«Es ist wie in einem Hamsterrad»

Samira hat vor 30 Jahren Steuerschulden gemacht und kommt seitdem nicht mehr aus der Schuldenspirale raus. Mit diesem Problem ist sie nicht alleine – Ein neues Projekt will nun Abhilfe schaffen.

Steuern
Für viele Menschen schwierig: Das Ausfüllen der Steuererklärung. (Bild: Keystone / Gaetan Bally)

Wir treffen Samira* am Montagnachmittag in einem kleinen Kaffee am St. Johanns Bahnhof. Sie kommt gerade von der Arbeit. Die 50-Jährige hat einen Job in der Pflege. «80 Prozent und der fünfte Tag der Woche habe ich Schule für meine Ausbildung.»

In der Facebook-Gruppe «Gärngschee – Basel hilft» hat sie unseren Post entdeckt, in dem wir fragen, ob jemand Steuerschulden hat. Daraufhin hat sie sich per Mail gemeldet, in der Hoffnung, dass ihre Geschichte anderen hilft. 

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Am 27. April veröffentlichte Gärngschee-Superfrau Sandie diesen Post. Daraufhin meldete sich Samira bei uns.

Wie kam es dazu, dass Samira Schulden hat?

Vor 30 Jahren war Samira drogenabhängig, heute ist sie clean. Aber mit den Folgen dieser Zeit lebt sie noch immer. «Damals habe ich meine Steuererklärung nicht eingereicht – und wurde mehrere Male eingeschätzt.» Schlussendlich häuften sich 11’000 Franken Schulden, die sie nicht bezahlen konnte. 

Wie die Steuerbehörde auf diesen Betrag kam, weiss Samira nicht. Ihr Ex-Mann hätte ihr damals helfen können, wollte aber nicht. Als sie eingeschätzt wurden, hat er das Land verlassen und Samira blieb auf den Schulden sitzen. «Seit dem ist es wie in einem Hamsterrad, aus dem man nicht mehr herauskommt.»

Ihr Schuldenberg wächst seitdem an, weiter und weiter. Jedes mal wenn Samira zum Briefkasten läuft, kriegt sie Panik. «Arztrechnungen der Kinder, Krankenkassenschulden plus die Steuerschulden haben haben sich bis heute auf eine Summe von über 16’000 Franken angehäuft». Der Lohn den sie bekommt, wird direkt verpfändet und einen Schweizer Pass bekommt sie wegen den Schulden auch nicht. «Und das obwohl ich Migrantin zweiter Generation bin. Bereits meine Eltern waren in der Schweiz.» 

«Luxus wie Ferien liegt für mich nicht drin.»
Samira

Und gerade hier, in der «reichen» Schweiz, haben wenige Verständnis für die Situation von Samira. «Einmal musste ich mir anhören, ich sei doch selber Schuld. Vielleicht bin ich das ja zu einem gewissen Teil», meint sie. «Aber wenn du einmal Finanzprobleme hast, kommst du da nicht mehr so einfach raus.». 

Obwohl sie 80 Prozent arbeitet, lebt sie sehr eingeschränkt. «Luxus wie Ferien liegt für mich nicht drin», erzählt sie. «Ich arbeite nur, um Rechnungen zu bezahlen.» Nun sollte sie wieder eine Steuererklärung machen, hat aber Angst davor. Was, wenn sie wieder einen Fehler macht, und dann mehr Steuern zahlen muss, als sie eigentlich aufgrund ihres Lohnes sollte? «So ging es mir letztes Jahr.» Sie bräuchte jemanden, der ihr erklärt, wie das geht und sie über ihre Rechte und Pflichten aufklärt, einen Steuerberater, «aber den kann ich mir wohl kaum leisten».

Um eine solche Schuldenspirale zu verhindern, muss man vorne anfangen

Samiras Schuldenberg begann mit einer offiziellen Steuereinschätzung. Das passiert, wenn man die Steuererklärung nicht, zu spät oder falsch abgibt. Dann wird man von der Steuerverwaltung eingeschätzt. Sie berechnen ausgehend von den Informationen, die sie über die Person haben, wie viele Steuern sie bezahlen muss. Der geschätzte Steuerbetrag fällt meist höher aus, als die Person hätte zahlen müssen, wenn sie die Steuererklärung rechtzeitig und korrekt abgegeben hätte.

mir hälfe
Das Plakat von «mir hälfe».

Steuereinschätzungen sind der häufigste Grund für Schulden in der Schweiz. 2018 hat die Steuerverwaltung Basel-Stadt 5’578 Steuereinschätzungen verschickt, über 70 Prozent der eingeschätzten Personen wurden nach dem Prozess betrieben – also hatten 3’905 Personen danach Steuerschulden. Ein neues Projekt, mit dem einfachen Namen «mir hälfe» soll nun Menschen dabei helfen, nicht in die Falle der Steuerschulden zu tappen, bevor diese entstehen: bei der Steuererklärung. 

Hätten sie auch Samira helfen können, als sie drogenabhängig war und ihre Steuererklärung nicht abgeschickt hat? 

Über «mir hälfe»

«mir hälfe» will amtliche Steuereinschätzungen verhindern. Das Projekt ist ein Zusammenschluss verschiedener sozialer Organisationen, darunter Plusminus, die JuAr Basel und die Caritas beider Basel. Wer Hilfe braucht, seine*ihre Steuererklärung auszufüllen, kann sich an den Infoladen von Plusminus wenden, dieser hilft, die benötigten Dokumente aufzutreiben und zusammenzustellen. Anschliessend werden die Dokumente und die Steuererklärung an den Steuererklärungsdienst des Basler Gewerkschaftsbunds, der GGG Steuern oder worktrain gegeben, welche die Steuererklärung ausfüllen. Das Pilotprojekt läuft für ein Jahr finanziert von der Christoph Merian Stiftung. Bei Erfolg werde man alles daran setzen, eine Finanzierung für die Folgejahre zu finden, wie die Organisatoren auf ihrer Website schreiben.

Ja, meint Agnes Würsch, Verantwortliche Prävention von Plusminus, sie ist für die Sensibilisierungsarbeit und den öffentlichen Auftritt zuständig. Man sensibilisiere gerade Beratungsstellen, dass sie die Personen, die vorbeikommen, nach der Steuererklärung fragen und sie bei Bedarf an «mir hälfe» weiterleiten. Samira zum Beispiel, die Angst davor hat, einen Fehler bei der Steuererklärung zu machen, kann sich Hilfe bei ihnen holen. «Sie kann im Infoladen von Plusminus vorbeikommen und wir helfen ihr, alle benötigten Unterlagen zusammenzutragen.» 

«Steuereinschätzungen bilden oft den Anfang einer Schuldenspirale.»
Agnes Würsch, Verantwortliche Prävention

Seit einer Woche läuft das Projekt, doch bis jetzt gibt es erst wenige Anmeldungen. erklärt Agnes Würsch. «Im Moment laufen Werbeaktionen, zum Beispiel auf den Bildschirmen in den Poststellen der Stadt.» Die kurze Dauer sei der Grund dafür, dass das Projekt noch wenige Nutzer*innen hat. «Wir hoffen sehr, dass das Angebot genutzt wird. Es ist ein Pilotprojekt für ein Jahr. Wenn wir Erfolg haben, werden wir alles dafür tun, eine Folgefinanzierung zu finden, damit es weitergeht.» 

Das würde auch Samira freuen, denn sie sucht eine Stelle, an die sie sich regelmässig wenden könnte, um ihre Steuererklärung auszufüllen. Eine Steuereinschätzung möchte sie auf jeden Fall verhindern. Wie ihr ergeht es auch anderen, weiss Agnes Würsch, die oft mit Schicksalen wie jenes von Samira konfrontiert ist. «Steuereinschätzung bilden oft den Anfang einer Schuldenspirale», meint sie. Aus einer Studie wisse man, es sind oft Personen in einer krisendominierten Situation, gescheiterte Selbständige, Personen mit Wissensdefizit oder Verweigerungshaltung, die Steuererklärung nicht auszufüllen. «‹Mir hälfe› richtet sich an die erste Personengruppe.»

Samira hofft, dass sie ihre Schulden in zehn Jahren abbezahlt hat. «Dann habe ich noch fünf Jahre bis zur Rente, und hätte im Alter nicht ständig diesen Druck auf den Schultern.» Dann geht sie vielleicht zurück in das Heimatland ihrer Eltern. «Dort habe ich etwas Land, und kann mit Geld ein anständiges Leben leisten und in Würde sterben.» Das ist ihr wichtig. Dass das in der Schweiz nicht der Fall wäre, ist sie sich sicher.

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* aus Gründen des Personenschutzes haben wir diese Geschichte anonymisiert

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