«Unser Angebot muss niederschwellig sein»
Über 180 verschiedene Selbsthilfegruppen sind über die kantonale Fachstelle für Selbsthilfe in der Region Basel gegründet worden. Co-Leiter und Sozialarbeiter Serge Kunz erzählt, wie die Selbsthilfe der beiden Basel arbeitet.
Sei es die Trauer um ein verstorbenes Haustier, eine ADHS-Diagnose oder die Vergangenheit in einer Familie, die von Narzissmus geprägt ist: Bei der Selbsthilfe meldet sich, wer in einer schwierigen Lebenslage steckt und allein nicht mehr weiterkommt. In Basel ist das Zentrum Selbsthilfe seit 40 Jahren an der Feldbergstrasse zuhause. «Unser Angebot ist niederschwellig, wir bringen Menschen zusammen, die ein ähnliches Leiden haben», sagt Serge Kunz. Er leitet das Zentrum gemeinsam mit Katharina Rübsaamen. Kunz ist ausgebildeter Sozialpädagoge und seit Oktober 2022 in der Selbsthilfe tätig.
Im Zentrum Selbsthilfe geht es also darum, Menschen zusammenzubringen: «Wer Ängste hat, tiefe Trauer empfindet, oder mit anderen Problemen zu kämpfen hat, fühlt sich oft einsam. Hier sollen sie erfahren, dass es andere gibt, denen es ähnlich geht», sagt Kunz.
«Wir alle haben narzisstische Probleme, sie sind aber nicht immer krankhaft.»Henri Dreyfus, Psychotherapeut
Zu den häufigsten Anfragen gehört zurzeit das Thema Narzissmus. Den Grund dafür sieht Kunz in der hohen Medienpräsenz, die dieses Thema seit einiger Zeit hat. «Oft melden sich Menschen, die in einem Narzissmus-geprägten Umfeld aufgewachsen sind», sagt er. Durch die Diskussion in den Medien finde eine Enttabuisierung statt, die den Betroffenen dabei helfe, sich bei der Selbsthilfe zu melden: «Viele Menschen, die so aufgewachsen sind, leben in der ständigen Angst, selbst Narzisst*innen zu sein, und suchen den Austausch mit anderen Betroffenen», so Kunz.
«Schlagworte liefern uns eine Benennung für ein Unwohlsein»
Der Psychotherapeut Henri Dreyfus spricht demnach von einer Popularisierung des Begriffs: «Ich beobachte solche Wellen seit 30 Jahren. Ein neues Schlagwort wird durch die Medien gezogen. Immer mit dem Hintergrund der Enttabuisierung. So entstehen aber auch Ungenauigkeiten», erklärt er. Was diese Modebegriffe aber auch liefern, ist eine greifbare Bezeichnung für ein Unwohlsein oder einen Schmerz, der erlebt wurde. Somit kann bei Betroffenen ein Gefühl von Sicherheit entstehen, das Problem nun angehen zu können. Dreyfus sagt dazu: «Ich als Therapeut höre meinen Patient*innen zu und will wissen, was genau passiert ist, ob man das jetzt toxisch oder narzisstisch nennt, ist für mich zweitrangig.»
Dass viele Menschen mit Problemen rund um das Thema Narzissmus in die Selbsthilfe kommen, wundert ihn nicht: «Wir alle haben narzisstische Probleme, sie sind aber nicht immer krankhaft. Neben dem Hirn, das sich entwickeln muss und dem Körper, der wachsen muss, gehört auch der narzisstische Bereich zu uns. Und in diesem Bereich dreht sich alles um das Wort ‹selbst›, also Selbstwahrnehmung, Selbstwert etc.», sagt er.
«Wir bieten das Gerüst für die Gruppen, wir sind aber keine Therapeut*innen und haben keine pädagogische Aufgabe.»Serge Kunz, Sozialpädagoge und Co-Leiter Zentrum Selbsthilfe
«Auch wenn es Narzissmus überall gibt und man aus wissenschaftlicher Sicht die Unterscheidung zwischen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung und einer narzisstischen Belastung machen sollte, sind Gesprächsgruppen extrem hilfreich. Die Idee der Selbsthilfe ist grandios. Menschen gehen dorthin, damit es ihnen besser geht, damit sie von ihrem Leiden schneller erlöst werden. Das ist Therapie», sagt Dreyfus. Grundsätzlich sei es gut, dass sich Menschen treffen und zusammen eine Lösung suchen. Das Teilen, das gegenseitige Stützen und das Gefühl, dass andere mittragen, seien starke Inputs auf eine schmerzende Seele, erklärt der Psychotherapeut.
Wie arbeitet die Selbsthilfe?
Das Ziel der Gesprächsgruppen ist die Autonomie. Kommt eine Gruppe zustande, wird ein erstes Treffen gemeinsam mit jemandem vom Zentrum durchgeführt. Das ist nötig, um mit den Teilnehmer*innen die Eckpunkte der Treffen zu vereinbaren: «Wir definieren den Sinn, das Ziel und den Zweck der Gruppe. Wichtig ist, dass die Teilnehmer*innen den Inhalt selbst definieren können.» Danach treffen sich die Teilnehmenden autonom.
Erst nach vier bis sechs Monaten kommt wieder ein*e Mitarbeiter*in vom Zentrum für eine Standortbestimmung dazu. Falls es dazwischen Konflikte gibt, kann jedoch ein*e Sozialarbeiter*in für ein helfendes Gespräch hinzugezogen werden. «Wir bieten das Gerüst für die Gruppen, wir sind aber keine Therapeut*innen und haben keine pädagogische Aufgabe», erklärt Zentrums-Co-Leiter Kunz.
Bei den Angeboten der Selbsthilfe gehe es darum, eine möglichst hohe Resilienz zu erzeugen. So sollen die Teilnehmer*innen befähigt werden, Krisen zu bewältigen, und dies aus eigenem Antrieb, aus eigener Kraft heraus. «Es soll nicht ausschliesslich darum gehen, Frust und Leid abzuladen, sondern in einem nächsten Schritt besprochen werden, wie ein Problem angegangen werden kann», erklärt Kunz. Dass das Angebot hohen Anklang findet, zeigen die Zahlen: Die Selbsthilfe der beiden Basel betreut derzeit insgesamt 180 Gruppen zu 90 verschiedenen Lebensthemen.
Geführte Gesprächsgruppen und Schreibwerkstätte
Das Zentrum Selbsthilfe bietet auch moderierte Gruppen an. Das sind einerseits Gesprächsgruppen, Kreativ-Gruppen, die Junge Selbsthilfe und eine Schreibwerkstatt. «Die Kreativ-Gruppen haben nicht das Gespräch im Vordergrund. Es geht darum, etwas zu erschaffen, sei es mit Ton, Pinsel oder Stift und Papier. Und erst nach dem kreativen Prozess kann, wer will, etwas darüber erzählen.» Ähnlich ist es in der Schreibwerkstatt: «Dort wird zum Beispiel ein Thema definiert, sei das Liebe, Angst oder Einsamkeit. Und dann dürfen die Teilnehmenden etwas darüber schreiben.»
Das Zentrum ist zudem mit vielen sozialen, wie auch klinischen Anlaufstellen in den beiden Basel gut vernetzt: «Wenn eine Person bei uns nicht reinpasst, vermitteln wir sie an eine passende Stelle», sagt Kunz. Das sei beispielsweise der Fall, wenn jemand therapeutische Hilfe benötige: Unsere Gruppen sind nicht fachgeführt. Die Aufgabe der Mitarbeiter*innen des Zentrums Selbsthilfe ist es, den Rahmen für Gespräche zu bieten und Hilfe beim Finden von Lösungen zu leisten.»
Um noch mehr Menschen zu erreichen, schwebt Serge Kunz und seinem Team ein offenes Haus vor. «Eine Art Jugendzentrum für Erwachsene, wo man zu Bürozeiten reinkommen, sich austauschen und uns kennenlernen kann», sagt er. Damit spricht Kunz die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen an: «Derzeit läuft die Anmeldung über das Telefon oder Mail. Es gibt aber auch Menschen, die einfach gerne mal vorbeischauen würden, unverbindlich. Um uns und das Zentrum kennenzulernen. Das würde ihnen die offene Tür ermöglichen», erklärt er und fügt an: «Selbsthilfe muss so niederschwellig wie möglich sein.»
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