Wie als Medium mit Vorwürfen wegen sexueller Belästigung umgehen?

In den letzten Tagen sorgte ein Fall für Schlagzeilen: Ein Chefredaktor soll eine damals minderjährige Praktikantin sexuell belästigt haben. Jetzt hat er offenbar gekündigt. Der «20 Minuten»-Chef warf den Medien vor, sie würden den Fall totschweigen. Das Gegenteil ist wahr: Die Basler Redaktionen haben sich richtig verhalten. Ein Kommentar.

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Es gilt die Unschuldsvermutung.

Jetzt hat er gekündigt. Der Chefredaktor, der eine ehemalige Praktikantin und freie Mitarbeiterin sexuell belästigt haben soll, ist gegangen. Der Beschuldigte wollte sich vor weiterer Berichterstattung schützen und dem Verlag nicht mehr Schaden bereiten.

Hätte er nicht gekündigt, hätte ihm der Verlag diesen Schritt nahegelegt, wie der Verlag gegenüber Bajour bestätigt. Er bedauere, was passiert sei. Insbesondere, weil mehrere Personen Leid davon getragen hätten. Der Beschuldigte selbst reagierte nicht auf Anfragen.

Sexuelle Belästigung muss ans Tageslicht

#Metoo hat es gezeigt: Ohne Journalismus wären viele Fälle sexueller Belästigung und Gewalt nie ans Tageslicht gekommen. Am Anfang steht häufig ein mutiges Opfer, das sich traut, die Stimme zu erheben.

Deshalb ist es wichtig, dass Medien über solche Vorwürfe berichten. Jetzt kommt das «Aber»: Sie müssen das tun, ohne die Beschuldigten vorzuverurteilen oder die Intimsphäre von beiden zu verletzen. Das stellt Journalist*innen vor ein Dilemma.

Dieses Dilemma ist wichtig, um die Berichterstattung der letzten Tage einzuordnen. Kurz zusammengefasst: «Telebasel» hat die Geschichte aufgedeckt, «20 Minuten» und «Blick» haben sie nachgezogen. «BaZ», «bz», «SRF» und auch Bajour blieben still. 

Schauen wir zurück:

Am Freitag Abend* publizierte «Telebasel» den ersten Beitrag. Eine Fernsehmitarbeiterin steht vor die Kamera und erhebt mit vollem Namen Vorwürfe gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten, Chefredaktor eines regionalen Mediums. «Telebasel» hat Dokumente, welche die Vorwürfe bekräftigen. 

Der Fall ist brisant: Die junge Frau soll zu Beginn der Belästigung nicht nur die Praktikantin des Beschuldigten gewesen sein, sie war laut Bericht zum Zeitpunkt auch minderjährig (17). Und die Situation erscheint eindeutig: «Telebasel» hat Mails vorliegen, welche die Vorwürfe bekräftigen. Sie hat Anzeige bei der Polizei eingereicht.

Wie mit dem Bericht umgehen? 

Das diskutieren auch wir von Bajour am Wochenende. 

Sollen wir den Fall in unserem Newsletter vom Montagmorgen aufnehmen?

Die Relevanz ist gegeben und «Telebasel» hat die Identität des Beschuldigten geschützt, sein Name erscheint nirgends. Nur: Eine zweiminütige Google-Suche reicht Bajour, um den Namen herauszufinden. Wir beschliessen: ohne Faktencheck machen wir gar nichts. Wir wollen niemanden vorverurteilen, bevor wir die Fakten selbst nicht gesehen haben. 

Denn: Auch in solch vermeintlich eindeutigen Fällen gilt die Unschuldsvermutung. Es ist nicht einfach, sie zu wahren. Weil mit der Berichterstattung fast zwangsläufig eine  – vermutlich berechtigte – Empörung Einzug hält. 

Ausschnitt aus dem Chat zweier Bajourmitarbeitender.
Samuel und Andrea beschliessen am Samstag: Erst recherchieren, dann berichten.

Gerade wegen dieser Empörung droht eine Umkehr der Beweislast: Ein öffentlich Angeschuldigter hat kaum noch eine Chance, die öffentliche Verurteilung – falls sie zu Unrecht erfolgt war – rückgängig zu machen.

Auch wenn die Mehrheit der Anschuldigungen bei Sexverbrechen der Wahrheit entsprechen – die Möglichkeit, dass jemand unschuldig ist, besteht. Beispiel Wetterfrosch Jörg Kachelmann: Er wurde freigesprochen. Weiss das die Öffentlichkeit oder bleibt immer etwas von den Vorwürfen haften? Entsprechend sorgfältig müssen Medien in solchen Fällen vorgehen und dem in solchen Fällen schon fast reflexartige Instinkt zum Rudeljournalismus widerstehen. 

Aufgrund dieser Überlegungen beschliessen wir bei Bajour, im Hintergrund die Fakten zu checken, aber erstmals nicht zu berichten. «bz», «BaZ» und «Regionaljournal» schweigen ebenso.

Derweil dreht die Geschichte auf «20 Minuten» und «Blick» weiter. Und der Chef von «20 Minuten Basel» kritisiert das Schweigen der Medien:

Nur: Das Schweigen war, bei diesem Wissensstand, richtig. Alles andere wäre faktenfreie Bewirtschaftung der Empörung gewesen. Dreht die Geschichte weiter, droht die Intimsphäre des Beschuldigten verletzt und die Unschuldsvermutung geritzt zu werden.

Für diese Unschuldsvermutung und die Intimsphäre sind allerdings nicht nur die Medien verantwortlich, sondern auch der Arbeitgeber. Der Verlag des Chefredaktors hatte sich bislang auf die Position gestellt: So lange es kein Gerichtsurteil gibt, behält der Beschuldigte seinen Job. Der Fall sei bei der Staatsanwaltschaft hängig.

Bajour stellt sich folgende Frage: Hält der Arbeitgeber damit seine Sorgfaltspflicht gegenüber mutmasslichem Opfer und Täter ein? Solange er nicht handelt, dreht die Geschichte in den Medien weiter, es droht eine öffentliche Abstrafung des Chefredaktors. In so einem Fall wäre es wichtig, dass man als Medien dranbleibt und die Rolle des Watchdogs trägt.

Anruf beim Verlag. Der Zuständige erklärt Bajour, am nächsten Tag finde eine Geschäftsleitungssitzung statt, wo die nächsten Schritte diskutiert würden. Bajour beschliesst, diesen Entscheid abzuwarten – handelt der Verlag, gibt es keinen Grund, als Watchdog aufzutreten. Auf «20 Minuten» dreht die Geschichte derweil weiter, aber ohne neue Erkenntnisse. 

Dann am Mittwochmorgen die Nachricht: Der beschuldigte Chefredakteur hat gekündigt. Der Verlag bestätigt gegenüber Bajour diesen Schritt. 

Damit ist für Bajour klar: Die Basler Redaktionen, welche die Füsse still gehalten haben, haben ihren Job erfüllt. Sie haben nichts tot geschwiegen, sondern den Fall dort gelassen, wo er hingehört: Zur Justiz. Diese wird über den Fall richten in einem fairen Verfahren. Das ist gut und richtig so. 

PS: Eine Frage stellt sich bis zuletzt: Nach der Publikation des «Telebasel»-Berichts haben sich offenbar weitere Frauen mit ähnlichen Vorwürfen gegen denselben Chefredakteur gemeldet. Fragt sich: Wäre es nicht besser gewesen, «Telebasel» hätte diese Quellen schon vor der Publikation ausfindig gemacht? Dann hätten sie auch den Namen des mutmasslichen Opfers anonymisieren und die Identität des Täters schützen können. Aber das ist jetzt Kritik auf hohem Niveau.

* In der ersten Version stand, Telebasel hätte den Bericht am Samstag publiziert. Es war aber schon am Freitag. Danke dem aufmerksamen Leser.

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