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Lutz/Fetz

Ich bin gegen den Antikapitalismus

Generationen-Ping-Pong: Pauline Lutz bekannte sich in ihrem Aufschlag zum Antikapitalismus. Jetzt kontert Anita Fetz: «Du verwirfst pauschal die soziale Marktwirtschaft, die du in deinem Alter gar nicht mehr erlebt hast.»

01/04/21, 03:00 AM

Aktualisiert 01/04/21, 08:39 AM

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«Es war der Einstieg in die Abstiegsgesellschaft», sagt Anita Fetz über den Neoliberalismus.

«Es war der Einstieg in die Abstiegsgesellschaft», sagt Anita Fetz über den Neoliberalismus. (Foto: Max Böhme via Unsplash)

Dieser Pseudorealismus geht mir auf die Nerven

Dieser Pseudorealismus geht mir auf die Nerven

Sie glaube nicht an eine soziale Marktwirtschaft oder an einen grünen Kapitalismus, schrieb die klimabewegte Pauline Lutz letzte Woche und fragte die pensionierte Protestlerin Anita Fetz: «Kennst du diese Zweifel?»

Liebe Pauline

Deine Zweifel kann ich gut verstehen. Dass du die Utopie im Antikapitalismus siehst, auch – immerhin bin ich Mitglied einer Partei (SP), welche «die Überwindung des Kapitalismus» in ihrem Programm hat. Doch daran glauben tu ich nicht.

Was heisst das denn konkret?

Die Abschaffung des Privateigentums.

Und dann, wie geht es weiter? Alle Macht dem Staat?

Ob der Ausstieg aus den Fossilen dann schneller ginge, wage ich zu bezweifeln.

Du verwirfst pauschal auch die soziale Marktwirtschaft, die du in deinem Alter gar nicht mehr erlebt hast, weil sie heute kaum mehr existiert. Als ich Ende der 70er Jahre Volkswirtschaft studierte, war in Theorie und Praxis sonnenklar, dass Gewinne von privaten Firmen für das Gemeinwohl stark besteuert und zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen verteilt wurden – mittels Lohnerhöhungen und sozialer Sicherheit. Der Abstand zwischen arm und reich war in Europa während den rund 30 Jahren sozialer Marktwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg sehr viel kleiner.

«Unter dem Diktat des Neoliberalismus' wurden weltweit die Steuern massiv gesenkt, die soziale Absicherung durchlöchert, die Preise und Löhne gedrückt.»

Nein, es war nicht alles besser. Vieles davon ging auch auf Kosten der Umwelt und der Menschen im Süden. Aber was du heute als Kapitalismus kennst, hätte mein damaliger Volkswirtschaftsprofessor als finanziellen Monopolkapitalismus verurteilt, in dem etwa 150 globale Konzerne (gemäss einer ETH-Studie) weltweit dominieren und ihre Interessen politisch durchsetzen.

Der kapitale Sündenfall geschah in den 90er Jahren, als Clinton, Blair und Schröder den Finanzmarkt deregulierten. Sie waren der irrigen Meinung, dass dies mehr Arbeitsplätze schaffen würde. Das Gegenteil war der Fall. Nun wurden die Aktionär*innen und Manager*innen zu den grossen Gewinner*innen. Unter dem Diktat des Neoliberalismus' wurden weltweit die Steuern massiv gesenkt, die soziale Absicherung durchlöchert, die Preise und Löhne gedrückt.

Die ökonomische Heilslehre hiess nun Trickle-down: Wer oben reich wird, sorgt dafür, dass nach unten auch ein paar Krümel fallen. Dafür wurde auf Teufel komm raus das Wachstum global gesteigert. Damit der Kuchen immer grösser wird und die Reichen immer reicher werden, statt dass er, wie in Zeiten der sozialen Marktwirtschaft, umverteilt wurde. Es war der Einstieg in die Abstiegsgesellschaft.

«Wenn ein Öltanker auf dem Meer zerbricht, erhöht das den Wert des BiP, weil alle Aufräumungsarbeiten ins BiP einfliessen, die Verseuchung des Meeres hingegen nichts kostet.»

Dann kamen die digitalen Tech-Konzerne, die seit etwa zehn Jahren eine neue Dimension des Monopolkapitalismus' darstellen, gekoppelt an eine riesige Daten- und Beeinflussungsmacht. Dies alles hat mit Marktwirtschaft kaum mehr etwas zu tun, mit sozialer schon gar nicht. Es gilt nur noch: the winner takes it all.

Nichts ist alternativlos, wenn Menschen es wollen. Und Utopien sind wichtig dafür. Aber sie müssen eine positive Zukunftsvision beinhalten. Für mich ist dies der Systemwechsel zur öko-sozialen Kreislaufmarktwirtschaft.

Dazu braucht es ein paar grundsätzliche Stellschrauben, die verändert werden müssen. Die Monopolfirmen müssen aufgespalten werden, so wie das in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Eisenbahn- und Ölmonopolen geschehen ist.

Das Bruttoinlandprodukt (BiP) als Gradmesser für den Wohlstand einer Volkswirtschaft – das allen Regierungen der Welt als Massstab dient – beinhaltet nur alle Waren und Dienstleistungen. Nicht jedoch die Care-Arbeit der Menschen oder den ökologischen Reichtum, geschweige denn den Verbrauch von Ressourcen. Im Gegenteil: Wenn ein Öltanker auf dem Meer zerbricht, erhöht das den Wert des BiP, weil alle Aufräumungsarbeiten ins BiP einfliessen, die Verseuchung des Meeres hingegen nichts kostet.

Erst, indem wir den Wert ökologischer Ressourcen und die menschliche Betreuungsarbeit benennen und in die nationale, respektive globale, Buchhaltung einbeziehen, können wir vom Wachstumsimperativ unserer heutigen globalen «just-in-time-Wirtschaft» wegkommen – gekoppelt natürlich an ein stark progressives Steuersystem, das Energie und Digitalisierung miteinbezieht. Wenn Firmen für fossile Stoffe bezahlen müssen, überlegen sie es sich zweimal, ob sie ihre Güter rund um den Globus karren wollen. Das Resultat: Viele Branchen werden wieder lokal angesiedelt.

Wir haben auch eine Wachstumsperspektive.

Das ist unter anderem der Kern des Green New Deal. Entscheidend für diese ökonomischen Transformation ist ein gesellschaftlicher Wertewandel: weg vom immer mehr, immer schneller, immer billiger. Hin zu Qualität statt Quantität, Wiederverwenden statt Wegwerfen, Vielfalt statt Monokultur.

Auch das Konzept der «Commons» der Politikwissenschaftlerin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom finde ich anregend: Verkürzt gesagt, definiert sie gesellschaftliche Allmende, die nicht vermarktet werden, weil sie allen gehören. Das sind unter anderem Wasser, Wälder, Boden aber auch open-source-Angebote, dezentrale Energieversorgung in Genossenschaften etc. Ebenfalls interessant ist die Gemeinwohl-Ökonomie. Da gibt es schon Tausende von Firmen und Gemeindeprojekte, die so funktionieren.

Du siehst, es gibt viele inspirierende Ansätze, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft neu denken und entsprechend handeln können. Man sieht sie noch wenig, weil sich die Medien und auch die meisten Universitäten bisher wenig dafür interessieren. Aber sie entwickeln eine grosse Dynamik – weltweit. Der Antikapitalismus ist dagegen eine abstrakte, graue Vision, die kaum mehr jemanden hinter dem Ofen hervorlockt.

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Die Kleinunternehmerin und ehemalige Ständerätin Anita Fetz (1957) politisierte bei der SP. Pauline Lutz (2002) engagiert sich bei der Basler Klimajugend und studiert internationale Beziehungen in Genf. 

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