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Lutz/Fetz

Ach, gebt mir doch einfach den Impfstoff

Generationen-Ping-Pong: Anita Fetz fragte Pauline Lutz nach ihrer Haltung zur Covid-Impfung – Pauline wartet sehnsüchtig und macht schon mal den Arm frei. Auf die Pandemie hat sie keinen Bock mehr.

01/26/21, 04:15 AM

Aktualisiert 01/28/21, 01:26 PM

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Liebe Anita

Wie es mir in diesen Corona-Zeiten geht? Mir geht es nicht besonders gut. 

Ich vermisse vieles: Ausgang. Umarmungen. Ein Theater, das mich umschmeisst vor Wucht. Ich vermisse es, mit einer grossen Gruppe von unbekannten Leuten um einen WG-Tisch zu sitzen und zu diskutieren. Ich vermisse alles, was ich noch nicht kenne und gerade nicht kennenlernen kann und darum eigentlich nicht vermissen müsste – aber halt doch vermisse. Verstehst du?

Über all das jammere ich in letzter Zeit gerne. Ja, jammern ist irgendwie scheisse und ja, es gibt unglaublich viele Leute, denen es viel schlechter geht im Moment. Ich weiss, ich habe Essen und ein Dach über dem Kopf und kann spazieren gehen und habe keine finanziellen Schwierigkeiten. Trotzdem ist vieles einfach blöd. Jammern tut gut. Ich bin für jammern für alle. 

Anita Fetz ist zuversichtlich: «Meine Hoffnung liegt jetzt auf der Impfung» (Foto Tonik via Unsplash)

Das Geld, um die Krise zu meistern, hätten wir

Die Krise sei zu meistern, besonders wenn es ums Geld gehe. Dieses habe die Schweiz auf der Bank, schrieb letzte Woche die pensionierte Protestlerin Anita Fetz. Und sie fragte die klimabewegte Pauline Lutz: «Wie hast du es mit der Impfung?» Hier liest du Anitas Brief.

Mein Studium in Genf hatte ich mir so nicht vorgestellt: Alleine in meinem Zimmer vor meinem Laptop zu sitzen, zu Hunderten mit Professor*innen in Videokonferenzen verabredet zu sein, die mir hochkomplexe Theorien erklären in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist. Ich fühlte mich abgehängt, konnte mich kaum konzentrieren. Ich bin eine soziale Lernerin. Am liebsten diskutiere ich mit meinen Freund*innen über den Lernstoff, murmle mit meinen Banknachbarinnen, wenn ich etwas nicht verstehe, möchte den Professor in direktem Kontakt mit uns Studierenden erleben.

Ich habe schon immer Probleme damit gehabt, komplett selbstständig zu lernen und auch wenn ich weiss, dass das etwas ist, was ich lernen muss, habe ich mich sehr alleine gefühlt mit dieser Aufgabe. Die Uniarbeit schien zu einem unüberwindbaren Achttausender heranzuwachsen.

Ich brauche in meinem Leben immer den Ausgleich zum Lernen: Menschen, Begegnungen in Kaffeepausen, im Ausgang, beim Tanzen. Das ist mein Lebenselixier, diese Euphorie, welche durch menschliche Nähe entsteht. Alleine vor dem Laptop in meinem WG-Zimmer fühlte ich mich tumb und um den ganzen Scheiss zu verdrängen, habe ich mir tagelang YouTube-Videos und Netflix reingezogen, konnte mich weder mit der Uni beschäftigen noch mit einer möglichen Alternative.

Nach dieser Phase habe ich kurz vor Weihnachten das Studium abgebrochen. Ich habe für mich entschieden, dass ich mich nicht unendlich durchkämpfen will und muss. 

«Zu wissen, dass im November und im Dezember täglich fast 100 Personen gestorben sind, hat mich tief beunruhigt.»

Zugesetzt hat mir auch die Kommunikation und die Strategie der Politik des Bundes. Der «Schweizer Mittelweg» wollte der Bevölkerung den Marathon der Pandemie erleichtern, hat aber schlussendlich viel Verantwortung auf Einzelpersonen abgewälzt. Das hat mich geschlaucht.

Wie viele Menschen zu treffen ist nun noch vertretbar? Ich bin ein sehr extrovertierter Mensch und doch konnte ich es nicht geniessen, wenn mal Leute auf ein WG-Znacht vorbeikamen, immer hatte ich ein stechendes Grundgefühl und habe mich gefragt, ob das nun verantwortungslos sei. Die Situation in Genf war schlimm, in meiner Nachbarsgemeinde Carouge mussten vierzehn provisorische Leichenzelte auf dem Marktplatz aufgestellt werden. Mit der Bestattung kam man nicht mehr nach, die Feuerwehr musste helfen, die vielen Toten beizusetzen. 

Ich gebe dir absolut recht mit deiner Analyse zur Schweiz in der Coronakrise. Gerade als ich den letzten Abschnitt deines Textes gelesen habe, konnte ich kaum aufhören zu nicken. Um ehrlich zu sein: Ich bin nicht so versiert in Finanzpolitik, wie ich es gerne wäre, aber dein Vorschlag, dass das Volksvermögen der Nationalbank nun wieder zurückfliesst und betroffene Betriebe schnell unterstützt werden, ergibt für mich absolut Sinn.

Ich gehe sogar noch weiter als du, liebe Anita: Die Schweiz hat in der heutigen Pandemiebekämpfung versagt. Viel zu spät wurden in der zweiten Welle Massnahmen ergriffen, es wurde gezaudert bis zum geht nicht mehr. Das Leben der Alten wird behandelt, als sei es weniger wert und die Güterabwägung von Ueli Maurer zwischen Gesundheit und Wirtschaft finde ich zynisch.

Unter dieser sogenannten Güterabwägung leidet auch die psychische Gesundheit, das habe ich am eigenen Leib erlebt. Zu wissen, dass im November und im Dezember täglich fast 100 Personen gestorben sind, hat mich tief beunruhigt. Eine Gesellschaft soll sich daran messen, wie sie ihre Schwächsten schützt, doch dieser Schutz ist in der Schweiz ungenügend.

Zusammen schaffen wir diesen Shutdown

Du fragst mich, ob ich mich impfen lassen möchte und ich kann dir nur sagen: Sobald ich darf, werde ich die Erste sein, die mit hochgekrempeltem Ärmel vor dem Impfzentrum steht. Vielleicht ist mein Vertrauen in die Wissenschaft zu gross, vielleicht bin ich zu enthusiastisch über die schnelle Entwicklung dieses Impfstoffs – ist mir eigentlich alles egal. Ich liebe jede Person, die den Impfstoff entwickelt und erforscht hat. Hoch lebe die Wissenschaft.

Heute bin ich auf der Suche nach einem Praktikum, immer noch in Genf (die Stadt hat es mir angetan), am liebsten als Hebamme. Komplette Umorientierung nennt man das wohl – auch wenn das nicht nur einfach ist. Mich erreichen Absagen über Absagen, aufgrund der Pandemie werden nur extrem begrenzt Praktikumsplätze vergeben.

Ach, gebt mir doch einfach den Impfstoff. Ich habe echt keinen Bock mehr auf diese Pandemie. 

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Pauline Lutz (2002) engagiert sich bei der Basler Klimajugend und hat bis im Dezember internationale Beziehungen in Genf studiert. Die Kleinunternehmerin und ehemalige Ständerätin Anita Fetz (1957) politisierte bei der SP.

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