Hier oben sind die Rollen noch klar verteilt
In Brazzos Garten denke ich an Admir Smajić, an Weihnachten 1993, an Heizungs-Poulet und an Heckenschützen. Und trotzdem ist es ein Moment des Glücks.
Von hier oben erinnert mich Basel an Sarajevo. Vielleicht ist das nur so, weil wir hier wieder in Brazzos Garten sind, mit dem ich auch schon in Bosnien und in der Herzegowina war. Brazzo ist der gute Gastgeber, der ohne Kopfbälle kickte, benannt nach Hasan «Brazzo» Salihamidžić, der in der Bundesliga und für Juventus spielte, und der heute beim FC Bayern den Sportbereich mitverantwortet. Unser Brazzo interessiert sich seit eh und je mehr für die Bayern als für den hiesigen FCB. Und er hat uns während seiner Ferien seinen Garten anvertraut.
Dieser Ort ist wegen des Aus- und Überblicks, den er ermöglicht, mehr Denkterrasse als Schrebergarten. Von hier oben sieht Basel aus wie ein Dorf in einem grünen Tal mit vielen, teils ulkig geformten Häusern. Wie Sarajevo eben. Ähnlich ländlich, ähnlich städtisch, ähnlich überschaubar, umgeben von Hügeln, bekannt für Sport (dort die Olympischen Spiele 1984, hier der FCB) und für Streit (dort der Bosnienkrieg, hier der FCB). Beiderorts sind die Trämli stadtbildprägend, beiderorts hält man sich für ein Zentrum der Geschichte Europas.
«Hier oben kommt Jäten vor Jubeln.»
Wir sind also wieder in Brazzos Garten. Endlich können wir wieder den Blick über die Stadt schweifen lassen – die vielen politischen Grenzen innerhalb des Panoramas bleiben angenehmerweise unsichtbar. Der Schwarzwald prägt das Bild. Die Vogesen am linken Blickfeldrand auch ein bisschen. Das Joggeli kaum. Es fügt sich unauffällig in die Dorfskyline, die zunehmend durch allerlei phallische Türme geprägt wird. Der FCB hat einen eher kleinen.
In dieser Idylle hier oben erinnere ich mich, wie Brazzo manchmal seine Nummer Sieben aus der Trikottasche stahl, damit sie kein anderer tragen konnte, wenn er für ein Spiel aussetzen musste. In seine erste eigene Wohnung lud er uns zu auf der Heizung gewärmtem Poulet ein. Eine Küche hatte er damals nicht. Hier, im Gartenhäuschen braucht es nicht mal eine Heizung.
Hier oben kommt Jäten vor Jubeln. Hier oben ist Kinderquengeln – da unten, im Glasturm, auch. Hier oben feiern wir einen neuen Job – da unten, bei St. Jakob, scheint leider noch immer nicht ganz klar, wer die Jobs vergibt. Da unten trifft sich die Muttenzerkurve zeitgleich an der neuen Plattformbar im Stadionschatten, vor dem seltsamen Glasturm. Scheinbar primär um ihrer selbst willen, um sich als Szene nicht zu verlieren.
«Hier oben ist das pure Glück.»
Da geht es uns hier oben kaum anders. Wir stossen mit Freunden an, aufs Leben, auf neue Aufgaben. Die Kinder sprinten über die Gartenwegli, Räuber und Bullen. Hier oben sind die Rollen noch klar verteilt. Hier oben sei «das pure Glück», sagt einer der Freunde. Zuvor hatten wir halbherzig die obligaten vier, fünf Fragen zur FCB-Zukunft abgehandelt: Kann das der neue Besitzer: Einen Club führen? Wen lässt er mitentscheiden? Wohin geht die Reise?
Die Perspektive, die mich Basel mit Sarajevo vergleichen lässt, ist jener ähnlich, die die Belagerer der nachmaligen Hauptstadt während des Bosnienkriegs gehabt haben müssen. Das tschuuderet mich. In fast vier Jahren haben sie ungefähr 11'000 Menschen getötet. Durchschnittlich 330 Granaten schlugen zwischen April 1992 und Februar 1996 täglich in Sarajevo ein. Etwa zur Belagerungshalbzeit stieg hier der FCB nach einer ganz schlimmen Nati-B-Zeit wieder auf. Mit den beiden Bosniern Samir Tabaković und Admir Smajić*.
Ein paar Monate zuvor, zu Weihnachten 1993, lag ein Smaijć-Trikot für mich unter dem Weihnachtsbaum. Das pure Glück. In Sarajevo töteten einander auch nach dem FCB-Aufstieg noch rund zwei Jahre lang Menschen. Smajić und Tabaković fanden in Basel eine neue Heimat. Sie mussten. Wie unser Brazzo, der mit seiner Mutter eigentlich nach Schweden wollte und nur aus Versehen hier aus dem Zug gestiegen ist.