Vergewaltigung: Wer tut so was? Eine Spurensuche
Häufig steht bei Vergwaltigung das Tun des Opfers im Fokus der Öffentlichkeit. Wir wollen wissen: Was sind das für Männer, die vergewaltigen?
Am vergangenen Sonntag hat in Basel eine Frau eine Vergewaltigung angezeigt. Der Täter, so schreibt es die Staatsanwaltschaft in ihrer Mitteilung, habe die Frau in der Nacht von Samstag auf Sonntag in einem Club angesprochen und sei von ihr abgewiesen worden. Als die Frau gegen vier Uhr morgens den Club verliess, sei ihr der Mann («ca. 175 Zentimeter gross, aufrechte Haltung, sicheres Auftreten») nachgegangen, und habe sie trotz Gegenwehr in einer Fussgänger*innenunterführung bei der Heuwaage vergewaltigt. Ni una Menos! «Nicht eine weniger», skandierten zirka 150 Personen, die am Tag nach der Tat eine Demonstration abhielten. In Trauer und Wut und Solidarität mit der Betroffenen. Politiker*innen forderten ein gesellschaftliches Umdenken und Kameras.
Wieder hat ein Mann offenbar das Nein einer Frau nicht akzeptiert und sich stattdessen mit Gewalt genommen, was er wollte. Wieder wird eine Frau mit den Folgen dieser masslosen Selbstüberhöhung leben müssen. Wieder geht ein gellender Aufschrei durch die Gesellschaft und wieder fragen sich die Menschen:
Wer tut so etwas?
Die Reaktionen spiegeln in Teilen die ohnmächige Wut, wieder nichts mitgekriegt, wieder nichts gehört und gesehen, wieder nicht reagiert zu haben. Das war schon im Fall an der Elsässerstrasse so, als im Februar 2020 zwei Männer eine Frau nach dem Ausgang im Windfang ihres Hauses vergewaltigten. Die Ladenbesitzer und Angestellten der Geschäfte in der Nachbarschaft quälte damals der Gedanke, zur Tatzeit in der Nähe gewesen zu sein, ohne etwas tun zu können.
Das Urteil gegen einen der Täter der Vergewaltigung an der Elsässerstrasse führte im August 2021 zu einer hitzigen Debatte, nachdem das Appellationsgericht das Strafmass korrigierte. Das Opfer trägt niemals eine Schuld. Welche Umstände gelten als strafmildernd für den Täter? Auch das neue Sexualstrafrecht braucht Interpretationsspielraum. Bajour berichtete.
Im aktuellen Fall eines weiteren Sexualverbrechens kam zu den üblichen Forderungen noch eine weitere gefährliche Reaktion dazu. Auf Instagram wurde ein Foto herumgereicht, das den angeblichen Täter in der Tatnacht zeigen soll. Aber: Recherchen der bz zeigten, das Foto ist zwei Wochen alt und wurde manipuliert. Ein Aufruf zur Selbstjustiz. Die Gefahr, dass so ein Unschuldiger einer Tat bezichtigt wird, die er nicht begangen hat: gross. Die Unschuldsvermutung: missachtet. Wer sich an der Verbreitung solcher Bilder beteiligt, macht sich strafbar, sagt die Staatsanwaltschaft.
Die Strafverfolgung ist Sache der Behörden. Die brennende, gesellschaftliche Frage bleibt: Wer tut so etwas?
Um diese Frage einzukreisen, haben wir mit Expert*innen gesprochen. Ein Phantombild werden wir nicht zeichnen, Mutmassungen über den aktuellen Fall sind tabu. Wir sprechen über Muster und versuchen aufzuschlüsseln, was eigentlich gemeint ist, wenn Politiker*innen von einem «gesellschaftlichen Problem» sprechen?
Es gibt bereits einige Versuche, den öffentlichen Raum und insbesondere die Party-Szene besser vor sexuellen Übergriffen zu schützen. 2019 lancierte die Opferhilfe beider Basel mit mehrere Clubs und Bars die Initiative «Wo ist Luisa». Personen, die sich bedrängt fühlen, können sich mit diesem Code an der Bar melden und werden unverzüglich vom Barpersonal an einen sicheren Ort gebracht. Veranstalter*innen, die eher dem linken Spektrum zugeordnet werden können, arbeiten an Partys in Basel seit Jahren mit Awareness-Konzepten, die in Form von Plakaten im Club oder einem abgetrennten, signalisierten Bereich sichtbar gemacht werden. Die Jugend- und Präventionspolizei wiederum geht auf Anfrage mehrmals pro Jahr mit Jugendlichen nachts an einschlägige Orte in der Stadt und trainiert mögliche Reaktionen, wenn sich Konfliktsituationen abzeichnen. Das Programm heisst 180° Grad.
Einer, der sich intensiv mit Formen gruppenspezifischer Gewalt auseinandersetzt, ist Dirk Baier. Er ist Leiter des Instituts Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und lehrt zu Jugendkriminalität, Gewaltkriminalität und Extremismus. Baier sagt zunächst, es sei wichtig, nach einer Vergewaltigung den Täter in den Blick zu nehmen, denn es sei in jedem Fall falsch, «dem Opfer hinterher Tipps zu geben, wie es sich anders hätte verhalten können.»
Um extrem rücksichtslose Formen von Gewaltanwendung zu verstehen, arbeitet Baier mit einem Konzept, das in der Kriminalprävention und Forensik in den frühen Nullerjahren Schule machte: die «Gewaltlegitimierende Männlichkeitsnorm».
Dieser Begriff beschreibt ein männliches Selbstverständnis, das weit zurückreicht in eine Zeit, in der das Gewaltmonopol noch nicht einem Staatsapparat gehörte. Gewalt war Alltag: «Der Mann musste eine Wehrhaftigkeit demonstrieren und Hab und Gut auf eigene Faust verteidigen. Dazu gehörten in diesem antiquierten Verständnis auch Frau und Kind.»
Baier und seine Kolleg*innen beobachten, dass Männer, die extrem rücksichtslos gewalttätig werden, solche selbstermächtigenden Züge noch heute in sich tragen. Aber wir leben im Jahr 2021. Die Justiz ist keine Erfindung von gestern. Wie kann es sein, dass Männer heute noch dieser gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnorm aufsitzen?
Hier wird Baier sehr vorsichtig, er warnt vor Verallgemeinerungen. Er beobachte dieses Muster im Kontext von Jugendgewalt an Männern, die «ein Stück weit an die Wand gedrückt sind». Die keine oder wenig Anerkennung erhalten und die «nichts haben, als ihren Körper. Dieser Körper ist ihr Kapital. Das geht so weit, dass man in jeder Hinsicht versucht, über diesen Körper Anerkennung und Respekt zu erhalten.»
Kränkungen werden unter dieser Prämisse als Angriffe aufgefasst, die es abzuwehren gelte. Ein Nein im Club kann als so eine Kränkung aufgefasst werden. Eine Absage legitimiert keine Gewalt, aus Sicht der Forschung erklärt sie lediglich einen Trigger im Kontext einer bestimmten Männlichkeitsdisposition.
Im Einzelfall bleibt sie schematisch. Nicht jeder abgewimmelte Antänzer im Club wird zum Vergewaltiger. Und darum scheint uns das Modell der gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnorm auch ein bisschen zu grobkörnig gebaut.
Wann wird ein Mann im Fahrwasser dieser Männlichkeitsnorm tatsächlich zum Täter?
Vergewaltigungsdisposition und sexuelle Dominanz
Catherine Graber ist Rechtspsychologin und Gutachterin für Gerichte in verschiedenen Schweizer Kantonen. Wenn am Gericht ein Sexualstraftäter verurteilt wird, hat Graber vorher mehrere Gesprächsstunden mit diesen Tätern verbracht. Sie erhält alle Akten zum Fall und studiert die Tathergänge. Ihr Gutachten soll den Richter*innen bei der Urteilsfindung helfen. Wie hoch ist das Rückfallrisiko? Welche Massnahme ist angemessen? Graber erstellt Gutachten für Täter*innen aus mehreren Delikt-Bereichen. Ein Drittel aller Fälle, die auf ihrem Pult landen, betreffen Sexualstraftäter.
Graber sagt, sie kann nur eine Annäherung an einen Deliktmechanismus geben. Einfache Erklärungen seien gefährlich. «Nicht jeder, der sich als Macho gibt und rücksichtslos auftritt, ist auch ein Vergewaltiger».
Wer aber bei einer Annäherung sämtliche Stoppzeichen ignoriert und alle Grenzen missachtet, hat häufig als Voraussetzung eine Vergewaltigungsdisposition, oder ein problematisches Verhältnis zu sexueller Dominanz, sagt Graber. «In fast allen meiner Gutachten finde ich diese Ausgangslage.»
Eine Vergewaltigungsdisposition bedeutet, dass jemand den Wunsch hat, sexuelle Handlungen zu erzwingen und auch danach handelt. «Da sind Fantasien im Spiel, in denen der gewalttätige Sexualkontakt als attraktiv erlebt wird.» Oder es liegt das Bedürfnis nach sexueller Dominanz vor. «Da geht es darum, eine möglichst vollständige Kontrolle und Verfügungsgewalt über die Intimpartnerin oder den Intimpartner zu haben.»
Damit sich die Gewalt tatsächlich Bahn bricht, braucht es aber noch weitere Faktoren. Denn sexuelle Dominanz oder eine Vergewaltigungsdisposition erklären nur die Motivation, sagt Graber. «Bis es zu einer Vergewaltigung kommt, müssen noch weitere Hemmschwellen fallen.»
«Die Täter glauben wirklich, sie seien im Recht.»Catherine Graber, Rechtspsychologin
Das passiert, wenn ein Täter beispielsweise zusätzlich über eine Weltanschauung verfügt, die die Wahrscheinlichkeit zur Begehung bestimmter Straftaten erheblich erhöht. Graber nennt das eine «delinquenzfördernde Weltanschauung». Wenn junge Männer etwa Waffen auf sich tragen, einfach, weil ihre Kumpels dasselbe tun. Für sie ist das normal. Oder wenn sie in Beziehungen ihre Partner*innen schlagen oder vergewaltigen, weil sie der Überzeugung sind, das stehe ihnen zu. Graber: «Diese Anschauung ist oftmals tief in der Persönlichkeit der Täter verankert, sie glauben wirklich, sie seien im Recht.»
Anders als bei der Dissozialität. Diese beschreibt eine Persönlichkeitsstruktur, bei der den Tätern komplett egal ist, was andere über sie denken. Regeln und Normen werden nicht verbogen und in eine neue Weltanschauung gegossen. Sie werden einfach ignoriert. «Das ist eine andere Sorte Täter», sagt Graber.
Wie diese Persönlichkeitsbilder entstehen, darüber mag Catherine Graber nicht spekulieren. «Ich arbeite lediglich mit dem, was mir jetzt in Form von Risikoeigenschaften entgegenkommt und versuche, Täterprofile aufzuschlüsseln».
Wir haben versucht, die Skizzen der Rechtspsychologin mit realen Fällen abzugleichen. Dazu haben wir mehrere Anklageschriften gesichtet, die am Strafgericht Basel zu Gerichtsverfahren wegen Schändung oder Vergewaltigungen geführt haben. Oder deren Prozesse noch bevorstehen. Anklageschriften sind keine Urteile. Die Schilderungen des Tatgerhangs entstehen vorwiegend aufgrund der Schilderungen der Klägerinnen. Ohne Urteil gilt die Unschuldsvermutung.
Keiner der hier geschilderten Tathergänge aus Opfersicht lässt sich mit einem anderen vergleichen, sie folgen alle ihrer eigenen schrecklichen Logik einer schleichenden Eskalation. Aber es gibt Berührungspunkte. Und die passen zu dem, was Graber über die Wahrnehmung und Weltanschauung von Vergewaltigern erzählte.
Die Gemeinsamkeiten
In allen dieser Fälle werden laut Anklage Stopp-Signale missachtet. Nicht eines, sondern mehrere. Die Anklageschriften skizzieren die Ereignisketten ganzer Abende, zum Teil über mehrere Stunden hinweg. Einen Grossteil dieser Zeitspanne bewegen sich die mutmasslichen Täter und Opfer gemeinsam im öffentlichen Raum, sie gehen von einer Bar in die nächste, sie besuchen einen Club, sie spazieren im Kreis ihrer Freund*innen zum Taxi. An den Abläufen gemessen sind das «normale» Abende. Die angezeigten Grenzüberschreitungen passieren nebenbei. Sie sind allgegenwärtig.
In dieser Zeitspanne werden die späteren mutmasslichen Täter laut Anklageschriften von den Frauen zum Teil mehrfach damit konfrontiert, dass es nun gut sei. Dass sie nun Abstand halten sollen, dass sie nun keinen Drink mehr zu holen brauchen an der Bar. Dass sie nun aufhören sollten mit den Annäherungsversuchen und den Küssen. Dass sie nicht mit ins Taxi zu steigen brauchen. Dass sie gehen sollen. Trotzdem kommt es laut der Anklageschriften am Schluss zum Verbrechen.
Gemeinsam ist all diesen Fällen: Die mutmasslichen Täter haben laut mehrere Neins ignoriert, bevor sie laut Anklageschrift vergewaltigen. Sie folgen offenbar ihrer eigenen Bahn. Eine der Anklageschriften adressiert einen mutmasslichen Täter, der zwei unterschiedliche Male an Vergewaltigungen beteiligt gewesen sein soll. Beide Male im Kontext von Ausgang und Nachtleben unter Alkoholeinfluss. Der Mann ist Anfang 20. Er hatte offenbar keinen Schockmoment, in dem er sich nach der ersten Tat dem grotesken Unrecht seines Tuns gewahr wurde. Er soll, so steht es aus der Anklageschrift hervor, zwei Jahre später ein ähnliches Verbrechen nochmal begangen haben.
Die Täterprofile, wie sie Graber beschreibt, werden vor Gericht zur Beurteilung angemessener Massnahmen beigezogen. Braucht es eine Verwahrung, wenn ein Täter aufgrund einer Dissoziation als unzurechnungsfähig eingestuft werden muss? Oder kann eine Therapie erfolgsversprechend sein, weil das «deliquenzfördernde Weltbild» massgeblich von der sozialen Umgebung des Täters abhängt?
Apropos soziale Umgebung: Dirk Baier sieht im Prinzip zwei Ansätze zur Unterbrechung einer Eskalationsspirale, die zu einer Vergewaltigung im öffentlichen Raum führen kann. Die eine geht von der sozialen Umgebung aus. Das können Freund*innen sein, die intervenieren. Die andere erfolgt durch Autoritäten, wie Türsteher*innen, oder patrouillierende Polizist*innen. Die Aufmerksamkeit der Umgebung insgesamt spiele in jedem Fall eine wichtige Rolle.
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Im Text schreiben wir von Tätern und Sexualstraftätern, ohne zu gendern. Dies, weil die rechtliche Auslegung des Vergewaltigungstatbestandes von einer (cis-)männlichen Täterschaft ausgeht. Dennoch sind wir uns der Unschärfe bewusst. Auch Frauen und non-binäre Personen können Täter*innen sein.