Wenn der Traum vom Aufstieg plötzlich zerbröckelt: Corona lässt benachteiligte Familien verzweifeln
Die Corona-Krise drängt sozial benachteiligte Familien weiter ins Abseits. Angjelina aus Frenkendorf, Mutter von zwei Kindern, erzählt von ihrem Alltag zwischen Arbeit, Hausaufgaben und finanziellen Sorgen – und einem abrupten Rückschlag.
«Es ist einfach zu viel», sagt Angjelina und blickt erschöpft auf ihre Hände.
Angjelina ist Mutter, Ersatzlehrerin für ihre Kinder, arbeitet in der Zentralwäscherei eines Spitals, kümmert sich ums Kochen und den Haushalt und wollte eigentlich dieses Jahr die Handelsfachschule abschliessen. Daraus wird nun aber wohl nichts mehr. Zu hoch ist die Belastung, seit die Corona-Krise das Leben ihrer Familie auf den Kopf gestellt hat. Sie fürchtet um ihre Existenz. Bloss eine Familie von vielen, die in Zeiten der Krise die Bedeutung ihrer sozialen Benachteiligung zu spüren bekommen.
«Ich war es schon immer gewöhnt, viel zu arbeiten, Geld zu sparen»Angjelina
Der Traum von der Uni schlägt in Ernüchterung um
Angjelina und ihre Familie stammen aus bescheidenen Verhältnissen. «Ich war es schon immer gewöhnt, viel zu arbeiten, Geld zu sparen», sagt sie.
Als Angjelina in die Schweiz kam, war sie 16 Jahre alt und träumte davon, Zahnärztin oder Anwältin zu werden. Mit ihrer Familie war sie vor dem Kosovo-Krieg geflohen. In Frenkendorf sollte alles besser werden. Als sie hier ankam, war aber alles nass-grau und kalt. Das einzige Wort Deutsch, dass sie sprach, war Hallo. In der Schule merkte sie, dass ihr die Sprache fehlte, um das Gelernte aufholen zu können. Der Vater: Bauarbeiter. Die Mutter: Putzkraft. Geld für Nachhilfe hatten sie nicht.
Ernüchtert fasste Angjelina einen neuen Plan: Sie begann die Lehre zur Schneiderin und tröstete sich mit dem Gedanken, dass es ihren zukünftigen Kindern eines Tages besser ergehen würde.
Im Gespräch mit Bajour redet Angjelina sehr gut, wenn auch lieber Basel- als Hochdeutsch, wie sie sagt. Manchmal schiebt sie einen Satz auf Albanisch ein, wenn es ihr schwerfällt, die richtigen Worte zu finden. Wenn sie erzählt, ist ihr Ton nicht klagend, sondern eher besorgt.
Das Geld wird knapp
Angjelina ist heute verheiratet, hat zwei Mädchen, drei und neun Jahre alt. Seit über fünfzehn Jahren arbeitet sie nun als Schneiderin und lebt noch immer in Frenkendorf. Ihr Mann, der sich vor zwei Jahren selbstständig gemacht hat, führt seinen eigenen Friseursalon. «Wir hatten geplant, dass ich irgendwann nach meinem Abschluss meinen Mann und seinen Salon bei der Administration und den Finanzen unterstützen könnte», sagt Angjelina.
Der Laden ist seit den strengeren Massnahmen des Bundes geschlossen. Die Einnahmen bleiben für ihn fürs erste aus.
Von ihren Ersparnissen zahlen sie diesen Monat die Ladenmiete und den Lohn des Mitarbeiters. «Das geht knapp für ein paar Monate, aber nicht auf Dauer», sagt Angjelina. Mit Anträgen und Formularen sind sie und ihr Mann aber überfordert, wissen eigentlich nicht, wie sie sich an die Behörden wenden sollen, um finanzielle Hilfe zu erhalten. Das hat jemand anderes für sie übernommen: Dank ihres Buchhalters, der sich sonst um den Jahresabschluss und Lohnzahlungen kümmert, konnten sie beim Kantonalen Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit einige Anträge und Dokumente einreichen. Sie hoffen auf Unterstützung. Noch haben sie aber keine Antwort.
«Mein Mann denkt darüber nach, auf den Bau zu gehen, bis er seinen Salon wiedereröffnen kann»Angjelina
Jeden Tag steht Angjelina um vier Uhr früh auf, um ihre Morgenschicht in der Zentralwäscherei des Kantonsspitals Liestal anzutreten. Sie kümmert sich um die Arbeitskleidung der Ärztinnen und Pflegenden, flickt, näht um. Neben ihrem 40-Prozent- Pensum erledigt sie von zu Hause aus Auftragsarbeiten. Jedes Jahr näht sie die Kostüme für eine Fasnachtsclique. Auch dieses Jahr. Bezahlt wurde sie aber bisher noch nicht.
«Mama, ich komme bei den Hausaufgaben nicht weiter»
Dass sie ihre Familie langfristig nicht allein über Wasser halten kann, das ist für Angjelina klar. «Mein Mann denkt darüber nach, auf den Bau zu gehen, bis er seinen Salon wiedereröffnen kann», sagt sie.
Wie der Arbeitsbedarf bei ihrem Arbeitgeber in den nächsten Wochen aussehen wird, weiss sie noch nicht. Was das für sie und ihre Familie bedeuten würde, sollte sich aus irgendwelchen Gründen Angjelinas Arbeitssituation und Einkommen verschlechtern, darüber will sie sich im Moment nicht auch noch den Kopf zerbrechen. Den braucht sie, um nach der Arbeit mit ihrer älteren Tochter Hausaufgaben zu erledigen.
Kaum kommt Angjelina zuhause zur Tür rein, stürmen ihre zwei Töchter auf sie zu. «Ich bin bei den Hausaufgaben nicht weiter gekommen», oder «spielen wir zusammen?», heisst es dann. Die beiden Mädchen verlassen kaum das Haus. Die Schule ist zu, die Spielgruppe auch. Weil ihre Schwiegermutter, die zur Risikogruppe gehört, gerade bei Angjelina lebt, beschränken sie den Kontakt zur Aussenwelt auf ein Minimum. «Es wäre so schön, wenn du wie andere Mütter auch von zu Hause arbeiten könntest und bei uns wärst», sagte ihr ihre Tochter vor ein paar Tagen.
Auf sich alleine gestellt
Ihre Lehrerin schickt ihr per Mail Hausaufgaben, aber es ist Angjelina, die sich jeden Tag mit ihrer Tochter hinsetzt und versucht, ihr ihre Fragen zu beantworten.
Angjelinas Mann kann ihr dabei nicht aushelfen. Der gelernte Coiffure nahm in der Schweiz jeden Job an, den er bekommen konnte, arbeitete lange auf der Baustelle, bevor er sich seinen Wunsch erfüllen konnte, einen eigenen Laden zu eröffnen und wieder Haare zu schneiden. Dabei blieb wenig Gelegenheit, sein Deutsch zu verbessern.
«Ich mache mir Sorgen, dass ich meiner Tochter den Stoff falsch beibringe», sagt Angjelina. Sie fürchtet, dass ihr Kind zurückfällt, einen Nachteil hat, wenn es wieder zurück in die Schule muss.
Dabei müsste Angjelina eigentlich selbst an die Schule zurück: Im Juni hätte sie ihre Abschlussprüfungen zur Handelskauffrau. Ihr fehlt aber gerade die Zeit und Geduld, sich den eigenen Büchern zu widmen. Darum hat sie um Aufschub gebeten. Noch weiss sie nicht, ob sie die Prüfungen verschieben darf.
Wie viele andere Eltern migrantischer Familien, die sich für ihre Kinder ein besseres Leben wünschen, als sie selbst es hatten. «Bildung ist in der Schweiz eigentlich die wichtigste Möglichkeit für sozialen und finanziellen Aufstieg», sagt Valentina Petrovic. Die Politologin forscht zu politischer und ökonomischer Liberalisierung und sozialer Ungleichheit.
Die Krise drängt sozial benachteiligte weiter ins Abseits
In Krisenzeiten wie diesen manifestiere sich die Ungleichheit deshalb insbesondere in den Bildungschancen, sagt sie. «Da Ressourcen begrenzt sind, müssen in einer Krise Prioritäten gesetzt werden. Und diese liegen in der Wirtschaft, was Sinn macht. Für die Schwachen heisst das aber, dass sie das Nachsehen haben», sagt Petrovic. «Die Situation dramatisiert sich. Wenn die Kinder wieder zurück in die Schule gehen, ist der Abstand mit hoher Wahrscheinlichkeit grösser», sagt Petrovic. Aber die Interessen anderer Gruppen würden besser artikuliert und dadurch besser gehört, weshalb sozial benachteiligte Menschen weiter an den Rand geschoben würden, so Petrovic weiter.
Angjelina fehlen die Möglichkeiten, ihrer Tochter so zu helfen, dass sie mit ihren Mitschüler*innen mithalten kann: Geld für eine Nachhilfe zum Beispiel, genügend Zeit neben der Arbeit, eine ausreichende Bildung.
«Nuk kemi qka me bo» - Uns bleibt nichts anderes übrig.Angjelina
Angjelina frustriert es, dass sie nicht in der Lage ist, ihrer Tochter eine grössere Hilfe zu sein. «Manchmal rufe ich eine meiner Schweizer Freundinnen an und frage, ob sie meiner Tochter etwas erklären kann, wenn ich mal nicht weiter weiss», sagt Angjelina.
Noch ist für sie und ihre Familie vieles ungewiss: ihre finanzielle Lage, die Zukunft ihres Salons, Angjelinas Abschluss, wie es auf ihrer Arbeit weitergeht. Aber vor allem, wie es der grossen Tochter wieder zurück in ihrer Klasse ergehen wird.
Angjelina ist müde, weiss aber, dass sie zuversichtlich bleiben muss. «Nuk kemi qka me bo», sagt sie auf Albanisch: Uns bleibt nichts anderes übrig.
Kurz blickt sie auf ihr Handy: «So, ich sollte nach Hause, meine Töchter warten bestimmt schon.»