Die Konjunktur als grosse Überraschung
Seit 2017 sinkt der Betrag, den Basel-Stadt für die Sozialhilfe aufwendet. Gleichzeitig vermelden Organisationen, die gratis Lebensmittel an Bedürftige verteilen, eine riesige Nachfrage. Bajour bringt Licht in diese eigentümliche Konstellation.
«Schweizer Tafel», «Tischlein deck dich», Caritas Märkte – sie alle sind für Menschen da, die mit grossen finanziellen Nöten kämpfen. Menschen, die arbeitslos wurden, oder auch solche, die Arbeit haben, aber deren Einkommen nirgendwo hinreicht. Wie zum Beispiel Renate Hecht, die Bajour kürzlich bei der Lebensmittelabgabestelle der Hilfsorganisation «Gärngschee – Basel hilft» an der Reinacherstrasse im Dreispitz getroffen hatte. Geld ist bei ihr notorisch knapp, sie bezieht IV, Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe. Sie spürt die Lebensmittel-Teuerung massiv. Diese liegt derzeit bei 6,5 Prozent. Die Nachfrage nach Gratisware – es sind meist Produkte am Ablaufdatum, die nicht mehr verkauft werden können – ist enorm.
Unter diesen Umständen überrascht es umso mehr, dass die Zahl der Sozialhilfe Beziehenden im Kanton Basel-Stadt seit sechs Jahren laufend zurückgeht. Diese sank von 12’165 im Jahr 2017 auf 10’115 im 2021 (die Zahl für das Jahr 2022 ist noch nicht veröffentlicht). Und dies trotz der schwierigen Covid-Perioden, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben zeitweise lähmten.
Die eigentümliche Konstellation lässt sich mit der Konjunktur erklären, diese war im vergangenen Jahr die grösste Überraschung. «Die wirtschaftliche Entwicklung nach Corona war extrem gut», sagt Rudolf Illes, Amtsleiter der Basler Sozialhilfe. Das zeigt auch der Beschäftigungsindikator der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH, der im August 2022 auf einen neuen Rekordstand stieg (Der KOF Beschäftigungsindikator wird aus den vierteljährlichen Konjunkturumfragen der KOF berechnet). Die Arbeitslosenzahlen sind rasch zurückgegangen, der Arbeitsmarkt brummte. «Dies war der Hauptgrund, dass viel weniger Personen Sozialhilfe beantragen mussten», so Illes. Die Ausgaben fielen 47,4 Millionen Franken tiefer aus als im Budget vorgesehen.
Weil wirtschaftliche Folgeschäden der Pandemie befürchtet wurden, war das Amt für Sozialhilfe alarmiert und budgetierte Ende 2021 entsprechend grosszügig. «Die Prognosen der SKOS, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, gingen von stark ansteigenden Fallzahlen aus. Wir hatten in der allgemeinen Sozialhilfe durchschnittlich 5440 Familien-Dossiers prognostiziert. Effektiv hatten wir 4624 Dossiers», sagt Illes. Das sind 15 Prozent weniger als geplant.
«Die wirtschaftliche Entwicklung nach Corona war extrem gut»Rudolf Illes, Amtsleiter der Basler Sozialhilfe
Ein weiteres dynamisches Moment war die Revision des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) 2019. Seit dann gilt: Wenn jemand Sozialhilfe bezieht, wird das automatisch dem Migrationsamt gemeldet. Seither geht bei Migrant*innen und Ausländer*innen die Angst um, bei Bezug von Sozialhilfe den Aufenthaltsstatus zu verlieren, sagt Yann Bochsler, Dozent für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, gegenüber Bajour. Dies sei «eine problematische Verschränkung von Migration- und Sozialrecht».
Es gibt noch andere, eher statische Faktoren, die möglicherweise die Sozialhilfequote nach unten drücken: Unterstützungsgelder müssen beantragt werden, und es gibt immer eine gewisse Anzahl von Bezugsberechtigten, die keinen Antrag stellen. Im Kanton Bern schätzt eine Studie von 2016 den Anteil der Nichtbeziehenden derweil auf 26,3 Prozent. In Städten liegt sie gemäss der Studie bei 12 Prozent, in Agglomerationen bei 28 und in Landgemeinden bei 50 Prozent. Schweizweit könnte sie sogar 60 Prozent betragen, schätzt Studienautor Oliver Hümbelin von der Berner Fachhochschule. Viele Menschen, besonders in ländlichen Gegenden, scheuen den Gang zum Sozialamt, stellt der Soziologe Hümbelin fest. Sie empfinden Armut als Schmach oder sogar als Schande. Eine aktuelle Studie zur «Nicht-Bezugsquote» in Basel erscheint erst im Mai im Rahmen der Sozialberichterstattung 2023 des Kantons Basel-Stadt.
Armut als Schmach
Eine weitere Gruppe möchte zwar Sozialhilfe bekommen, schafft den Gang zum Sozialamt aber nicht. Laut einer Studie zu Genfer Familien aus dem Jahr 2018 können beispielsweise gesundheitliche Einschränkungen bei 9 von 10 befragten Nichtbezüger*innen ein Problem darstellen. Auch Gefühle der Angst und depressive Symptome (8/10) schränken die Möglichkeiten ein, eigene Rechte wahrzunehmen. Anderen wiederum ist die Antragstellung zu kompliziert oder sie sind nicht richtig informiert. Schliesslich ist die Gruppe der Working Poor zu erwähnen, deren Einkommen unglücklicherweise knapp über der Schwelle liegen, bei der Hilfe bezogen werden kann. 2020 waren 158 000 Personen oder 4,2 Prozent aller Erwerbstätigen in der Schweiz von Armut betroffen. Die Zahl stieg seit 2014 leicht an und ist seit 2017 relativ stabil.
Schliesslich gibt es auch Menschen, bei denen verschiedene Faktoren zusammenspielen: gesundheitliche, familiäre, finanzielle oder sprachliche.
Die Folgen des Kriegs gegen Ukraine und die zahlreichen Geflüchteten waren im Budget 2022 des Kantons Basel-Stadt nicht enthalten. «Vor dem Ukraine Krieg hatten wir rund 1500 Dossiers von Flüchtlingen und Asylsuchenden betreut. Von März 2022 bis Ende 2022 sind rund 900 Dossiers von Ukraine-Flüchtlingen dazu gekommen», sagt Rudolf Illes, Amtsleiter der Sozialhilfe des Kantons. «Wir mussten neue Stellen schaffen.» Die Mehrausgaben für die aus der Ukraine Geflohenen wurden durch die Bundespauschalen gedeckt, zumindest teilweise.
Und nun, wie werden sich die Zahlen in Zukunft verändern? Prognosen seien ausserordentlich schwierig, sagt Illes. «Wir gehen aber in diesem Jahr von einem leichten Anstieg der Fallzahlen aus. In den ersten drei Monaten dieses Jahres stellten wir bereits eine leichte Zunahme fest. Das kann sich aber auch wieder ändern.»
Tatsächlich sind die Konjunkturaussichten im Moment etwas verhalten. Auch Bochsler von der FHNW erachtet Schätzungen als anspruchsvoll. «Das Thema ist sehr komplex, weil die vorgelagerten Systeme - beispielsweise Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und dem Mietwohnungsmarkt oder gesetzliche Änderungen wie Mindestlöhne - die Sozialhilfequote direkt beeinflussen.»
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