«Mit meiner Geschichte kann ich anderen Mut machen»

Schon seit ihrer Jugend leidet Nicola Renfer unter Migräneanfällen. Durch die Corona-Infektion im Januar 2022 wurden die Schmerzen so stark, dass sich ihr Leben um 180 Grad verändert hat. In der Poesie hat sie eine neue Leidenschaft gefunden.

Nicola_Sitzend
Nichts ist mehr wie vorher in Nicolas Leben. (Bild: zVg)

Wir haben mit Nicola über ihre Krankheit gesprochen und darüber, welchen Weg sie dadurch eingeschlagen hat. Das Treffen fand Ende Mai online statt.

Schon seit meiner Jugend bin ich Migränepatientin. Über die letzten 30 Jahre wurden die Schmerzen chronisch und eine starke Reizempfindlichkeit hat sich eingeschlichen. Zu lange habe ich diese zu wenig ernst genommen. Von den Ärzt*innen fühlte ich mich nicht verstanden. Mit Schmerzmitteln kam ich über die Runden, aber für mehr als die Arbeit reichte meine Kraft nicht mehr aus. 

Durch eine Corona-Infektion im Januar 2022 wurden die Schmerzen so stark, so massiv aggressiv, dass ich einfach nicht mehr weitermachen konnte. Seither geht fast gar nichts mehr wie vorher, ich bin nicht alltagstauglich, kann nicht mehr unterrichten, bin krankgeschrieben, aber ich kann schreiben.

Gedicht von Nicola aus dem Zyklus: klettVERSchluss

NETTwork

dank.

enger menschen.

enge maschen.

sich ergeben.

der grund wird fest.

grund für ein fest.

 

trag sorge zum netz.                   

morgen und jetzt.

Für beinahe 20 Jahre lehrte ich Geschichte und Italienisch auf Sekundarstufe II. Nun wurde mein Arbeitsverhältnis aufgelöst. Das entspricht nicht meinem Lebensentwurf und ist nicht einfach zu akzeptieren. Mein Leben hat sich um 180 Grad gedreht.

Mein Mann, mein Sohn und ich sind eigentlich alle sehr sportlich und aktiv, doch durch die Krankheit geht das nicht mehr. Seit zwei Jahren kann ich nicht mehr Ski- oder Velofahren. Nicht einmal bei einem Fussballspiel meines Sohnes kann ich mehr dabei sein, denn sogar das Kicken eines Balls oder der Ton einer Trillerpfeife schmerzen zu sehr. Vor allem Sonnenlicht, aber auch Licht im Allgemeinen vertrage ich nicht mehr.

«Ich kam in eine Maschinerie von medizinischen Abklärungen, aber alles wurde ausgeschlossen.»
Nicola

Lange wusste ich nicht, was mit mir los war. Mein Nervensystem reagiert viel zu schnell und viel zu stark bei jedem Schmerz. Ich kann nur noch ganz langsam laufen, kaum etwas anheben und bei jeder Überreizung wird es schlimmer. Lange war nicht klar, was ich genau habe. Ich kam in eine Maschinerie von medizinischen Abklärungen, aber alles wurde ausgeschlossen. Die chronische Migräne hatte ich schon lange und bei ihr wurden Komplikationen festgestellt. Das gibt es bei solchen Migränen oft. Ich habe eine Schmerzempfindlichkeit bei ganz verschiedenen Reizen entwickelt, auch Allodynie genannt. Man versuchte es zu therapieren, man hat alles maximal ausprobiert und doch wurde es nicht besser. Mir war klar, dass es nicht mehr nur die Migräne und deren Folgen waren. Schon vor meiner Corona-Infektion war mein Immunsystem geschwächt, aber danach stiegen die Schmerzen exponentiell und wurden chronisch. 

Nach einer Odyssee an medizinischen Untersuchungen konnte nun eine zusätzliche Diagnose gestellt werden, bei der ich mich zu 100 Prozent sehe: Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS), eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung. 

Die Krankheit ist wenig erforscht und es gibt keine spezifische Behandlung. Es geht vielmehr darum, einen individuellen Therapieplan aufzustellen. Mehrere unterschiedliche Faktoren spielen zusammen, aber eigentlich ist es eine Krankheit, die das Nerven- und Immunsystem betrifft. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden und Strategien entwickelt. Ich muss darauf achten, dass ich meine Belastungsgrenze, die sehr tief ist, nicht überschreite. Wenn ich es trotzdem tue, kommt es zu sogenannten Crashes, von denen ich mich nicht mehr erholen kann und sich das Krankheitsbild verschlechtert. Diverse Medikamente können die chronischen Schmerzen etwas beruhigen. Um die fortschreitenden körperlichen Einschränkungen zu bremsen, gehe ich einmal pro Woche in die Physiotherapie. Auch die Ergotherapie hilft mir dabei.

Nicola_Gedichte
Die Gedichte schreibt Nicola mit Bleistift auf Papier. (Bild: zVg)

Durch meine medizinischen Untersuchungen traf ich auf einen Arzt, von dem ich mich als Mensch und nicht nur als Schmerzpatientin verstanden fühlte. Er spürte meine Liebe zur Sprache und hat mir geraten, Gedichte zu schreiben. Durch das Schreiben lyrischer Texte ist der Schmerz nicht weg und auch nicht weniger geworden, aber er ist sympathischer, nicht mehr so aggressiv. Für mich kommt es einem Wunder gleich, dass aus dem grössten Schmerz eine solche tiefe Passion herauswachsen konnte. 

Obwohl die Schmerzen stark und chronisch sind und ich den Alltag nur mit Unterstützung und viel Verständnis meiner Familie und meiner Freund*innen bewältigen kann, denke ich positiv. Ich kann eigentlich jeden Tag fröhlich aufstehen und weiss, dass ich etwas habe, was mir so viel gibt und mit dem Schmerz zusammen existieren kann.

«Zu Beginn war meine Poesie sehr vom Schmerz bestimmt. Mittlerweile hat sich das geöffnet.»
Nicola

Gedichte lese ich manchmal meiner Familie oder meinem Arzt vor. Zu Beginn war meine Poesie sehr vom Schmerz bestimmt. Mittlerweile hat sich das geöffnet. Ich habe angefangen, verschiedene Zyklen anzusteuern. Jedes Gedicht hat seinen eigenen Stil. Mit meiner Geschichte und meinen Gedichten kann ich auch anderen Betroffenen Mut machen.

Nie setze ich mich bewusst hin, mit dem Ziel, ein Gedicht zu schreiben. Die Worte kommen im Schmerz, wenn ich liege und die Augen geschlossen habe. Auch bei meinen kurzen Spaziergängen kommen mir Ideen. Dabei verspüre ich keine Anstrengung. Es ist wie ein Geschenk, das mir zugetragen wird und die Worte fliessen einfach so. Entweder mache ich dann schnell eine Sprachnotiz oder schreibe es mit einem Bleistift auf einen Zettel. Am Computer bin ich nicht gerne, auf den Bildschirm zu schauen, ist mir zu anstrengend. 

Nicola_Garten
Trotz Krankheit verzweifelt Nicola nicht. (Bild: zVg)

Heute weiss ich, dass mich die Krankheit auch in Zukunft begleiten wird. Dennoch lässt mich das nicht verzweifelt und hoffnungslos zurück. Ich habe dadurch realisiert, wie nahe mir mein Umfeld ist und durch die Krankheit bin ich zum Schreiben gekommen. Im Berufsalltag hätte ich nie zur Poesie gefunden, denn da wäre keinen Platz dafür gewesen. Es gibt mir einen Sinn. Die Sprache ist immer da und begleitet mich durch meinen Tag. Trotz allem geht es mir gut und dafür bin ich dankbar.

Gedicht von Nicola aus dem Zyklus: kataSTROPHE

anFÄNGERglück

das himmelszelt.

der sterne welt.

immer.

ihr schimmern.

 

wenn’s dämmert.

ganz schlicht.

wenn’s nacht ist.

erst sticht hervor.

 

erhasch es.

 

die funken.

im dunkeln.

gefangen.

 

zum anfang

der zukunft.

gelangen.

Nicola ist im Aufbau ihres eigenen Instagram-Accounts, die_architextin, auf dem sie bereits einige Gedichte teilt. Sobald ihre Kräfte das zulassen, möchte sie regelmässig ihre Lyrik posten. Ein weiteres Wunschprojekt ist, einen eigenen Lyrik-Band zu veröffentlichen.

(Aufgezeichnet von Jeanne Wenger)

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