigsten Morgen in der Reihe fühlt es sich an, als sei es erst geschehen.
Vom 24. Februar bis zum 24. März liegt der kürzeste Weg im Jahr und doch scheint dieser Monat unvorstellbar lang zu sein. Als ob er ein unendlicher Tag wäre und gleichzeitig ein doppeltes Schaltjahr. Egal, womit wir diesen Monat vergleichen könnten, wollen wir alle, dass dieser Krieg so schnell wie möglich sein Ende findet. Dass die Ukraine sich von der Dunkelheit befreit und dass wir uns endlich auf neue Aufgaben konzentrieren und ausrichten können.
«Ich gewöhne mich an diesen Krieg. Und genau das versetzt mich in Schrecken.» – teilte mir eine Freundin mit.
Seit Kriegsbeginn in der Ukraine hat die ukrainische Autorin, Eugenia Senik, ihre Gedanken bei Bajour aufgeschrieben. Ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen kannst du nun auch als Podcast hören. Eugenia hat die Texte selber eingesprochen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch diese Worte unterschreiben könnte. Mich betreffen und verletzen die Nachrichten jeden Tag immer noch gleich. Ich kann mich immer noch nicht richtig über etwas freuen, mein Schlaf bleibt seit einem kurzen-langen Monat untief und fragmentarisch. Meine Nichte erzählt mir jeden Morgen beim Frühstück, dass ihre online Schulstunde wieder abgesagt wurde, weil der Lehrer oder die Lehrerin sich im Keller wegen dem Fliegeralarm verstecken musste. Auch ihre Freundin, mit der sie das Videospiel Minecraft spielt, und die nun im Flur weilt, weil es da am sichersten ist, muss früh am Abend Schluss machen, da man den Strom ausschalten muss.
Hat meine Nichte sich an den Krieg gewöhnt?
Keine Ahnung. Sie erzählt diese Geschichten ziemlich alltäglich. Und genau diese Alltäglichkeit erschreckt mich und trifft mich zutiefst.
Weil ich immer noch damit kämpfe, mich an diesen Krieg zu gewöhnen. Und ich möchte, dass dieser ganze Kriegsmonat einer und ein letzter sein wird, den wir in unseren Herzen markieren müssen wie eine tiefe Kerbe im Stamm des Baumes.