Volk gegen Regierung statt Schweiz gegen EU

Beim Rahmenabkommen geht es letztlich um die demokratische Legitimation des EU-Konstrukts.

Ursula Von Der Leyen und Guy Parmelin sprechen Ende April 2021 übers EU-Rahmenabkommen.
(Bild: Keystone)

Die Ökonom*innen, Politiker*innen und Bürokrat*innen wissen Bescheid. Sie haben gelernt, dass das BIP dadurch maximiert wird, dass Waren, Dienstleistungen und Kapital frei zirkulieren und die Arbeitskräfte flexibel immer gerade dort eingesetzt werden, wo sie aktuell den meisten Nutzen bringen. Und sie wissen auch, wie man diese Weisheit verkauft: Sie nennen sie die «vier Grundfreiheiten».

Freiheit ist immer gut, und nur Ignorant*innen zweifeln Grundlegendes an.

Wir alle kennen Leute, die von diesen vier Freiheiten profitieren:

  • Die Expats, die in den Finanzzentren so viel verdienen, dass sie sich Erstresidenzen in den steuergünstigsten Gemeinden leisten können.
  • Die Altenpfleger*innen aus Rumänien, Süditalien oder Herzegovina, die für jeweils sechs Monate in die Schweiz kommen.
  • Die entsandten Bauarbeiter*innen, die froh sind, dass sie ihr Chef auf eine Baustelle in der Schweiz schickt, statt in die Arbeitslosigkeit.

Sie alle profitieren – und mit ihnen das BIP.

Doch mindestens 80 Prozent dieser Nutzniesser*innen der vier Grundfreiheiten wären froh, wenn ihre Regierung stattdessen eine Politik betreibt, die es ihnen möglich machte, vor Ort alte Leute zu pflegen, Häuser zu bauen, ein Restaurant oder einen Coiffeursalon zu betreiben. Sie fühlen sich in ihrer Freiheit eingeschränkt, wenn sie ständig dorthin ziehen müssen, wo der globale Markt gerade Nachfrage schafft.

Die rund zwei Millionen Bulgar*innen und die vier Millionen Rumän*innen sind nicht wirklich freiwillig ausgewandert. Und die rund zwei Millionen «entsandten» EU-Arbeitnehmer*innen, die jährlich von ihren Arbeitgeber*innen in einen anderen EU-Staat verschickt werden, würden wohl lieber im eigenen Land arbeiten und bei ihrer Familie und ihrer Nachbarschaft bleiben.

Doch diese 80 Prozent werden nicht gefragt. Die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der EU ist von den oberen 20 Prozent gemacht worden. Ihre Grundlage sind Staatsverträge auf der Ebene der Regierungen. Diese werden durch die Richter*innen am Europäischen Gerichtshof (Grundgehalt 23'500 Euro) interpretiert und fortgeschrieben Die Euro-Parlamentarier*innen haben wenig zu sagen, kassieren aber monatlich 9000 Euro plus Sitzungsgeld, Spesen und einer fetten Rente und gehören damit in jedem Land zu den obersten 5 Prozent.

Andere Meinung?

Ab und zu kommt es aber doch vor, dass sich das Volk zur Wirtschaftspolitik der vier Grundfreiheiten äussern darf. Das letzte Mal war dies bei der Brexit-Abstimmung in England der Fall. Der nächste Fall könnte bei einer Volksabstimmung über den Rahmenabkommen in der Schweiz eintreten. Der Bundesrat weiss genau, dass sein Volk nein sagen wird, wenn er das volle EU-Regime nachvollziehen muss.

Auf der anderen Seite wissen die EU-Funktionär*innen, dass sie nicht auf die Forderungen der Schweiz eingehen können, ohne sich selbst zu gefährden. Sie würden damit riskieren, dass auch ihre 80 Prozent auf die Idee kommen könnten, dass ihnen eine andere Wirtschaftspolitik mehr Wohlstand und soziale Sicherheit bringen würde.

Was die Personenfreizügigkeit und den Lohnschutz betrifft, haben die Schweiz und die EU-Bevölkerung das Heu auf derselben Bühne. Doch genau das macht unseren Bundesrat in den Augen der EU-Bürokraten höchst verdächtig.

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Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und einer der bekanntesten Wirtschaftsjournalisten der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.

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