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Neues Buch von Ralph Tharayil

Es hat noch nie jemand freiwillig das Paradies verlassen

Kulturjournalistin Esther Schneider spricht mit dem Schweizer Autor Ralph Tharayil über seinen Debütroman «Nimm die Alpen weg» - über Integration, Assimilation und das Ankommen in der Schweiz.

03/28/23, 03:19 AM

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Ralph Tharayil sagt: Die Eltern tun alles und noch mehr, um Teil dieser neuen Gesellschaft zu sein.

Ralph Tharayil sagt: Die Eltern tun alles und noch mehr, um Teil dieser neuen Gesellschaft zu sein. (Foto: Malte Seidl)

Integration ist immer gewaltvoll, sagt Ralph Tharayil. Denn Integration versucht zu sagen: Du bist ein Gast, du bist willkommen, ABER. Und um dieses ABER geht es im Buch «Nimm die Alpen weg». Der Autor, der in Liestal und Basel aufgewachsen ist, erzählt darin die Geschichte eines Geschwisterpaares, das den Kampf der Eltern mit Integration, Assimilation und Ankommen in der Schweiz beobachtet und verhandelt - und das seine ganz eigenen Schlüsse daraus zieht. Der Roman «Nimm die Alpen weg» ist ein poetisches Spiel, in der die Worte und ihre Bedeutungen sich zu verschieben beginnen.

Der Schmerz entsteht dort, wo die Überanpassung der Eltern nicht funktioniert – im Riss, zwischen den Zeilen, in der zweiten Generation.

Ralph Tharayil, Schriftsteller

Ralph Tharayil, Stress, Stress, Stress, sagen die Eltern, die aus Südindien eingewandert sind und alles gut machen wollen. Was stresst sie so?

Die Eltern, haben ihr Land verlassen, damit es ihre Kinder besser haben als sie. Und nun versuchen die Eltern in einem fremden Land anzukommen. Sie müssen die Sprache und die Werte neu erlernen. Sie tun alles und noch mehr, um Teil dieser neuen Gesellschaft zu sein: Sie wollen den sozialen Aufstieg für ihre Kinder. Also passen sie sich an, bis die Ränder ihrer eigenen Wünsche, die Ränder ihrer eigenen Körper und die ihrer Kinder zu verschwinden beginnen. Das erzeugt den Stress, der sich wiederum in unbewussten Erwartungen an die Kinder ausdrückt. Und das wiederum irritiert die Kinder, die diese Erwartungen nicht verstehen.

Im Buch reagieren die Kinder mit Phantasie und Spiel auf diese Erwartungen. Du selber stammst aus einer südindischen Familie. Wie hast du das erlebt?

Irgendwann kommt der Punkt, an dem Kinder, die hier aufwachsen, die Opfer und den Einsatz der Eltern hinter sich lassen. Sie sprechen die Sprache besser als die Eltern, verstehen die Werte besser, lernen zu geniessen und zu erleben. Dinge, die die Eltern nie gelernt haben, weil sie nur gearbeitet haben. Was die Eltern vorleben, deckt sich nicht mehr mit der Welt ausserhalb des Elternhauses. Der Schmerz entsteht dort, wo die Überanpassung der Eltern nicht funktioniert – im Riss, zwischen den Zeilen, in der zweiten Generation. Dort beginnt die Spirale der Ungenügsamkeit.

Die ganze Familie schämt sich. Aber alle schämen sich für etwas anderes, und sie alle befällt das Schweigen über diese Scham.

Ralph Tharayil, Schriftsteller

Was meinst du mit dieser Spirale?

Dass Bestleistungen angestrebt werden, aber egal, wie gut die Resultate ausfallen, keine Leistung gut genug ist. Die Eltern wollen Komfort, mehr Lebensqualität, den Aufstieg in eine höhere Klasse. Doch die Kinder können mit diesen Werten wenig anfangen. Sie müssen lernen mit der Klassenscham und mit der Scham der Migrantisierten umzugehen: Sie bewegen sich nicht zwischen Integration und Assimilation. Sie bewegen sich in einer Spirale zwischen Integration und Abwehr.

Stichwort Sprache. Sie ist ein zentrales Thema in deinem Buch. Die erste Sprache deiner Eltern ist Malayalam, die Amtssprache des Bundesstaates Kerala. Aber als Jugendlicher wolltest du die Sprache nur Zuhause sprechen. Wie das?

Ich habe mich als Jugendlicher geschämt, wenn meine Eltern Malayalam in der Öffentlichkeit gesprochen haben. Ich bin in der Zeit aufgewachsen, in der in Schweizer Comedy Shows Inder mit Brownfacing und einem degradierenden Akzent dargestellt wurden. Rassistische Praktiken. Ich war fünfzehn Jahre alt und schämte mich. Wenn ich mit meinen Eltern Malayalam sprach, wollte ich nicht, dass meine Freunde dachten: Ah, gsehsch jetzt: Das klingt ja wirklich so lächerlich und dumm wie es Giacobbo/Müller zeigen. «Nimm die Alpen weg» spricht von dieser Scham, von diesen Rissen und Fissuren, und den Grenzen der Sprache sie zu artikulieren.

Zur Person

Zur Person

Ralph Tharayil ist ein in Berlin lebender Schweizer Schriftsteller südindischer Abstammung, der mit Text, Performance und Audio arbeitet. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Schreibstipendium des Berliner Senats, dem Clio Advertising Award und einer Nominierung für den Grimme Online Award. Sein Debütroman «Nimm die Alpen weg» ist im Februar 2023 bei Voland & Quist in Berlin erschienen und wurde mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet.

Kannst du diese Scham benennen?

Sie hat mit der Überanpassung zu tun und zeigt sich im Buch in alltäglichen Dingen. Etwa, wenn Schweizer Freunde zu Besuch kommen. Die Familie isst zuhause mit der Hand. Aber die Eltern schämen sich dafür. Also kommt Besteck auf den Tisch. Aber die Eltern legen das Besteck verkehrt hin: Gabel und Messer, vielleicht sogar einen Löffel. Die Kinder sehen das, und schämen sich dafür. Die ganze Familie schämt sich. Aber alle schämen sich für etwas anderes, und sie alle befällt das Schweigen über diese Scham.

Was wäre denn für dich die beste Form von - ich sage jetzt nicht Integration oder Assimilation – sondern Ankommen?

Ich lebe seit 10 Jahren in Deutschland. Da musste ich auf meine eigene Art lernen anzukommen. Das war eine interessante Erfahrung, weil ich eine Art doppelter Ausländer war. Ich war ein mit 19 Jahren eingebürgerter Schweizer und dennoch migrantisiert: Man sieht mir an, dass ich nicht europäischer Herkunft bin. Seltsam war nur, dass Leute dann zu mir gesagt haben: Aber man hört dir ja gar nicht an, dass du aus der Schweiz kommst. Warum hast du keinen Schweizer Akzent. (lacht)

Du lachst, hat es dich auch irritiert?

Ja, das war irritierend, weil ich dachte: Aber jetzt habe ich mich doch angepasst an euch mit meinem sauberen Deutsch und jetzt sagt ihr mir, dass da etwas nicht stimmt. Das ist natürlich bloss eine Anekdote, aber sie fasst die Vermengung von migrantisierter Scham und Klasse, das Wesentliche meiner Integrationserfahrung, zusammen. Meine Eltern sagten als in nach Deutschland ging nur: Es hat noch nie jemand freiwillig das Paradies verlassen. Aber du, Ralph, du.

Das ganze Gespräch ist zu hören im Podcast LiteraturPur von Esther Schneider.

Esther Schneider spricht in ihrem Podcast «Literatur Pur» regelmässig mit Autor*innen. Wir von Bajour dürfen die Gespräche als schriftliche Interviews aufbereiten. Weil Literatur es wert ist. (Foto: MARA TRUOG) (Foto: MARA TRUOG)

Esther Schneider spricht in ihrem Podcast «Literatur Pur» regelmässig mit Autor*innen. Wir von Bajour dürfen die Gespräche als schriftliche Interviews aufbereiten. Weil Literatur es wert ist. (Foto: MARA TRUOG) (Foto: MARA TRUOG) (Foto: MARA TRUOG)

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