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6 x 2500 Franken

Wenn das Geld von alleine kommt

Seit Mai bekommt Rahel Ackermann für sechs Monate ein Grundeinkommen. Die 38-Jährige hat Bajour erzählt, was das mit ihr macht.

06/17/21, 04:00 AM

Aktualisiert 06/19/21, 02:34 PM

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Nur Rumliegen (wie die Ting-Macherinnen im Bild) oder was Sinnvolles unternehmen? Was macht der Mensch, wenn er dem Geld nicht hinterherrennen muss?

Nur Rumliegen (wie die Ting-Macherinnen im Bild) oder was Sinnvolles unternehmen? Was macht der Mensch, wenn er dem Geld nicht hinterherrennen muss? (Foto: zvg)

Zuerst war Rahel skeptisch. Einfach so 2500 Franken pro Monat bekommen? Das war zunächst eine sehr realitätsfremde Vorstellung. Auch ihr Umfeld hatte Vorbehalte. «Das war irgendwie zu gut, um wahr zu sein», erzählt uns die Baslerin in einem kleinen Café am Andreasplatz. 

Sie ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Die 38-Jährige hat einen Master gemacht in Englisch und Deutsch. Ihr Ziel ist es, an einem Gymnasium zu unterrichten, aber dafür muss sie noch die Pädagogische Hochschule abschliessen. Sie erzählt das alles, als müsste sie sich für irgendwas entschuldigen: «Neben dem Studium habe ich gearbeitet und mich um meine Kinder gekümmert. Das war über Jahre hinweg eine Dreifachbelastung. «Mein Mutter-Sein ist mir enorm wichtig. Ich konnte aber in der letzten Zeit für meine Kinder nicht so präsent sein, wie ich mir das wünsche.»

«Das Schwierigste war, zuzugeben, ich schaffe das alleine nicht.»

Rahel Ackermann, Mitglied von Ting

Ein Freund hatte ihr von Ting erzählt. Zu dem Zeitpunkt litt sie unter den Symptomen einer ernsthaften Erschöpfung. Der Gedanke, sechs Monate lang nicht dem Geld hinterherrennen zu müssen, liess sie nicht mehr los. Es klang ein bisschen, wie ein Hütchenspieler-Trick. Aber die Webseite von Ting schien ihr seriös und dieses bedingungslose Grundeinkommen schwirrt ja schon lange in den Köpfen rum. Ein Telefonat mit den Ting-Macherinnen überzeugte sie. Sie meldete sich an.

Rückblickend meint Rahel, dieser erste Schritt, sei der grösste gewesen. «Das Schwierigste war, zuzugeben, ich schaffe das alleine nicht.» Denn nach Hilfe zu fragen, sei in unserer Gesellschaft noch immer verpönt.

Geld ist nicht alles.

Ting wird vom Migros-Pionierfonds gefördert und durch die Mitglieder solidarisch finanziert. Die Mitglieder bezahlen rund 5 Prozent ihres Einkommens, damit das Gemeinschaftskonto über die nötigen Mittel für das Community-Grundeinkommen verfügt. Wer viel verdient, zahlt also recht hohe Beträge ein, wer wenig verdient entsprechend wenig. Bekommen tun alle gleich viel. Ganz bedingungslos ist das temporäre Grundeinkommen nicht. Man muss erklären, was man während der sechs Monate vorhat. Ob Firmengründung, die Realisation der ewigen Projektidee oder den Perspektivenwechsel, der einen vor dem Burnout rettet - die Kriterien sind relativ weit gesteckt. Im Zentrum steht der Gedanke, dass Menschen – zumindest für eine bestimmte Zeit unter gemindertem ökonomischem Druck – ihre Fähigkeiten entfalten können. 2500 Franken monatlich für ein halbes Jahr sind die Obergrenze. Egal, ob man mehr einbezahlt hat. Hier spielt die Solidarität in der Community. Ein bisschen, wie bei der AHV.

Rahel begann, monatlich einen Betrag zu überweisen, und lieferte eine Beschreibung ab, für was sie die Zeit mit einem Grundeinkommen nutzen würde. Und es klappte schon nach kurzer Zeit: «Als ich erfahren habe, dass ich ab Mai bis Oktober tatsächlich 2500 Franken bekommen werde, war das eine extreme Erleichterung.»

«Für Personen, die weniger oder nicht viel mehr als das Grundeinkommen verdienen, würde es sich finanziell nicht oder kaum mehr lohnen, erwerbstätig zu sein.»

Gegner*innen des bedingungslosen Grundeinkommens

Die praktische Umsetzung des Projekts Ting ist ein Novum für die Schweiz. Dahinter steht nicht die profane Idee eines Einleger*innenvereins 2.0 sondern die grundsätzliche Idee, dass jede*r über ein Grundeinkommen verfügen sollte. Bis jetzt war das aber alles eine Theorie – die allerdings in Basel viele Freund*innen hat.

In Basel-Stadt war 2016 der kantonale Ja-Stimmenanteil mit 36 Prozent schweizweit am höchsten, als es um die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ging. Mehr als ein Achtungserfolg für einen Gedanken, für den man vor wenigen Jahren im besten Fall als utopische*r Spinner*in bezeichnet wurde. 

Der Bundesrat empfahl die Initiative kopfschüttelnd zur Ablehnung, und auch der Stände- und Nationalrat rieten den Stimmbürger*innen einstimmig, ein Nein in die Urne zu legen. Die Schweiz war offenbar noch nicht so weit.

Die Gegner*innenseite argumentierte mit der Angst, dass Menschen, ohne ökonomischen Zwang, sofort den Bettel hinschmeissen und sich nur noch auf die faule Haut legen würden. Und die Wirtschaft malte so schwarz, wie der Bundesrat in seiner Empfehlung: «Für Personen, die weniger oder nicht viel mehr als das Grundeinkommen verdienen (z.B. weil sie Teilzeit oder im Niedriglohnbereich arbeiten), würde es sich finanziell nicht oder kaum mehr lohnen, erwerbstätig zu sein.»

«Das Projekt testet einerseits, unter welchen Bedingungen Mitglieder einer Gesellschaft solidarisch ineinander investieren. Andererseits erforscht es, wie Menschen ihr Potenzial entfalten, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten.»

Silvan Groher, Projektleiter von Ting

Das ist fünf Jahre her. Die Frage, nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, einhergehend mit der steigenden Selbstbestimmung der Einzelnen, ist nicht vom Tisch. Gerade in Corona-Zeiten erlebt die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens ein Revival. In Zürich fordert aktuell ein Komitee aus SP, FDP, GLP und Juso-Politiker*innen einen Pilotversuch für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Die Leute von Ting warten aber bei der Umsetzung ihres Projektes nicht auf die Politik, sondern setzen auf Solidarität. «Das Projekt testet einerseits, unter welchen Bedingungen Mitglieder einer Gesellschaft solidarisch ineinander investieren. Andererseits erforscht es, wie Menschen ihr Potenzial entfalten, wenn sie die Möglichkeit dazu erhalten», sagt Silvan Groher, Projektleiter von Ting.

Sechs Monate sind keine Ewigkeit. Aber lang genug um herauszufinden, ob die Angst begründet ist, dass Menschen ohne Existenznot keinen Finger mehr krumm machen. Oder ob sie ihre Zeit sinnvoll nutzen, etwa für ein Projekt, dass der Allgemeinheit Nutzen bringt, oder eines, dass man schon lange beenden will, wie Rahel, ihre Ausbildung.

Nach den Sommerferien beginnt sie an einem Basler Gymnasium zu unterrichten. Ting hat Rahel überzeugt. Und wenn das nächste Mal über ein bedingungsloses Grundeinkommen abgestimmt wird, könnte der Basler Ja-Anteil dank Beispielen wie dem ihrem noch höher ausfallen.

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