«Mahnungen interessieren mich nicht»
Bis zu 40 Prozent der Basler Gefängnisinsass*innen sitzen im Knast, weil sie ihre Bussen oder Geldstrafen nicht bezahlen können. Die Linke versucht nun, diesen Ersatzfreiheitsstrafen und somit einer Kriminalisierung der Ärmsten entgegenzuwirken.
«Irgendwann kommen sie und holen mich, dann bin ich halt wieder ein paar Wochen weg», sagt Werner* und zündet sich am Küchentisch seiner betreuten Wohnung an der Voltastrasse eine Zigarette an. Mit «weg» meint er «im Knast». Denn Werner gehört zu jenen Menschen, die ihre Bussen oder Geldstrafen nicht bezahlen können und deshalb immer mal wieder im Gefängnis landen. Im Fachjargon spricht man von Ersatzfreiheitsstrafen, die der knapp 50-Jährige schon mehrmals hat absitzen müssen. Zuletzt vor 15 Jahren. Doch auch im Moment hat er wegen Schwarzfahrens wieder drei Bussen offen. Er erhält Mahnungen, doch, so sagt er: «Die interessieren mich nicht, ich kann sie ja eh nicht bezahlen».
Werner ist kein Einzelfall: Im Jahr 2023 waren in der Schweiz 53 Prozent aller Gefängniseinweisungen Ersatzfreiheitsstrafen. Im Kanton Basel-Stadt sind es seit 2020 zwischen 25 und 40 Prozent. Meist sitzen die Inhaftierten für einige Tage, es können aber auch Wochen oder Monate werden. Und manche von ihnen werden gleich mehrmals pro Jahr eingewiesen.
Überbelegung der Gefängnisse
Die Kritik am Konzept der Ersatzfreiheitsstrafen ist breit. Denn sie führen nicht nur zu einer Überbelegung der ohnehin stark belegten Gefängnisse sowie zu Kosten für die Allgemeinheit; so kostet eine inhaftierte Person den Staat pro Tag über 300 Franken. Hochgerechnet ist das ein zweistelliger Millionenbetrag jährlich. Ersatzfreiheitsstrafen werfen aber auch gesellschaftliche Fragen auf: Sie führen oft zum Verlust der Arbeitsstelle, zu sozialem Abstieg und zu gesellschaftlicher Isolation.
«Einen Monat hast du Geld, im nächsten nicht, und kannst du mal nicht bezahlen, holen sie dich trotzdem.»Werner, von Armut betroffen (Name der Redaktion bekannt)
Für Werner, der selbst von einer Drogensucht betroffen ist, war das Schlimmste daran, dass er hinter Gittern «auf den Aff» kam: «Der kalte Entzug war heftig», erinnert er sich. Dieser mache Süchtigen, die sich in keinem Suchtprogramm befänden und deshalb keine Substituierung also Ersatzsstoffe bekämen, am meisten Angst: «Du hast Angst, dass es dir scheisse geht. Dafür hast du, sobald der Entzug durch ist, gewissermassen Ferien, bekommst dreimal am Tag zu essen, kannst trainieren oder arbeiten.» Auch, dass er seinen damals 4-jährigen Sohn im Knast nicht sehen konnte, machte ihm zu schaffen. Heute, da er substituiert ist, hat Werner keine Angst mehr, eingesperrt zu werden, «aber klar: toll ist es nie».
Neben Suchtkranken sind es vor allem Asylsuchende ohne Aufenthaltsrecht, die von Nothilfe leben, oder mittellose, von Armut betroffene Schweizer*innen, die auch in Basel Ersatzfreiheitsstrafen absitzen. Viele von ihnen treffen auf sprachliche Hürden beziehungsweise sind administrativ überfordert. Das erschwert oder verunmöglicht ihnen, alternative Vollzugsformen überhaupt auszuloten. Oder aber sie wollen sich schlicht nicht darum bemühen, weil manche zumindest im Winter sogar froh sind, ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein Dach hinter Gittern. Auch dieses Klientel gibt es.
Alternative Vollzugsformen gäbe es allerdings einige: So können Betroffene statt Ersatzfreiheitsstrafen abzusitzen auch gemeinnützige Arbeit leisten. Oder, sofern sie die nötigen Voraussetzungen dafür erfüllen, auch elektronische Fussfesseln oder Halbgefangenschaft, wo die Klient*in die Freizeit in der Institution verbringt, beantragen. Mit diesen alternativen Vollzugsformen sollen möglichen Haftschäden wie eben Wohnungsverlust oder soziale Desintegration entgegengewirkt werden. Auch können Bussen in Raten bezahlt werden. Doch Werner sagt: «Einen Monat hast du Geld, im nächsten nicht, und kannst du mal nicht bezahlen, holen sie dich trotzdem.»
Tücken der gemeinnützigen Arbeit
Aber auch die gemeinnützige Arbeit hat ihre Tücken, müssen die Betroffenen doch ein Minimum an Absprachefähigkeit aufweisen. Doch Randständige sind oft schwer zu erreichen. Und sowieso: «Wenn du auf der Strasse bist, gehst du keine Bussen abschaffen», meint Werner ein wenig spöttisch. So ist die Anzahl an Personen in der gemeinnützigen Arbeit in den letzten Jahren denn auch rückläufig: Im Zentrum Klosterfiechten, das für den Kanton Basel-Stadt alle besonderen Vollzugsformen unter einem Dach vereint, absolvieren pro Jahr nur 120 bis 200 Personen gemeinnützige Arbeit. Auch beim Kanton scheint die Motivation, mehr auf gemeinnützige Arbeit zu setzen, begrenzt, ist sie doch immer auch mit grossem Aufwand verbunden, weil die Betroffenen intensiv betreut werden müssen.
«Dass so viele Menschen wegen eines fehlenden Tram- oder Zugbillets ins Gefängnis kommen, ist doch total absurd.»Adriana Ruzek, Gassenarbeiterin beim Schwarzen Peter
Auf Nachfrage bei verschiedenen Basler Beratungsstellen zeigt sich, dass Beratungen, wie man Bussen oder Geldstrafen durch gemeinnützige Arbeit abarbeiten kann, nur punktuell in Anspruch genommen werden. Der Tenor: Sie rennen uns nicht die Bude ein. So sagt Adriana Ruzek, Gassenarbeiterin beim Schwarzen Peter: «Wir haben nur wenige Fälle, für die wir versuchen, gemeinnützige Arbeit zu beantragen.» Die drohenden Ersatzfreiheitsstrafen sieht sie kritisch, Betroffene tappten dadurch leichter in eine Schuldenfalle, weil sie versuchten, in ihrem Umfeld das Geld aufzutreiben und sich dadurch weiter verschuldeten.
Gemäss den Erfahrungen durch die Beratungsstellen würden wohl auch mehr Ressourcen für niederschwellige Angebote nur bedingt etwas an der Situation verbessern.
«Das Beste wäre ein vergünstigtes ÖV-Ticket für Obdachlose», findet Werner. Ein vergünstigtes Ticket würde er bezahlen können, aber der volle Preis reue ihn als «Sozi», also als Sozialhilfebezüger. Diese Meinung teilt Ruzek: «Dass so viele Menschen wegen eines fehlenden Tram- oder Zugbillets ins Gefängnis kommen, ist doch total absurd.»
Keine finanziellen Voraussetzungen
Dabei ist wenig überraschend, dass Schwarzfahren gemäss einer Zürcher Studie überdurchschnittlich oft der Grund ist, wieso Ersatzfreiheitsstrafen abgesessen werden müssen: Anders als beim Autofahren bedarf es fürs Schwarzfahren keinerlei finanzielle Voraussetzungen. In Basel werden gemäss Toprak Yerguz, Leiter Kommunikation beim Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement, jedoch Konflikte mit dem Strassenverkehrsgesetz als Hauptgrund genannt, sprich: Falschparken kann auch ins Gefängnis führen.
«Ideen gäbe es viele, aber keine Mehrheiten.»Melanie Nussbaumer, SP-Grossrätin
Ruzek kritisiert, dass Transportunternehmen, die eine Person mehrmals beim Schwarzfahren erwischen, Strafantrag bei der Staatsanwaltschaft wegen «Erschleichens einer Leistung» ausstellen können. Die Staatsanwaltschaft kann dann einen Strafbefehl ausstellen. Wer die Rechnung nicht begleicht, wird betrieben. Und wenn auch die Betreibung nicht in einer Bezahlung mündet, dann wird die Busse schliesslich in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt. Gesetzlich dazu verpflichtet wären die Unternehmen nicht.
Sowohl die SBB als auch die BVB beziehen sich auf Anfrage von Bajour auf die Tarifbestimmungen der Alliance Swisspass, geben jedoch an, jeden Fall einzeln zu prüfen. In Deutschland verzichten manche Städte wie Köln nun ganz auf eine Strafanzeige. Und auf nationaler Ebene gibt es in Deutschland ebenfalls Bestrebungen, das Fahren ohne Ticket zu entkriminalisieren.
Politische Vorstösse
In der Schweiz ist man noch nicht ganz soweit, aber auch unter der Bundeshauskuppel ist ein Vorstoss der Waadtländer SP-Nationalrätin Jessica Jaccoud zu Ersatzfreiheitsstrafen hängig, der nach Möglichkeiten sucht, wie Armut von der Justiz nicht mehr bestraft werden könnte. In ihrer Interpellation fragt Jaccoud: «Welche Delikte werden heute als Übertretungen geahndet und könnten allenfalls straflos bleiben?» Im Gespräch mit Bajour sagt sie, mit ihrer Anfrage abtasten zu wollen, ob der Bundesrat sich in der Sache offen zeige. Falls ja, werde sie einen Vorstoss nachreichen, der konkrete Lösungen fordere. Die Entkriminalisierung von Schwarzfahren wäre ihrer Meinung nach eine davon.
Auch in Basel-Stadt ist die Linke am Thema dran. So wollte SP-Grossrätin Melanie Nussbaumer bereits 2022 in einer schriftlichen Anfrage von der Regierung mehr über Zahlen und Umgang mit der Ersatzfreiheitsstrafe wissen. Gemeinsam mit ihren Mitstreiter*innen brütete sie zudem an einem Freiheitsfonds, wie Deutschland ihn bereits kennt. Mit diesem werden Menschen, die ihre Busse nicht bezahlen können, freigekauft. Nussbaumer sagt: «Ideen gäbe es viele, aber keine Mehrheiten.» Und verweist auf den Vorstoss ihrer Grossrats-Kollegin Lisa Mathys, die bereits erfolglos ein «Basel-Soli-Ticket» gefordert hatte.
Abschreckende Wirkung?
So dürfte die Mehrheit nach wie vor der Meinung sein, dass es die abschreckende Wirkung der Gefängnisstrafen braucht und dass das Gesetz für alle gilt. So sagte Stefan Weiss, Sekretär der Deutschschweizer Strafvollzugskonkordate, in einem Beitrag von Swissinfo: «Wenn man die abschreckende Wirkung nicht hat, dann könnte das natürlich zur Folge haben, dass viel mehr Leute ebenfalls gegen das Gesetz verstossen.» Es werde das Strafrechtssystem angewendet, das in der Schweiz so gewollt sei. Für eine Veränderung müssten Bundesparlamentarier aktiv werden.
Und das werden sie nun. Denn die abschreckende Wirkung ist nicht in Stein gemeisselt. So sagt Jessica Jaccoud: «Wer kein Geld hat, sich ein Ticket zu kaufen, wird dies auch nach einem Aufenthalt im Gefängnis nicht tun. Weil er oder sie es nicht kann.» Die Antwort des Bundesrats ist in der Sommersession zu erwarten.
*Name der Redaktion bekannt
Dieser Artikel erscheint im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit Neustart, ein gemeinnütziger Verein, der Beratung für Straffällige und deren Angehörige anbietet.