«Ich fürchte für euch, für euch ist der Weltuntergang neu»

«Antigone im Amazonas» des international tätigen Schweizer Theatermannes Milo Rau gastiert am 22. und 23. September in der Kaserne Basel. Thema der Aufführung, die bereits viel Aufmerksamkeit erregt hat, ist der Kampf der brasilianischen Landlosen um Land und Natur.

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Brasilianische Landlose kämpfen beim Stück um Land und Natur. (Bild: Philipp Lichterbeck)

Milo Rau, was hat Sie an «Antigone» interessiert?

Das Stück gilt als der absolute Gipfelpunkt des menschlichen Geistes, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es eine sehr, sehr einfache Struktur hat. Es ist fast ein Comic-Strip. Fünf Begegnungen und ein ganz klarer Antagonismus: Antigone, das NEIN zur Macht, das NEIN zur kapitalistischen Zivilisation (so interpretiere ich das), und auf der anderen Seite Kreon, also die Staatsraison. Schon hier, ganz am Anfang der Tragödienliteratur, steht die Frage: Sind wir vielleicht komplett auf dem falschen Dampfer mit der Zivilisation? Und dann ist da vor allem noch das Chorische, das mich total interessiert hat.

Wie kamen Sie mit der brasilianischen Landlosenbwegung zusammen?

Die Bewegung hat die Stücke von mir gesehen in Brasilien, wo wir getourt sind. Danach wurde ich angefragt, ob ich Lust hätte, mit ihnen was zu machen. Da kam dann Antigone ins Gespräch, weil z.B. die Frage der nicht begrabenen Toten dort sehr zentral ist.

Milo Rau
Zur Person

Milo Rau ist ein Schweizer Regisseur, Theaterautor, Essayist und Wissenschafter. Mit Antigone setzt er sich auch in seinem soeben erschienenen Buch «Die Rückeroberung der Zukunft» (Rowohlt-Verlag) auseinander.

Zum Stück

Die Landlosen haben den Antigone Stoff also gekannt.

Oh ja. Das war ihr Vorschlag. Die hatten ja lange mit dem brasilianischen Regisseur Augusto Boal gearbeitet. Die brasilianische Landlosenbewegung ist eine riesige Bewegung, sehr kraftvoll. Ich war da der Juniorpartner. Dass sie mich angefragt haben, war eine Riesenehre für mich, und ich fragte sie: Was interessiert euch? Wir haben zusammen nachgedacht und kamen dann auf das grosse Massaker, das nach einer Demonstration, an der es um die Landfrage ging, im Norden Brasiliens stattgefunden hat. Dort steht Amazonien gegen das moderne Agrobusiness, und der Kampf wird vor allem von den Indigenenbewegungen innerhalb der Landlosenbewegungen geführt. In den ersten Workshops ab 2019 begannen wir bald mit dem Umschreiben der Antigone.

Hab ich richtig verstanden: es war diese Landlosenbewegung, oder einige Personen aus ihr, die den Antigone-Stoff eingebracht haben?

Genau, genau. Douglas Esteban, einer der brasilianischen Dramaturgen in unserem Projekt, war der Dramaturg von Augusto Boal gewesen, und der kennt natürlich all diese Stoffe. Die Landlosenbewegung hat ein sehr starkes Kunsttheater-Departement. Sie wollten übrigens unbedingt einen Stoff mit Chor haben. Chorisch zu handeln ist für die Landlosenbewegung sehr wichtig, bei Demonstrationen und Veranstaltungen. Chorische Ausbildung gibt es in Brasilien schon in den Schulen.

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«Innerhalb der Landlosenbewegung gibt es verschiedene Tendenzen: sehr radikale und eher realpolitische, sagt Milo Rau.» (Bild: Moritz Van Dungern)

Wo war der Filter des Antigonestoffes hilfreich, wo hinderlich?

Textlich haben wir sehr viel geändert. Dank der kristallinen Sprache von Sophokles ist aber auch vieles belassen. Zum Beispiel die Konfrontation Antigone-Kreon, oder das zweite Chorlied («Vieles ist ungeheuer, nichts / ungeheurer als der Mensch») – da musste man wenig umschreiben, da geht es ja schon um die Herrschaft des Menschen über die Natur und die Unmöglichkeit, den Tod zu beherrschen.

Ailton Krenak
Ailton Krenak zur Neutralität

Die Klimakrise ist eine der grössten Herausforderungen des Jahrhunderts. Wie kann die Schweiz, die als reicher Staat Mitverantwortung für die steigenden CO2-Emissionen trägt, angesichts einer solchen Katastrophe mit der Neutralität als Grundsatz ihrer Aussenpolitik überhaupt noch agieren? Haben wir unser Verhältnis zur Natur verloren? Und: Welche Verantwortung erwächst aus unserem Verständnis eines neutralen Staates, wenn die Klimakrise zukünftige Konflikte, Migrationbewegungen und Ungleichheit in der Welt anheizt? Dies wollte der künstlerische Leiter der Kaserne, Tobias Brenk, von dem indigenen Aktivisten und Philosophen des brasilianischen Volkes der Krenak, Ailton Krenak, wissen. Krenak spielt nicht nur in Milo Raus «Antigone» den Teireisas, den unfehlbaren blinden Propheten. Seine Antwort findest du hier.

Wie wichtig war für euch die Auseinandersetzung zwischen Antigone und ihrer Schwester Ismene, wo es um die Begründung und die Berechtigung von Widerstand geht?

Sehr wichtig. Innerhalb der Landlosenbewegung gibt es verschiedene Tendenzen: sehr radikale und eher realpolitische. Ismene wurde oft einfach als ängstliche Person gesehen. Bei uns vertritt sie realpolitische Positionen. Sie fragt, ob es Sinn macht zu sterben. Eine Aktivistin aus der Landlosenbewegung sagt: «Der Kampf hört auf, wenn wir tot sind. Das macht keinen Sinn.» Antigone dagegen beharrt auf der Notwendigkeit eines radikalen Neins. Schon ganz am Anfang unserer Zusammenarbeit haben die Landlosen gesagt: «Wir sind Marxisten, diese Kaskade an Suiziden, mit denen die griechische Tragödie, auch diese, endet, interessiert uns nicht, wir wollen einen anderen Schluss.» Und deshalb haben wir am Schluss quasi die Wiederkehr der Toten hinzugefügt.

Kreons Wende, dass er am Schluss einsieht und bereut, habt ihr dann wohl gestrichen?

Nee, gar nicht. Ich glaube, dass Kreons menschliche Einsicht wichtig ist, es ist ja auch eine politische Einsicht, und für mich ist sie auch berührend. Das Stück heisst Antigone, aber Kreon ist die Figur, um die es wirklich geht. In Wahrheit ist das ein Stück über die Bewusstwerdung des westlichen Menschen, also Kreons, der sich von Anfang an in einer Hybris befunden hat. Aus Angst, die Macht zu verlieren, wenn er Schwäche zeigt oder auf Kompromisse eingeht, versteift er sich, und verliert so seine gesamte Familie.

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Szene aus «Antigone im Amazonas». (Bild: Philipp Lichterbeck)

Was macht ihr mit der Vorgeschichte, mit der Idee vom Verhängnis, vom alten Fluch, der auf Antigones Familie lastet und vom ewigen Gesetz?

Der Fluch ist bei uns die verfehlte, ausbeuterische, kapitalistische Lebensform. Der Amazonas, die Lunge des Planeten, ist durch sie ebenso am Sterben wie die indigenen Kulturen. Ailton Krenak, der indigene Philosoph, der bei uns den Seher Teiresias spielt, sagt: «Die Vögel singen nicht mehr, die Natur spricht nicht mehr zu mir.» Und er sagt auch: «Ich fürchte mich im Grund nicht so sehr für uns, wir leben seit 500 Jahren im Prozess des Weltuntergangs, ich fürchte mehr für euch, für euch ist der Weltuntergang neu.»

Warum wird Kreon von einer Frau gespielt? Er verkörpert doch das patriarchale Prinzip.

Es gibt bei den Klassikern, auch in der Bibel, eine patriarchale Seite, die einfach nicht mehr spielbar ist. Wenn Kreon zu seinem Sohn Haymon, der mit Antigone verlobt ist und sie liebt, sagt: «Nimm Antigones Tod nicht so schwer, du kannst doch einen anderen Acker pflügen, Frauen gibt’s wie Sand am Meer» – dann ist jede Sympathie für Kreon einfach weg, seine Sprecherposition komplett entwertet. Von daher: Man kann ihn zu einem Bolsonaro-Fascho-Patriarchen-Arsch machen, aber man verliert dann eine umfassendere und selbstkritische Perspektive. Und dann kann man alles wieder auf die Schultern des alten, weissen Mannes abladen, und das ist einfach zu simpel und nicht hilfreich.

«Man kann ihn zu einem Bolsonaro-Fascho-Patriarchen-Arsch machen, aber man verliert dann eine umfassendere und selbstkritische Perspektive.»
Milo Rau

Und durch die Besetzung mit einer Frau gewinnt ihr eine «umfassendere Perspektive»? Wie das?

Für uns verkörpert Kreon 2000 Jahre westliche Zivilisation. Ich glaube, dass wir uns selber an der Nase herumführen, wenn wir so tun, als ob ein bisschen mehr Gendergerechtigkeit genüge. Kreon spricht dann ein bisschen eine nettere Sprache, aber das kann nicht die Lösung sein, unser Problem ist extrem viel fundamentaler. Wir haben Kreon mit einer sympathischen, intelligenten, linken Frau, mit Sarah de Bosschere, besetzt. Sie gibt Antigone zu bedenken: Einfach Nein zu sagen, ist simpel und im Grunde feige. Wir müssen doch gemeinsam Lösungen finden und einen Mittelweg suchen, hilf mir doch dabei. Ähnliches sagen die Priester zu Jesus: «Wenn du nicht unseren Tempel zerstörst und nicht sagst, dass du der Sohn Gottes bist, dann finden wir schon eine Lösung, aber geh einfach nicht zu weit.» Das ist Realpolitik, Toleranz, jeder hat seine Meinung, irgendwie leben wir zusammen, das ist das westliche Prinzip und das wird von Kreon verkörpert.

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Der Chor ist die Hauptfigur. (Bild: Moritz Van Dungern)

Was machen mit dem Archaischen der Vorlage, dem hohen Ton?

Ah, ich find den natürlich super. Toll. Wir haben den neu übersetzt ins Portugiesische. Wir haben da sehr stark chorisch gearbeitet mit dem Chor der Landlosenbewegung und zwei Komponisten. Was heisst das denn, zur klassischen Tragödie zurückzukehren? Das heisst zunächst zurückzugehen zu einem unauflösbaren Antagonismus, also nicht zum Dramatischen, sondern zum Tragischen.

Du unterscheidest zwischen dem bürgerlichen Drama und der antiken Tragödie? 

Im bürgerlichen Drama, bei Ibsen z.B., ist es ja so: Ein bisschen mehr Hygiene, ein bisschen mehr Frauenrechte, und alles wird gut. In der Tragödie ist es so: Es kann nicht gut werden. Dass der Mensch in der Welt ist, ist das Problem. Wir sind nicht mehr Teil der Natur, wir glauben nicht mehr an die Götter, wir wissen, dass wir sterben werden, wie gehen wir damit um? Das bürgerliche Drama ist eigentlich aus der Abwertung des Choralen entstanden. Wenn wir wirklich zurückgehen zur Tragödie, dann ist der Chor die Hauptfigur: der Kollektivkörper, der aus der Freiheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger besteht. Ich habe mich fragen müssen: Was ist das für eine Stimme? Wie entsteht diese Stimme? Wie spricht sie? Was ist ihr Ton?

Und im Landlosenkollektiv ist die Freiheit des Einzelnen möglich? 

Für die Landlosenbewegung ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Kollektivstimme der Bewegung natürlich zentral. Wir in Europa haben das alte Problem des Verhältnisses zwischen Diversität und Klassenkampf, v.a. die linken Bewegungen zerstreiten sich darob. Die Landlosenbewegung ist da quasi eine Generation weiter. Die sind superdivers, sind extrem in der Identitätspolitik engagiert, und auf der anderen Seite sind sie eine Massenbewegung, die Land besetzt und sich die Produktionsmittel aneignen will. Diese Bewegung ist eine Nation innerhalb der Nation, die sagt: «Wir sind der Souverän.»  Und diese Bewegung, das ist der Chor.

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