Freiheit und Anarchie auf der Tagada
Eine Liebeserklärung an die tollste Bahn der Herbstmesse.
Die spektakulärste Bahn der Herbstmesse steht in Halle 1 und heisst Tagada. Zunächst ist diese Bahn eine der wenigen Mäss-Ereignisse, bei denen die Bahn gleich toll ist wie die Gäste. Und zwar von innen betrachtet, also für die, die mitmachen. Als auch von aussen gesehen. Nirgendwo stehen mehr Zuschauer*innen als vor der Tagada.
Die Tagada hat eine soziale Anziehungskraft, die alle anderen Spassschleudern in den Schatten stellt.
Das Prinzip der Tagada ist simpel. Die Bahn besteht aus einer Drehscheibe, auf der sich am äusseren Rand Sitzbänke befinden, axial zum Mittelpunkt ausgerichtet. Mittels Druckluft werden Auf- und Abbewegungen erzeugt und dadurch gerät dann der Inhalt, sprich, das Publikum, in Bewegung. Besser: Es wird durcheinandergeschüttelt wie eine Handvoll Würfel beim Zocken.
Darum nennt man die Tagada auch Schüttelbecher. Auf Wikipedia ist zu lesen, die Bahn sei mit dem Deutschen Hopser artverwandt. Eine Runde dauert drei Minuten. Schirme und Stöcke sind auf der Bahn nicht erlaubt. Es gibt Popsongs über die Tagada:
Kommen wir zum Publikum. Es handelt sich hierbei schwerpunktmässig um Vertreter*innen der sogenannten Jugend. Die Jugend im Jahr 2022 trägt bauchfreie Shirts und tiefsitzende Hosen. Stilistisch handelt es sich gewissermassen um eine Angleichung oder soll man sagen: Verschmelzung mit dem popkulturellen Vibe dieser vollkommen aufgeballerten Messeattraktion aus den geilen, freien 90er Jahren.
Nie waren wir frei wie in den 1990er Jahren. Folgerichtig ist neben einem mittelschweren Schleudertrauma die Freiheit das eigentliche Versprechen dieser Attraktion. Wobei sich Freiheit und Anarchie je nach Zusammensetzung des Publikums die Hand reichen wie alte Freunde.
Anarchie, von altgriechisch anarchia, bezeichnet einen Zustand der Abwesenheit von Herrschaft. Das stimmt zwar auf der Tagada nur teilweise, wie zu zeigen sein wird, aber Ansätze von Anarchie sind vorhanden. Zum Beispiel spucken Teile der Jugend kurz nach Betreten der Tagada dicke Rotzklumpen auf den Boden, damit die weissen Sneaker auf dem Boden nicht ausrutschen, wenns nachher schüttelt.
Nun gehört es allerdings zu den eisernen Gesetzen dieser Höllenmaschine, dass niemand stärker ist, als die Tagada, weshalb jene, die den beim Anstehen mühsam in der Mundhöhle gesammelten Speichel auf den Boden entleerten, kurz nach Anwendung der rutschfest-Massnahme in ebendiesem Speichel über den Boden schlittern wie Pinguine.
Chrigel Ramsauer ist der Boss
Nun nochmal zum Thema Herrschaft, denn die Abwesenheit derselben ist Blasphemie, wie man mit Blick in das Kassenhaus feststellen muss. Dort sitzt Chrigel Ramsauer, der Rittmeister, und schreit eigentlich nonstop Befehle ins Mikrofon.
LASS DIE TÜRE LOOOOS!
HE HALLO, LOSLASSSENN!
FÜSSE RUNTER!
HINSETZEN, ES GEHT LOS, SCHNELLER GEHTS, HALLO, LASS DIE TÜRE LOS!
AB DIE TÜTE!
ESMERALDA, DU SOLLST DICH HINSETZEN!
Ramsauer weiss gar nicht, ob die junge Frau wirklich Esmeralda heisst, aber es ist ihm egal. Für Befindlichkeiten ist hier kein Platz, denn Ramsauer will grundsätzlich nur, dass die Kundschaft keinen Unfall hat. Also gibt er ihr Fantasienamen und sagt, sie soll sich hinsetzen, bevor die Tagada im Finale der Dreiminutenschüttelei in den furiosen Schleudergang schaltet. Wer dann nicht sitzt, hat ein Problem. HE HALLO LASS DIE TÜRE LOS.
Chrigel Ramsauer, 59 Jahre alt, seit 29 Jahren Geschäftsführer der Tagada, sagt, es braucht einen Chef und das sei er. Ramsauer ist streng, dabei hat er durchaus eine liebevolle Beziehung zu seinen Gästen, erzählt er. «Ich bin der Aufpasser!»
Ramsauer hat an einer silbernen Kette einen Fünfliber als Schmuckstück um den Hals hängen. Für soviel Geld kann man auf der Tagada mehr als einmal durchdrehen. Vier Stutz kostet eine Reise. Darum ist die Bahn unter anderem so beliebt, sagt Ramsauer, also zumindest bei den Kids. Andere Schausteller*innen sind ungern in der Nähe der Tagada. Ramsauer holt sein Handy raus und zeigt Fotos vom letzten Samstag. Tatsächlich. Die Menschentraube vor der Bahn ist beträchtlich. Wer gegenüber der Tagada einen Stand hat, der*die hat Pech, weil «die haben nur die Arschparade», sagt Ramsauer.
Heisst: Die sehen vor allem die Rücken der Leute, die auf die Tagada wollen. In diesem Jahrgang ists allerdings nicht so schlimm, da stehen in Halle 1 lediglich zwei Boxkästen gegenüber der Bahn. Ramsauer: «Aus meiner Sicht ist das auch nicht ganz optimal, weil diese Kraftmeieren machen aggressiv». Und aggressive Leute sind dann aber das Allerletzte, was der Ramsauer gebrauchen kann, darum ist er auch so bossy zur Kundschaft. LASS DIE TÜRE LOS.
Jugendbetrachtung mit Ramsauer, der sagt, sein Zielpublikum sei zwischen 9 und 18 Jahre alt und habe überwiegend Kinder und Jugendliche, mit nicht so viel Geld. Aha, und warum ist die Tagada gerade bei diesem Publikum beliebt? «Weil sie hier showen können», sagt Ramsauer. Wie bitte? «Naja, die Jugendlichen haben im Alltag nicht dieselbe Bühne», sagt der Ramsauer. «Wir verkaufen nicht nur Vergnügen. Wir verkaufen Aufmerksamkeit!»
Flirten ist auf der Tagada in Ordnung, aber wer übergriffig wird, fliegt raus.
Kurz nochmal hinschauen, was der Ramsauer mit «showen» meint: Das Radialsystem Tagada hat einen Sweet Spot und das ist die Mitte. Dort kann man stehen und lässig ausbalancieren und cool ins Publikum schauen während links und rechts die Gliedmassen durcheinanderfliegen wie Spaghetti im Abtropfsieb. Ramsauer hat noch einen anderen Ausdruck fürs Showen: sich privilegieren. Es ist wirklich ein Vergnügen diesem Mann zuzuhören, aber man muss den Zauber ja auch nicht zerreden, darum nur noch ein paar letzte Hot Takes zur Tagada:
Flirten sei auf der Tagada in Ordnung, aber wer übergriffig wird, fliegt raus. Eigentlich ist das Aufstehen auf der Tagada grundsätzlich verboten, aber in Basel sieht das der Ramsauer in der ersten Phase der Fahrt nicht so streng. Warum nicht? Weil sich die Jugendlichen in Basel einigermassen an die Regeln halten, das sei in anderen Städten ganz anders. Da gingen die Kids aufeinander los und rauften herum, kaum zündete der Hopser den Start.
Ramsauer manövriert das ganze Teil übrigens manuell. Er hat Knöpfe für alle Schüttelmodi und wenn er HINSETZEN sagt und es wird nicht gefolgt, dann gibts eben keine wilde Finalissima, sondern das Licht geht an und ciao zämme, links ist der Ausgang.
Und so ist also der Chrigel Ramsauer in seiner kleinen, engen Schaustellerkabine mit allerlei Aufgaben betraut, wenn er auf die Knöpfe drückt und die Musik ballert und die Lichter blinken und das Stroboskop zuckt und er durchs Mikrofon ruft und allgemein achtgeben muss, dass sich niemand was bricht, aber das Spasslevel hoch bleibt, kurz, man muss den Arbeiter und Unterhaltungskünstler irgendwie bewundern für das, was er ist:
Der Discjockey des heissesten Plattentellers auf der Basler Herbstmesse.
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