Raue Strasse unter warmen Füssen – Heidi Waldmeier schlägt sich durch
Der Armutbetroffenen wurde vom Leben wenig geschenkt. Ein Porträt aus dem Herzen einer abgebrannten Kleinbasler Gesellschaft.
Waldmeier, 50 Jahre alt, eine kleine Frau mit roten Haare, roten Lippen, hat sich etwas Glitzer um die Augenlieder gestäubt. Sie ist Armutsbetroffene und wohnte lang an der Rheingasse 17. Seit klar ist, dass sie dort so schnell nicht wieder einziehen kann – der Brand vom vergangenen August hat das Haus, in dem viele arme Leute wohnten, schliesslich bis auf die Grundmauern versengt – geht sie wieder öfter zum Schwarzen Peter, dem Verein für Gassenarbeit auf der anderen Seite des Rheins.
Dort kriegt sie Socken. Die Socken kommen von Greti Schranz, die Bajour vergangene Woche porträtierte. Schranz sitzt in einer Zweizimmerwohnung in Münchenstein, und strickt, und sagt Sätze, die ein bisschen nach Kalenderspruch klingen. Aber als wir Heidi Waldmeier jetzt fragen, ob das denn stimme, was Frau Schranz sagt, dass zwei warme Füssen die Würde notleidender Menschen bewahren, da sagt Waldmeier: «Das stimmt! Da hat die Frau Schranz sehr recht!»
Heidi Waldmeier und Greti Schranz sind zwei Frauen mit vollkommen unterschiedlichen Schicksalen. Die eine hat eine warme Wohnung und tut Gutes. Die andere sagt, ihr Hund sei heute ihr bester Freund. Beide sind in armen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen. Sie sind sich nie begegnet und doch sind die beiden Geschichten durch diese Wolle in den Händen von Schranz und an den Füssen von Waldmeier irgendwie zusammengesponnen.
Ende der Metapher.
Zeitungen für warme Füsse
Waldmeier ist kurz ganz gerührt von diesem Satz von der Frau Schranz, weil der für sie so richtig klingt. Dann erzählt sie: «Mein Vater, der war Bauer in Hellikon AG und sterbensarm. Er hat sich zum Arbeiten Zeitungen in die Schuhe gesteckt, um warme Füsse zu haben. Er hat zu mir gesagt: Heidi. So lange du Zeitungen in die Schuhe steckst, hast du warm.» Sie hat das zwar nie gemacht, aber Waldmeier trägt heute immer Socken, auch im Bett. «Selbergestrickte Socken vom Schwarzen Peter, das ist das A und O», sagt sie.
Mit 14 Jahren ist Waldmeier zum ersten Mal aus Hellikon nach Basel abgehauen. Die Mutter war krank. Zwei Geschwister waren tot, über die anderen drei mag sie heute nicht reden. Eine Nonne, Schwester Maria, gabelte sie auf dem Barfüsserplatz auf. Und weil sich die Heidi weigerte, ihr Alter zu nennen und nur sagte, sie müsse Geld verdienen, brachte sie die Schwester ins Felix Platter Spital, wo Heidi Waldmeier im Pavillon D fortan alte Menschen pflegte. Das Geld brachte sie heim zum Vater.
Sie machte eine Weiterbildung zur Pflegeassistenz und für ein paar Jahre war es gut. Sie heiratete, wohnte über dem Warteck in einer schicken Wohnung und hiess fortan, naja, es sei ein edelklingender Name gewesen. Heute spuckt sie den Namen mit Ekel über den Tisch dieser Kleinbasler Kneipe. Manchmal erschien sie mit schwarzen Flecken unter den Augen zur Arbeit. Sie sei gestürzt, sagte sie dann den Schwestern. Aber als ihr der Mann auch noch den Arm auskugelte, sagte der Oberarzt auf der Arbeit, wenn sie so weiterlebe mit dem Typen, sei sie mit 30 tot.
Männergewinsel
Also Auszug, grosses Theater. Der Mann heiratete kurz darauf eine andere, Heidi Waldmeier aber hatte alles verloren. Und es sollte nicht das einzige Mal bleiben. «Vier Mal habe ich alles verloren im Leben», sagt Waldmeier. Sie erzählt von Männern, die kamen und gingen und koksten und sie belogen und wieder angewinselt kamen, wenn es ihnen schlecht ging. Sie erzählt von vielen Umzügen von einer in die nächste Wohnung, von Rastlosigkeit und Krankheiten. Von Toten. Im Leben von Heidi Waldmeier sind viele Menschen gestorben. Manche lagen tage- oder wochenlang nur eine Zimmerwandbreite von ihr getrennt nebenan und wurden von Kakerlaken zerfressen. Da hat sie schon in der Rheingasse gewohnt. Aber da müsse man nun auch nicht mehr gross drüber… Das sei ja jetzt… Vorbei sei das.
Vorbei seis mit der Rheingassen 17. Nicht vorbei mit dem Sterben, das gehe weiter. Nur eben woanders.
Heidi Waldmeier hat sich derweil einen neuen Hund zugetan, einen goldenen Akita Inuit. Und zwei Katzen, damit der Hund nicht so alleine sei. Das Futter muss sie selber bezahlen, was mit dem bisschen Sozialhilfe – es sind knapp unter tausend Franken Franken im Monat – ganz schön ins Geld gehe. Manchmal kriegt sie etwas Tierfutter vom Schwarzen Peter. Waldmeier schlägt sich durch.
Sie sei selber ganz sicher nicht immer die Einfachste gewesen, sagt Waldmeier selbstkritisch, während sie von Streitereien und aufgebrachten Besuchen bei Bekannten erzählt. Bei Lügen und Ungerechtigkeiten platzt ihr der Kragen.
Andere werden Milliarden erben
Ihr Portemonnaie andererseits, das platzt ob all der Visitenkarten von Behörden und Anlaufstellen aus allen Nähten. Immer wieder holt sie eine der Karten hervor, um etwas zu beweisen. Aber wir sind hier nicht beim Tribunal für Lebensgerechtigkeit.
Wir werden an dieser Stelle darauf verzichten, die verlogene Mär aufzuwärmen, wonach es jeder schaffen könne, wenn er sich nur Mühe gebe und ein bisschen Glück gehöre eben auch immer dazu, vom Tellerwäscher zum Millionär, etcetera, blabla. Manche Menschen kriegen vom Leben auf die Schnauze. Anderen werden im Jahr 2020 insgesamt 95 Milliarden Franken erben. Und dritte setzen sich dafür ein, dass Menschen wie Heidi Waldmeier die Sozialhilfe gekürzt wird.
Aber sie lässt sich nicht unterkriegen, sie schlägt sich durch. Waldmeier arbeitete, so lange sie konnte. Es waren stets schlechtere Jobs als der erste im Pavillon D des Felix Platter Spitals. Zuletzt arbeitete sie für 5 Franken die Stunde im Jobshop an der Wallstrasse. Dann musste sie gehen. Und jetzt will sie erst mal eine rauchen.
Beim Schwarzen Peter kennen sie die Frau Waldmeier gut. Sie halten dort viel von ihr und ihrer Fähigkeit, sich um Menschen in ähnlicher Lage zu kümmern. Beim Schwarzen Peter sagen sie, Frau Waldmeier sei «die Gute Seele der Rheingasse».