«Junge Leute sollen das Privileg der eigenen Stimme nutzen»

Anna Rosenwasser setzt sich privat wie auch beruflich für die LGBTQI-Community ein - sie kandidiert für den Nationalrat und hat ihr «Rosa Buch» mit «queeren Texten von Herzen» publiziert.

Anna Rosenwasser
Anna Rosenwasser in Basel vor ihrer Lesung im Literaturhaus. (Bild: Valerie Wendenburg)

Anna Rosenwasser, Sie sind im Moment auf Lesereise und als SP-Nationalratskandidatin im Wahlkampf unterwegs – wofür schlägt Ihr Herz am meisten?

Meine Antwort ist wahrscheinlich strategisch nicht sehr schlau, aber mein Herz schlägt ganz klar fürs Lesen.

Warum?

Ich lese so gerne vor und bin in Kontakt mit den Menschen, die mein Buch gelesen haben oder es lesen möchten. Meine Arbeit macht mir immer Freude, aber selten macht es so viel Spass wie zurzeit auf Lesereise.

Die Themen, die Sie im Buch verhandeln, sind ja teilweise auch politisch – da gibt es doch bestimmt auch Überschneidungen?

Ja, klar – und doch gibt es einen Unterschied. Eine Sache, die ich im Wahlkampf im Vergleich zu meiner sonstigen Arbeit ungewohnt finde, ist, dass ich Leute von etwas überzeugen muss, was sie sonst vielleicht gar nicht interessiert. Zum Beispiel wählen zu gehen. Ich merke, wie anders es für mich ist, ein Bedürfnis bei anderen zu erzeugen oder zu verstärken. Normalerweise reagiere ich ja vor allem auf Bedürfnisse und das liegt mir mehr.

Dennoch versuchen Sie ja als Politikerin, gerade junge Menschen zum Wählen zu motivieren.

Das ist der Hauptgrund, warum ich kandidiere. Ich möchte, dass junge Frauen und junge queere Leute wählen. Es geht mir überhaupt nicht darum, jemanden mit rechten Ansichten vom Gegenteil zu überzeugen, sondern Leute zu sensibilisieren und mobilisieren, ihr Wahlrecht zu nutzen. Hier sehe ich ein riesiges Potenzial.

Potenzial wofür?

Das Potenzial, das Privileg der eigenen Stimme zu nutzen. Die Schweizer Wahlbeteiligung ist mit 45% recht tief. Am eifrigsten wählen Männer über 60. Wenn junge Frauen und queere Menschen nicht wählen gehen, sind ihre Anliegen im Parlament schlechter vertreten.

Rosa und queer unterwegs

Die LGBTQI-Aktivistin und Politinfluencerin Anna Rosenwasser hat im Februar ihr «Rosa Buch» mit «queeren Texte von Herzen» aus den Jahre 2019 bis 2022 publiziert. Aktuell ist sie auf Lesereise und im Wahlkampf unterwegs - denn sie geht für die SP Zürich als Nationalratskandidatin ins Rennen. Anna Rosenwasser wurde 1990 in Schaffhausen geboren und lebt in Zürich. Sie hat Journalismus und Politikwissenschaft studiert und arbeitet seit 2008 als Journalistin. Beruflich schreibt und redet sie über Geschlecht und Anziehung - auch auf ihrem Instagram-Kanal, auf dem ihr mehr als 30’000 Menschen folgen.

Ihr «Rosa Buch» versammelt Kolumnen von Ende 2018 bis Anfang 2022. In dieser Zeit wurden das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und die Ehe für alle angenommen. Da können Sie doch zufrieden sein, oder?

Der Diskriminierungsschutz ist ja eigentlich nur halb durchgekommen. Denn ursprünglich sollten auch trans Menschen berücksichtigt werden. Diese Erweiterung des Diskriminierungsschutzes ist mir sehr wichtig. Ich bekomme täglich mit, wie viel Hass und Hetze gegen trans Menschen im öffentlichen Raum immer salonfähiger werden. Deshalb setze ich mich auch für einen dritten Geschlechtseintrag ein, den der Bundesrat vergangenen Dezember abgelehnt hat, obwohl die Ethikkommission des Bundes diesen deutlich empfohlen hat.

Was würde sich mit dem Eintrag für nonbinäre Menschen ändern?

Ihre  Existenz würde rechtlich endlich anerkannt – ein Privileg, das mir im Gegensatz zu ihnen zugutekommt. Mir ist absolut klar, dass ich als queere Person, die in vielen Aspekten der Norm entspricht, durchaus solche Privilegien geniesse, die viele meiner transgeschlechtlichen und nonbinären Kolleg*innen nicht haben. Man nimmt sie nicht ernst, man hört ihnen nicht zu und man gibt ihnen keine Plattform. Darum ist es wichtig, dass wir uns politisch nicht nur um das eigene Wohlbefinden kümmern. Unsere Gesellschaft ist abhängig von Solidarität.

Was möchten Sie politisch noch erreichen?

Eine Sache ist sehr aktuell und mir wichtig: In der Schweiz ist die Konversionstherapie nicht verboten. Gerade in evangelikal geprägten Teilen von der Schweiz gibt es immer noch Therapeut*innen, die queere Menschen heilen wollen. Das finde ich sehr übel, es bräuchte ein nationales Verbot. Viele Betroffene haben im Anschluss an eine solche Therapie eine posttraumatische Belastungsstörung, diese Menschen sind teilweise lange Zeit arbeitsunfähig.

Queere Menschen haben oft gar kein Problem damit, queer zu sein – sondern damit, dass andere damit nicht umgehen können. Braucht es einfach mehr Aufklärung?

Es ist sehr verlockend, zu denken, dass Aufklärung die Lösung sein könnte. Wissen ist sicher ein Teil der Lösung. Wichtig ist zum Beispiel, dass wir in der Schule wertfrei beigebracht bekommen, was es für Identitäten gibt. Aber ich bin überzeugt davon, dass man auch aus einer Überforderung heraus neugierig sein kann. Ich denke, es kommt auf die Entscheidung jeder einzelnen Person an, wie sie über queere Menschen denkt. Auch wenn eine Person keine Ahnung hat, was queer ist, so kann sie doch wohlwollend sein.

Wie zum Beispiel?

Menschen sind fähig, sehr schnell neue Worte und Konzepte zu lernen, das beste Beispiel war die Corona-Pandemie. Plötzlich wussten alle, was Inzidenzen sind. Es ist eine bewusste Entscheidung, sich mit Themen zu befassen oder es eben nicht zu tun. Wer sich dagegen entscheidet, von der oder dem fordere ich wohlwollende Ahnungslosigkeit. Das ist aus meiner Sicht das Mindeste.

Anna Rosenwasser
Die LGBTQI-Aktivistin möchte junge Frauen ermutigen, zu wählen. (Bild: Valerie Wendenburg)

Sie bezeichnen sich als bisexuell und sagen, für viele Menschen gibt es nur die Begriffe schwul und lesbisch. Woran machen Sie das fest? 

Wir wachsen ja mit dem Konzept auf, dass Heterosexualität normal und gesund ist. Ausserdem gehen wir davon aus, dass die Anziehung sich nur auf ein Geschlecht bezieht. Es wird nie anders verhandelt. Selbst im Fall von Homosexualität, die ja schon als Abweichung von der Norm gilt, scheint klar: Männer stehen auf Männer und Frauen auf Frauen. Viele Vorurteile gegenüber Bisexualität resultieren auch aus dem Umstand, dass uns das nie beigebracht wurde, dass man sich im Laufe des Lebens zu mehr als einem Geschlecht hingezogen fühlen kann. Die Menschen haben grosse Mühe, sich das vorzustellen.

Sie beschreiben gerne den Katy-Perry-Effekt, was sagt er aus? 

Im Buch schreibe ich darüber, dass Katy Perry singt: «I kissed a girl and I liked it … I hope my boyfriend don't mind it.» Sie sagt also, sie hofft, es mache ihrem Partner nichts aus, dass sie mit einer Frau rumgemacht hat. Als sei es nicht wirklich ernst zu nehmen. Justin Bieber könnte die Frage umgekehrt nicht stellen, er würde dann gleich als homosexuell gelten. Männliche und weibliche Bisexualität werden sehr unterschiedlich verhandelt. 

Was meinen Sie?

Bei bisexuellen Frauen meint man, sie seien eigentlich hetero. Und beim Mann geht man davon aus, dass er eigentlich schwul ist. Alle stehen also eigentlich im tiefsten Inneren auf Männer. Weibliches Begehren wird in den westlichen Kulturen nicht als eigenständig betrachtet. Man meint vielmehr, es sei abhängig von männlichem Begehren. Sobald ein Mann also nicht mehr Teil der Rechnung ist, geht sie nicht mehr auf.

Die Schweizer Illustrierte hat Sie als eine der mächtigsten LGBTQI-Menschen der Schweiz aufgeführt. Was ist für Sie persönlich Ihr grösster Erfolg?

Es ist mir gelungen, die Sichtbarkeit einer weiblichen bisexuellen Person zu enttabuisieren. Diese Sichtbarkeit ist natürlich auch eine Form von Macht, dessen bin ich mir bewusst. Gefühlt liegen meine grössten Erfolge aber eher im Kleinen. Es sind die Leute, die mir erzählen, was meine Arbeit für sie bedeutet und in ihrem Leben bewirkt. Dass sie sich geoutet haben, zum Beispiel. Neulich kam eine junge Frau, die ich nicht kenne, auf einem Festival auf mich zu und sagte: «Anna, ich habe mich noch nie so gefreut, wählen zu gehen.» Solche Erlebnisse sind für mich schöne Erfolge.

Herz Rose
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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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