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Gärngscheekultur

Interview mit Nicole Bernegger: «Ich habe keine Angst vor dem freien Fall!»

Die Basler Soul-Königin hatte endlich die Fesseln von «The Voice» gesprengt – doch nun sind Auftritte abgesagt. Sie bleibt risikofreudig: Bei ihrem Livestream-Konzert für Bajour wagt sie etwas komplett Neues.

04/15/20, 10:58 AM

Aktualisiert 04/15/20, 10:58 AM

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Nicht nur stimmgewaltig: Bernegger ist nun auch Label-Boss. (Foto: zvg)

Nicht nur stimmgewaltig: Bernegger ist nun auch Label-Boss. (Foto: zvg)

Du willst das Konzert von Nicole Bernegger (Mi., 15. April, 20.15 Uhr) live sehen?

«Birsköpfli?» schreibt Nicole Bernegger per Whatsapp. Doch heute ist die sonst so bevölkerte Wiese leer. Dafür sieht man Bernegger zum Distanz-Interview von weitem heranrasen, hoch zu Mountainbike.

Die Soul-Königin trägt zerschlissene Jeans und T-Shirt. Sie kommt gerade vom Heimwerken: «Wir wollten in den Frühlingsferien eigentlich Grümpeln und Kinderzimmer einrichten. Dank Corona krempeln wir nun das halbe Haus um. Der Parkplatz wird gerade zur Sonnenterrasse. Mein Mann hat neue Paletten organisiert: guter Stoff zum Hämmern und Werken!»

Klingt nach einer guten Zeit?

Nicole Bernegger: Der Alltag ist im Moment ein Challenge. Die Eltern und meine Gotte hüten normalerweise viel, damit ich schaffen kann. Nun sind sie isoliert und ich bin mit drei schulpflichtigen Kindern voll gefordert: als Mutter, Lehrerin und Sporttrainerin. Wir bewegen uns auf kleinem Raum, die Kinder vermissen ihre Kollegen und natürlich gibt's auch mal Knatsch. Aber die Entschleunigung schafft auch neue Räume zum Kochen, Spielen, Projekte aushecken. Nur für meine eigenen Pläne ist kaum Platz. Für mich als selbständige Musikerin ist die Situation eine Katastrophe.

Gemäss Homepage wärst du nun viel auf der Bühne.

Ich habe Ende letztes Jahr mein neues Album «Alien Pearl» released. Um die Investitionen wieder reinzubekommen, müsste ich nun richtig touren. Doch alle Frühlingskonzerte wurden abgesagt und das weitere Booking steht in den Sternen. Die Sommer-Openairs sind sehr unwahrscheinlich.

Die Openairs würden gute Gagen bringen?

Und du erreichst dort viele Leute, die im Herbst nochmals in die Clubs kommen. Aber schon jetzt schieben alle Bands und Booker ihre Daten in den Herbst. Da bleibt kaum Raum zum Spielen – und es werden erst noch weniger Bühnen werden.

«Mit Albumverkäufen holt man das heute nicht mehr rein. Ich muss Konzerte spielen.»

Nicole Bernegger

Also ein verlorenes Jahr?

Wahrscheinlich. Und wenn wir erst im 2021 wieder richtig spielen können, ist das Album vom Herbst 2019 gefühlt schon zwei Jahre alt. Dann wäre schon wieder Zeit für ein neues Album.

Das würde immerhin die Fans freuen.

Klar. Doch finde ich nun weder Zeit noch Raum, um neue Songs zu schreiben. Aber das eigentliche Problem ist: Ich kann finanziell schlicht kein neues Album stemmen.

Neue Band, neues Glück. (Foto: zvg)

Neue Band, neues Glück. (Foto: zvg)

Du hast dich nach zwei Alben als «The Voice of Switzerland» von Universal gelöst und stehst nun mit eigenem Label da. Wieso eigentlich?

Ich wollte von der Pike auf alles selber machen, mit einem kleinem Team, das voll Gas gibt und ungefähr gleich tickt, was Werte angeht. Durch eine glückliche Fügung fand ich meine jetzigen Musiker*Innen und plötzlich blühte das Songwriting wieder auf. Ich spürte, da bahnt sich ein Album an.

Warum hast du nicht bei einem kleinen Indie-Label unterschrieben?

Ursprünglich wollte ich mit dem fertigen Master auf Labelsuche gehen. Aber im Verlauf der Produktion verstärkte sich das Bedürfnis, mir von niemanden reinreden zu lassen –  ausser von meiner neuen Managerin Steffi Klär. Sie gab mir die nötige Zuversicht und den Mut, zusammen ein eigenes Mini-Label zu gründen.

Und nun liegt der finanzielle Druck voll bei dir.

Natürlich. Mit physischen Albumverkäufen holt man das Investment heute nicht mehr rein. Mit Streams erreiche ich nicht die Zahlen. Ich muss Konzerte spielen. Das Business ist ein raues Tier – it's a jungle out there!

Bist du als Labelchefin selber zum rauen Tier geworden?

Nicht nur. Die Musik mache ich mit dem Herzen, ohne Marketing-Gedanken. Aber klar muss ich rechnen, wieviel Gage bringt das Konzert, was sind die Fixkosten für sechs Musiker*Innen, Techniker, eventuell noch zusätzliches Equipment. Dazu muss ich Rücklagen machen für zukünftige Produktionen. Und dann sollte man seinen eigenen Lohn nicht vergessen. Ein Balanceakt. Dabei habe ich immerhin Tabellenkalkulation gelernt!

Und dann fragt Nicole Bernegger auch beim RFV Basel an, für 5000.- Franken Albumförderung.

Ja, klar. Muss sie, sonst verreckt sie. Förderung von so engagierter Seite ist für mich ein wichtiger und notwendiger Bestandteil. Ich bin sehr dankbar hat das geklappt!

«Ich, als Geburt einer Castingshow? Niemals! Ich dachte, meine Zeit vor «The Voice» hätte mehr Gewicht.»

Nicole Bernegger

Hast du schon im Bett gehadert: Hätte ich die Selbstständigkeit doch ein Album später gewagt!

(lacht) Nein, es war der richtige Zeitpunkt. Es war ein extrem wichtiger, zäher, toller und inspirierender Weg. Jetzt bin ich unabhängig und frei. So wie vor «The Voice».

Viele kennen dich erst seit dieser Casting-Show.

Ja. Das ist wohl so.

Immerhin hast du so die grossen Bühnen gespielt, warst in allen grossen Schweizer Medien präsent und deine Musik war in den Charts. Doch du wurdest nicht einmal für den Poppreis nominiert. Verliert man mit einem Casting-Image die lokale Szene-Credibility? 

Die Gründe, warum man mich nie nominiert hat, kenne ich nicht. Dafür waren andere für den Poppreis nominiert, die genauso ein Anrecht hatten. Sollte die «The Voice»-Etikette bei der Nominierung eine negative Rolle gespielt haben, fände ich das ziemlich enttäuschend. 

Davor warst du mit deiner Band The Kitchenettes viel unterwegs, allerdings hat es nie ganz zum Durchbruch gereicht. Dann zerstreute sich die Band wegen Familien- oder Uni-Plänen. War der Schritt zu «The Voice» für dich auch ein bisschen die letzte Chance auf eine Profikarriere?

Möglich. Ich stand still. «The Voice» sah ich als Chance und hab mir damals definitiv keine Gedanken zu Image oder Credibility gemacht. Für mich war es nur ein weiterer Schritt in meiner Geschichte. Ich habe davor schon 15 Jahre Musik gemacht. Ich, als Geburt einer Castingshow? Niemals! Ich dachte, meine Zeit vor «The Voice» hätte mehr Gewicht. Aber für viele erschien ich halt erst dann auf dem Radar. 

Und für andere warst du weg vom Schirm.

Ja, ich glaube schon. Leider. Eine Castingshow ist halt einfach nicht kultig! 

In deiner Familie habt ihr beide Seiten des Musikbusiness. Dein Mann ist Schlagzeuger der Kult-Ska-Band Kalles Kaviar, bei der alle finden: Das ist noch der echte Scheiss!

Ist es ja auch: 25 Jahre Bandgeschichte, geiler Sound, Hammer-Konzerte!

Auch sie mussten ihre Plattentaufe gerade in den Herbst verschieben. Aber: Auch ohne Corona würden sie 2020 kaum mehr als zehn Konzerte spielen. Das ist dann die andere Realität von «real».

Ok, bitz mehr Konzerte spielen sie schon (lacht). Ich war lange mit Kalles Kaviar unterwegs und wir unterstützen uns immer noch gegenseitig. Wir spüren daheim keinen grossen Unterschied, wie wir an die Musik herangehen. Gut, das erste Album «The Voice» war für uns beide schwierig. Ich war in einem hormonellen Ausnahmezustand zwischen hochschwanger und frisch stillend – wollte eigentlich einfach Näschtli bauen.

Nach der Castingshow kam das Studio. Ich hatte nun ein grosses Label und entsprechend Druck, aber kein Mitspracherecht. Eine schwierige Mischung. Im Nachhinein hätte ich natürlich vieles anders machen wollen, aber hey: Ich bereue nichts. Ich habe viel gelernt.  

Geht man die Songtitel von «Alien Pearl» durch, steckt viel Leid in deiner Soul-Katharsis: «Don’t Do It», «I Still Walk», «Too Long Gone», «Yes I Gotta Say No»…

(Lacht laut) Kommt leicht depressiv rüber. Traurige Themen sind nun mal inspirierender für Songtexte. Ist mir so in der Aufreihung noch nie aufgefallen. Nur bei Konzerten, wenn ich «We Are Losers» ansage – da muss immer noch ein Spruch dazu. 

Bleiben wir beim Konzert und reden vom Stream-Konzert bei GärngscheeKultur am Mittwoch. Normalerweise stehst du mit sieben Musiker*Innen auf der Bühne. Das geht wegen den Anweisungen vom Bundesamt für Gesundheit nicht. Nun spielst du nur mit Gitarre, Bass und Schlagzeug.

Ich freu mich, endlich mal wieder live zu spielen! Das wird ein Experiment. Wir haben seit den letzten Konzerten im Dezember nicht mehr geprobt, nur per Skype das Wichtigste besprochen. Aber ich baue darauf, dass alles wieder läuft, wenn wir uns gegenüberstehen.

Also wird das Konzert mehr eine Session?

Es wird sicher stripped-down und roh – darauf freue ich mich. Auf diese Musiker kann ich mich verlassen. Wir können aus dem Bauch heraus spielen. Wir leben vom Feuer, dass nicht alles klar sein muss. Dann kommen sie so richtig in Fahrt! 

Ist das die Spontanität und Freiheit, die du nun wieder hast?

Die Qualität muss immer stimmen. Aber ich bin keine Perfektionistin, die jede Ansage probt. Es muss sich einfach saugut anfühlen! Ich finde es immer spannend, wie sich die Kreativität entwickelt, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Ich habe keine Angst vor dem freien Fall!

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Nicole Bernegger spielt am Mittwoch, 15. April 2020, um 20:15 Uhr bei GärngscheeKultur und hier gehts zum Konzert. Für mehr Texte über grosse Stimmen und raue Tiere brauchen wir dich. Wenn du Lust darauf hast, werde hier gerne Mitglied für 40 Franken im Jahr. Danke!

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