«Viele verfallen in eine Schockstarre»

Wenn ein Mensch ins Gefängnis muss, trifft das nicht nur ihn – sondern sein ganzes Umfeld. Partner*innen, Kinder, Eltern bleiben zurück mit Scham, Fragen und oft existenziellen Sorgen. Renate Grossenbacher von der Beratungsstelle «Angehört» der Heilsarmee begleitet Angehörige durch diesen Ausnahmezustand.

Renate Grossenbacher, Heilsarmee
Renate Grossenbacher ist bei der Heilsarmee zuständig für die Seelsorge. (Bild: Stiftung Heilsarmee Schweiz)

Renate Grossenbacher, wie erklärt man einem Kind, dass sein Vater oder seine Mutter jetzt im Gefängnis ist?

Es kommt sehr auf das Alter an. Wir empfehlen aber immer die Wahrheit zu sagen. Die Kinder verdienen die Wahrheit – die vertragen sie besser als irgendeine schwammige Geschichte, bei der sie sich die Hälfte noch selber dazu denken und am Ende vielleicht sogar die Schuld für die Abwesenheit des Elternteils bei sich suchen. Man kann zum Beispiel sagen: «Der Papa hat einen grossen Fehler gemacht und weil er dafür eine Strafe bekommt, kann er jetzt eine Zeit lang nicht bei uns wohnen.» 

Ist es empfehlenswert, konkret zu sagen, dass, in diesem Fall der Vater, im Gefängnis ist?

Das würde ich eher nicht machen. Kinder haben oft wilde Assoziationen mit Gefängnissen. Aus Bilderbüchern kennen sie vielleicht Gefängnisse, die wie mittelalterliche Kerker aussehen. Wenn sie den Vater dann im Gefängnis besuchen, stellen sie fest, dass es eigentlich ein ganz normales Haus ist. 

Wie würden Sie den Ort dann nennen? Kinder stellen ja viele Fragen oder kommen selbst darauf, dass es ein Gefängnis ist.

Auch da kommt es auf das Alter des Kindes an. Bei einem älteren Kind kann das Wort Gefängnis genannt werden. Das Verständnis für den Ausdruck Gefängnis ist vorhanden. Bei einem kleinen Kind würde ich den Ausdruck «ein Haus, bei dem die Türen verschlossen sind und das nicht verlassen werden kann» benutzen. 

Ist die Arbeit mit den Kindern ein grosser Teil Ihres beruflichen Alltags bei «Angehört»?

Kinder begleiten wir auf Anweisung der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) oder Beistandschaften, bei Besuchen im Gefängnis zum inhaftierten Elternteil. Wir versuchen dabei den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden und ihre Anliegen zu vertreten. Unsere Hauptaufgabe ist aber die Beratung. Die findet einerseits telefonisch und per Mail und andererseits persönlich bei uns im Berner Büro statt. Ausserdem gibt es seit einigen Jahren ein anonymes Online-Austauschforum für Angehörige. Und wir veranstalten Austauschtreffen für Angehörige – meistens nehmen dort Frauen mit ihren Kindern teil. Die sind sehr wertvoll, weil die Kinder dann merken, dass es auch andere Familien in der gleichen Situation gibt. Unsere Angebote werden von Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten genutzt und sind völlig unabhängig vom christlichen Glauben, auch wenn wir zur Heilsarmee gehören. 

Heilsarmee «angehört»
Mütter und ihre Kinder bei einem Austauschtreffen von «Angehört». (Bild: zVg Heilsarmee)

Gibt es auch Männer, die Angehörige sind und Ihre Angebote wahrnehmen?

Sehr wenige. 95 Prozent der Menschen, die sich bei uns melden, sind Frauen. Gelegentlich gibt es auch mal erwachsene Söhne von Inhaftierten oder Väter von erwachsenen Kindern. 

Was sind die Gründe dafür, dass sich weniger Männer melden?

Einerseits sind viel weniger Frauen inhaftiert als Männer, es gibt also weniger Partner von inhaftierten Frauen, die sich bei uns melden könnten und andererseits ist es wohl immer noch so, dass Männer sich in solchen Fällen weniger Hilfe holen. 

Was sind die grössten Herausforderungen, die auf die Angehörigen zukommen, wenn eine Person inhaftiert wird? 

Die Finanzen sind eine sehr grosse Herausforderung, vor allem, wenn die inhaftierte Person zuvor das Geld heimgebracht hat. Dann bleibt nur noch der Gang zum Sozialdienst.  

Scham ist auch oft ein grosses Thema. Die Angehörigen haben Angst, moralisch verurteilt zu werden. Sie bekommen zu hören, dass sie doch bestimmt Bescheid gewusst oder sogar mitgemacht hätten. Solche Vorwürfe treiben die Frauen in Isolation. 

Welche emotionale Stütze kann in diesen Fällen helfen?

Jemanden zu haben, mit dem man unvoreingenommen sprechen kann. 

Renate Grossenbacher, Heilsarmee
«Es ist uns ein grosses Anliegen, die Angehörigen wieder ins Handeln zu bringen.»
Renate Grossenbacher, Mitarbeiterin der Heilsarmee

Welche Rolle spielt bei der Beratung die Art des Delikts?

Für mich spielt der Grund für die Inhaftierung keine Rolle, oft kenne ich ihn auch gar nicht. Wir schauen, wie wir unterstützen können und vor allem versuchen wir die Angehörigen zu befähigen, den Alltag wieder meistern zu können. Es ist uns ein grosses Anliegen, die Angehörigen wieder ins Handeln zu bringen. Viele verfallen bei so einem Ereignis in eine Schockstarre. Dann zeigen wir auf, welche Schritte jetzt möglich sind und leiten sie an.

Und inwiefern spielt der Grund für die Inhaftierung für die Angehörigen selbst eine Rolle?

Wenn es um Pädophilie geht, wollen die Angehörigen meistens vermeiden, dass das Umfeld etwas davon mitbekommt. Bei Mord oder Gewaltdelikten, die im Tötungsdelikt münden, stellen sie oft infrage, ob der Inhaftierte tatsächlich schuldig ist oder nicht doch alles ganz anders war. Sie können es einfach nicht wahrhaben und bauen aus Eigenschutz eine Mauer um sich auf. 

Was ist für Sie persönlich das Schwierigste bei der Arbeit mit den Angehörigen?

Für mich ist es immer sehr herausfordernd, wenn Kinder involviert sind. Es ist schwer mit anzusehen, was Handlungen von einzelnen Personen mit Kindern machen können und wie sie dadurch fürs Leben geprägt sind. Das geht mir sehr nah. Auch ist es schwer auszuhalten, wenn ich sehe, wie Frauen sich für ihren inhaftierten Partner aufopfern, ihm Sachen ins Gefängnis bringen und sich kümmern, obwohl sie selber gerade gar nicht klar kommen in ihrem Leben und vielleicht sogar die Opfer des Gewaltdelikts sind. 

Dieser Artikel erscheint im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit Neustart, ein gemeinnütziger Verein, der Beratung für Straffällige und deren Angehörige anbietet.

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