Ich war schon immer ein Belle-Époque-Junkie

In ihrem neuen Buch taucht Simone Meier ein ins 19. Jahrhundert und erzählt die Geschichte von Jo, Vincent van Goghs Schwägerin. Mit Kulturjournalistin Esther Schneider spricht sie über grosse Gefühle und den kreativen Geist jener Zeit.

Simone Meier

Nach den Romanen «Fleisch», «Reiz» und «Kuss», die alle im Heute spielen, taucht Simone Meier im neusten Roman mit dem Titel «Die Entflammten» ins 19. Jahrhundert ein. Sie erzählt die Geschichte von Jo, der Schwägerin des Malers Vincent van Gogh. Jo ist die Frau, die den Maler berühmt gemacht hat. Auch das Kunstmuseum Basel hat van Gogh-Bilder in der Sammlung.

Die Brüder van Gogh, die Liebe, die Kunst und zwei Frauen aus zwei verschiedenen Jahrhunderten. Das sind einige der Zutaten für den Roman die «Entflammten» von Simone Meier. Esther Schneider hat die Autorin für ihren Podcast LiteraturPur zum Gespräch getroffen. Hier ein Auszug.

Simone Meier
Zur Person

Simone Meier ist Schriftstellerin und Kulturjournalistin. Sie arbeite seit 2014 als Kultur- und Gesellschaftsredaktorin beim Onlinemagazin watson und schreibt am liebsten über Film, Fernsehen, Feminismus und Royals. Davor war die studierte Germanistin und Amerikanistin Kulturredaktorin bei der Wochenzeitung WOZ und beim «Tages-Anzeiger». Neben dem Journalismus schreibt sie Romane.

(Foto: Ayse Yavas)

Simone, kaum ist dein Roman diesen Februar erschienen, wurdest du zur Berlinale eingeladen. Da konntest du vor Filmfachleuten dein Buch pitchen, als eines von zehn aktuellen Büchern weltweit, die Potenzial haben, verfilmt zu werden. Da winkt ja fast schon Hollywood – was ist das für ein Gefühl?

Ehrlich gesagt ein komisches. Ich bin ein ungeduldiger Mensch. Bis aus einem Buch ein Film wird, vergeht unendlich viel Zeit. Darum ist das für mich noch komplett nebulös. Aber ich freue mich natürlich riesig über diese Chance. Es ist mindblowing.

Als Kulturjournalistin schreibst du auch über Filme. Welche Schauspielerin soll deine Heldin Jo spielen, falls das Buch verfilmt wird?

In einer Schweizer Produktion wäre es Annina Walt. Sie hat in der Serie «Frieden» die Hauptrolle gespielt. Sie wäre für mich die ideale Jo. Ich finde, sie ist Jo sowohl vom Aussehen wie vom Wesen sehr ähnlich. 

Wie kamst du auf die Geschichte von Jo, der Schwägerin von Vincent van Gogh?

Bei einem Treffen mit Freundinnen redeten wir über Vermarktung in der Kunst. Und da stiessen wir auf Vincent van Gogh, weil es von keinem anderen Künstler auf der Welt so viele Merchandising Artikel gibt, wie von ihm. Das abgeschnittene Ohr als Radiergummi, Brillengestelle mit Sonnenblumendruck und so weiter. Wir haben uns gefragt, wie der unbekannte, mausarme und geistig verwirrte Künstler zu diesem Marktgiganten wurde. Ich behauptete in der Runde, dass da sicher eine Frau dahintersteckte. Und meine Recherchen zeigen, so war es. Jo hat ihn berühmt gemacht.

«Jo hat mit Herzklopfen auf jeden neuen Zola gewartet wie Jugendliche zu meiner Zeit für neue ‹Harry Potter›-Bände Schlange gestanden sind.»

von Schriftstellerin Simone Meier

Du hast Tagebücher und Briefe von Jo gelesen. Bekamst dadurch einen intimen Einblick in ihr Leben. Was hat dich am meisten überrascht?

Die Entdeckung, dass Jo und ich im gleichen Alter dieselben Bücher gelesen haben. «Anna Karenina» oder die Bücher der Brontë-Schwestern und wir haben das gleiche empfunden beim Lesen. Dies obwohl mehr als ein Jahrhundert dazwischen liegt. Heute gehören diese Bücher zu den Klassikern. Aber damals waren sie brandneu. Und Jo hat mit Herzklopfen auf jeden neuen Zola gewartet wie Jugendliche zu meiner Zeit für neue «Harry Potter»-Bände Schlange gestanden sind. Das fand ich verblüffend. Und sie war die sturste Person, der ich – ausser mir – begegnet bin. Zudem hat mich auch die Liebesgeschichte von Jo und Vincent van Goghs Bruder Theo fasziniert. Die begann mit einer mehr als drei Jahre dauernden Werbung.

Dich triggern solche Liebesgeschichten.

Ja, das triggert mich unglaublich, auch weil die Liebesgeschichte tragisch endet. Theo van Gogh stirbt kurz nach der Hochzeit und der Geburt des ersten Kindes an Syphilis. Aber hauptsächlich war es die Zeit, in der die beiden gelebt haben, die mich fasziniert.

«Das Schreiben an einem Roman ist für mich der beste Aggregatszustand von allen. Ich falle aus der realen Welt heraus und hinein in eine Welt, die ich mir selber erschaffe.»

von Schriftstellerin Simone Meier

Es ist die Zeit der Belle Époque. Was ist für dich speziell an dieser Epoche?

Das war eine fiebrige Zeit. Die Leute waren besessen von grossen Gefühlen, es ging um Liebe, Tod, Krankheit, geistige Verwirrung etc. Die waren alle nicht ganz bei Trost und ständig ausser sich. Das fühlte sich für mich an, wie wenn man immer von Wagner-Opern umgeben wäre; und zwar von mehreren gleichzeitig. In diese Zeit einzutauchen, mich mit dem damaligen Lebensgefühl, der Literatur und Kunst zu befassen, hat mir irre Freude bereitet. Ich war schon immer ein Belle-Époque-Junkie. Mich inspiriert der kreative Geist jener Zeit.

Für Frauen war diese Zeit aber ziemlich hart. Sie hatten kaum Zugang zu Universitäten, zum Wissen. Geht es im Kern des Romans auch um die Beschränkungen für die Frauen in jener Zeit?

Unbedingt! Ich bin ja eine Feministin der altmodischen Art. Und dieses Buch ist mein feministischstes Buch bisher. Als ich das Leben der Frauen recherchierte, war ich manchmal so verärgert, empört und traurig. Sie waren nicht nur eingeengt was Zugang zu Wissen und ihre Rolle in der Kunst betraf. Sondern auch körperlich durch das Korsett. Ich wurde mir bewusst, was es heisst, ein Korsett zu tragen. Wenn die Frau es auszog, fiel sie buchstäblich in sich zusammen. Die Muskeln fehlten, der Halt war weg. Und dazu all die Schichten an Unterwäsche, wie heiss und stickig das im Sommer war. Krass.

Du bist Autorin aber auch Journalistin. Wie unterschiedet sich für dich das Schreiben eines Romans vom Schreiben für den Journalismus?

Es ist ein ganz anderes Gefühl. Das Schreiben an einem Roman ist für mich der beste Aggregatszustand von allen. Ich falle aus der realen Welt heraus und hinein in eine Welt, die ich mir selber erschaffe. Ich vergesse die Stunden. Das hat etwas Rauschhaftes, trotz der Arbeit. Und wenn ich am Schreiben gehindert werde, bin ich auf Entzug. Das fühlt sich fast wie Liebeskummer an.

esther_Schneider
Esther Schneider spricht in ihrem Podcast «Literatur Pur» regelmässig mit Autor*innen. Wir von Bajour dürfen die Gespräche als schriftliche Interviews aufbereiten. Weil Literatur es wert ist.

Da ganze Gespräch ist zu hören im Podcast LiteraturPur. Da verrät Simone Meier, warum das Fernsehgerät ihr bevorzugtes Möbel ist und welches ihre Lieblingsserien sind.

Hier geht es zum Podcast auf Spotify und bei Apple Music.

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