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Zehnders Wochenkommentar

7 Learnings aus der Corona-Krise

Die schlechten Nachrichten dominieren die Medien. Aber gibt es im Elend auch positive Aspekte? Was haben wir 2020 gelernt? Wo sind wir als Menschen, als Gesellschaft weitergekommen? Was gibt uns Anlass, Hoffnung zu schöpfen für die Zukunft?

12/14/20, 03:49 PM

Aktualisiert 12/15/20, 08:44 AM

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Was können wir als Gesellschaft aus dieser Corona-Situation lernen?

Was können wir als Gesellschaft aus dieser Corona-Situation lernen? (Foto: Engin Akyurt / unsplash)

Es ist wahrlich gerade eine dunkle Zeit. Die Zahl der Infizierten schnellt wieder hoch, es gibt kaum Aussicht auf Erleichterung, der Frühling ist noch weit weg. Allein in den letzten sieben Tagen haben sich fast 700 Menschen in Basel mit dem Virus angesteckt. Wir rasch es gehen kann, habe ich diese Woche selbst erlebt: Ich bin seit ein paar Tagen in Quarantäne.

Und doch: Stecken in der Krise auch positive Aspekte? Von Max Frisch stammt der Satz: «Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.» Das ist definitiv schneller gesagt (oder geschrieben), als getan – zumal die Devise unseres Staates derzeit «Konsum statt Kirche und Kultur» zu sein scheint.

Trotzdem: Ich hatte diese Woche genug von all den negativen Meldungen und habe mich gefragt, welche positiven Entwicklungen in der Coronakrise stecken, was wir als Gesellschaft aus dieser Corona-Situation lernen können. Ich bin auf sieben Punkte gekommen. Die Medien und die Medienentwicklung klammere ich dabei aus: Den Medien widme ich mich ausführlich nächste Woche.

1) Digitalisierung funktioniert

Stellen Sie sich vor, dieses Virus hätte uns 1980 erwischt, also vor 40 Jahren. Immerhin: Die Musik wäre besser gewesen. Auf der Jahreshitparade von 1980 stand niemand geringerer als Pink Floyd auf Platz eins – mit «Another Brick In The Wall». Auf Platz zwei folgte mit «Funkytown» der Lipps, Inc. ein Wohlfühl-Song und «Boat on the River» von Styx auf Platz drei bringt zum Ausdruck, was wir gerade heute empfinden: «Take me down to my boat on the river / I need to go down, I need to come down».

Im Kino lief «Shining» und «StarWars II: The Empire Strikes Back» und Douglas Adams schrieb «Das Restaurant am Ende des Universums». Die Computer, die im Buch vorkamen, waren aber allesamt Science Fiction: In der Realität bestand die Digitalisierung aus dem Apple III und dem Commodore VIC-20. Das waren Geräte, mit denen Menschen wie ich ihre ersten Programmierversuche starten konnten, für Arbeit im heutigen Sinn waren sie aber nicht zu gebrauchen.

Stellen Sie sich vor, das Virus hätte uns 1980 ins Homeoffice vertrieben – unmöglich. Wir hätten zu Hause rein gar nichts machen können. Ausser vielleicht telefonieren. Aber das wäre saumässig teuer geworden.

Seit 2015 steht in neun von zehn Schweizer Haushalten mindestens ein Personal Computer – ganz zu schweigen von den vielen Mobiltelefonen, die um Lichtjahre leistungsfähiger sind, als es die schnellsten Rechner 1980 waren.

Die Versorgung mit schnellem Internet ist in der ganzen Schweiz sehr gut. Kurz: Die technischen Voraussetzungen für Homeoffice waren schon vor 2020 ausgezeichnet. Bloss die Firmen wollten nicht so recht. Vermutlich stand dem Homeoffice vor allem das Selbstverständnis vieler Chefs im Wege: Sie wollten ihre Mitarbeiter*innen kontrollieren können.

2020 änderte sich das auf einen Schlag: Wer im Büro arbeitet, macht heute auch Homeoffice. Sitzungen per Zoom, Skype, Hangout und Teams sind Ende 2020 selbstverständlich, auch unter Freund*innen und Verwandten schaltet man sich schnell zu einem WhatsApp-Videocall oder einem FaceTime-Gruppengespräch zusammen.

Wir freuen uns alle darauf, den Menschen nach der Impfung wieder frei begegnen zu können – die Digitalisierung und das Homeoffice werden aber nicht verschwinden. Das ist grossartig, weil es uns (ausserhalb der Pandemie) ein bisschen freier und unabhängiger macht.

2) Der Mensch bleibt ein soziales Wesen

Was ich dabei aber auch gelernt habe: Kein noch so hochauflösender Bildschirm, kein noch so ausgeklügelter Gruppenchat kann den realen Kontakt ersetzen. Wir alle vermissen die menschliche Nähe, Umarmungen von Freund*innen, sich zusammen auf ein Sofa quetschen und quatschen. Zusammen mit anderen Menschen einem Konzert lauschen oder einer Theateraufführung folgen. Die Stille nach dem letzten Ton, das tiefe Ausatmen des Publikums bevor der Applaus zu prasseln beginnt.

Bei aller Digitalisierung, bei aller Technisierung und vor allem: bei aller Ökonomisierung – der Mensch bleibt ein soziales Wesen. Beziehungen, Freundschaften, soziale (und damit auch körperliche) Nähe – gerade die Pandemie hat uns vor Augen geführt, was den Menschen ausmacht.

Das stimmt mich zuversichtlich. Computer mögen schneller und schneller werden, Datennetzwerke leistungsfähiger – die Digitalisierung wird uns nicht verschlucken. Wir Menschen haben ein Herz, das für andere Menschen schlägt, manchmal sogar heiss und brennend. Wir bleiben Wesen mit Gefühlen und einem grossen Bedürfnis nach Nähe. Und das ist gut so.

3) Die Wissenschaft ist zentral

Mein persönlicher Orientierungspunkt in diesem verrückten Jahr 2020 war ein Podcast des NDR: Das «Coronavirus Update von NDR Info» mit Christian Drosten, dem auf Coronaviren spezialisierten Virologen der Berliner Charité. Es war (trotz allem) ein Genuss, den Ausführungen von Drosten zuzuhören, wie er sorgfältig einen Weg durch den Nebel des Unwissens sucht, wie er Informationen und Studien einschätzt, eigene Befunde diskutiert, und vorsichtig Schlüsse zieht. Er sagt dabei immer wieder, dass er diese Einschätzungen als Virologe vornimmt, nicht als Politiker. Er bleibt bei seinen Leisten, nüchtern, sachlich, klar. Eine Wohltat.

Beim Hören des Podcasts mit Christian Drosten wird mir immer wieder bewusst, wie wichtig die Wissenschaften sind. Nicht nur, weil es die Anstrengungen von Tausenden von Wissenschaftler*innen sind, die uns einen Impfstoff bescheren werden, sondern weil es die Wissenschaften sind, die uns helfen, die Welt zu verstehen.

Donald Trump hat die Informationen und die Mahnungen der Wissenschaften in den Wind geschlagen – und uns gerade damit vor Augen geführt, wie wichtig sie sind. Oder wären. Damit wir weiterhin auf die Wissenschaften zählen können, brauchen wir gute Schulen, gute Ausbildungen, gute und gut ausgestattete Universitäten, Forschungsprogramme, Lehrstühle.

Ich bin zuversichtlich, dass vielen Menschen in diesem Jahr aufgegangen ist, dass all das keine Selbstverständlichkeit ist. Dass wir uns um gute Wissenschaften kümmern müssen – und zwar nicht nur um Virolog*innen und Mediziner*innen, sondern auch um Psycholog*innen, Soziolog*innen, Politolog*innen, Ökonom*innen, Germanist*innen und Philosoph*innen. Ich glaube, die Wissenschaften gehen gestärkt aus dieser Krise hervor und das stimmt mich zuversichtlich.

Eine*r für alle, alle für eine*n.

4) Internationale Kooperation ist der Schlüssel

Gerade die Wissenschaften haben uns auch vor Augen geführt, dass Alleingänge einzelner Länder in einer Krise unmöglich sind. Auch Riesen wie China und die USA sind auf internationale Zusammenarbeit angewiesen – ganz zu schweigen von so kleinen Ländern wie der Schweiz. Eine Wissenschaft, die sich auf ein Land konzentriert, gibt es nicht.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Pharmaindustrie hat sich die internationale Zusammenarbeit auf Ebene der Firmen fortgesetzt: Die raschen Erfolge bei der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten waren nur möglich, weil auch die grossen Pharmafirmen zusammenarbeiteten. Fachleute sagen, dass das Spuren hinterlassen werde: Mindestens ein Teil der kooperativen Ansätze wird bestehen bleiben.

Politisch heisst das: Wir haben vor Augen geführt bekommen, wie eng verzahnt die Welt heute ist. Im Negativen durch die rasche, globale Ausbreitung des Virus', im Positiven durch den intensiven Austausch der Wissenschaftler*innen an Universitäten und in Firmen auf der ganzen Welt.

Nein: Abschottung ist definitiv keine Option. Gerade für ein kleines Land wie die Schweiz liegt die Zukunft in der offenen Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft mit der ganzen Welt. Und ich glaube, wir alle wissen das.

5) Gesundheit und Wirtschaft sind keine Gegensätze

«Die beste Wirtschafts­politik ist, das Virus unter Kontrolle zu bringen und die Fallzahlen tief zu halten.» Das sagt kein Virologe, sondern ein Ökonom: Lorenz Küng lehrt an der Universität Lugano und hat diese Woche der «Republik» ein äusserst lesenswertes Interview gegeben. Die zentrale Aussage: «Die Angst vor dem Virus lähmt die Wirtschaft, nicht die Massnahmen» – Gesundheit und Wirtschaft sind keine Gegensätze.

Endlich kommen die Menschen zu dieser zentralen Erkenntnis. Bis jetzt hat die Wirtschaft Anstrengungen für mehr Gesundheit allzu oft als Hindernis betrachtet. Dabei ist, wenigstens mittel- bis langfristig, jedem klar, dass eine Wirtschaft nur gesund sein kann, wenn sie auch der Gesundheit bekommt. Was bringen mir kaufkräftige Kund*innen, wenn mein Produkt sie früher oder später umbringt?

Ich hoffe, dass die Wirtschaft diese Lektion generell lernt. Dass die Nahrungsmittelindustrie es sich ebenso zu Herzen nimmt wie die Modebranche, die Hersteller*innen von Genussmitteln oder Spielsachen. Gesundheitsüberlegungen werden immer noch von vielen Firmen als Bremserinnen für Verkäufe und die wirtschaftliche Entwicklung wahrgenommen. Vielleicht ändert sich das jetzt.

6) Wandel geht

Apropos Änderung: Ich bin positiv überrascht, dass sich Wirtschaft und Gesellschaft in den letzten Monaten wandlungsfähig gezeigt haben. Sitzungen? Mach's doch per Zoom! Ferien? Die Schweiz ist auch schön! Händeschütteln? Nein Danke! Und das in einem Land, das bis vor kurzem Muslime zum Handshake zwingen wollte.

Ich persönlich bin da ja ganz froh, ich habe schon vorher ein friedliches «Namaste» bei zusammengelegten Händen dem Bakterientausch mit der ganzen Runde vorgezogen.

Wandel geht. Das sind gute Nachrichten für die Klimafront. Nicht unbedingt deshalb, weil die Menschen in den letzten Monaten weniger geflogen sind. Das auch: Der fossile CO2-Ausstoss sank 2020 weltweit um 2,4 Milliarden Tonnen oder 7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Laut dem Wissenschaftsmagazin «higgs» ist in den letzten 150 Jahren noch nie so ein Rückgang aufgetreten.

Der Rückgang ist aber nicht nachhaltig, wenn die Menschen ihr Verhalten nicht auf Dauer ändern. Dass wir dazu in der Lage sind, haben wir in diesem verrückten Jahr bewiesen. Und das stimmt mich zuversichtlich.

7) Wir können Solidarität

«Wir können Corona», hat Bundesrat Alain Berset im Juni (etwas vorschnell) gesagt. Die Zahlen sagen im Moment das Gegenteil. Wir alle können aber Solidarität. Von der kleinen, gelebten Solidarität in der Nachbarschaft über die Geschenkspenden bei Gärngschee bis zur Solidarität mit anderen Landesteilen – ich nehme (neben allem Ärger über diese blöde Krankheit) viel Mitgefühl und viel Mittragen wahr.

Für mich gibt es für diese kleine, gelebte Solidarität ein gutes Symbol: die Maske. Die normale, chirurgische Maske schützt nämlich in erster Linie nicht den Träger, sondern die Umstehenden vor dem Träger. Eigentlich ist also die Maske das Symbol schlechthin für Rücksicht und Solidarität. Und die Maske ist derzeit ja omnipräsent.

Denken Sie doch daran, wenn Sie das nächste Mal die Maske verfluchen: Eigentlich ist es ein schönes Zeichen, dass sich die allermeisten Menschen an die Maskentragpflicht halten. Sie sagen damit: Die anderen Menschen sind mir wichtig. Ich schütze sie. Eigentlich ist das doch wunderbar. Oder?

Matthias Zehnder ist Bajour-Mitgründer und -präsident. Seinen Wochenkommentar veröffentlicht er auch auf seiner Website matthiaszehnder.ch. Hier kannst du ihn abonnieren und hier unterstützen.

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