Mit Rudi im Jura
Hügelketten oder Viererketten, Fussballstadien und Lebensstadien. Es gibt nicht für alles eine Taktik.
Wir sitzen am Waldrand, um uns Nässe und etwas alter Schnee. In der Glut ein Topf mit bittersüssem Glühwein, in der Brust eine schwer definierbare Sehnsucht. Die Würste im Rucksack sind kein ernsthafter Ersatz für die Stadionwurst (Rudi isst sie am liebsten ganz bewusst in der Pause und direkt am Grillstand). Sie bleiben sogar im Rucksack liegen, die Würste.
Wir schauen einfach ins Feuer und über die Jurahügelketten und sprechen über Dinge, die uns bewegen: Über Viererketten und Lebensaufgaben. Über Familie, Beruf, Projektideen, alte Freunde. Über die Frage, was Borussia Dortmund fehlt, ein europäischer Spitzenclub zu sein, über die Transferpolitik des FCB und über das Spielverständnis von Ciriaco Sforza. Das war noch vor seinem Abgang. Ciriaco: So hätte ich einen Sohn nennen wollen, der Vorschlag war aber genauso chancenlos wie Gepetto, Vito oder – wenigstens – Ciro.
«Mit Rudi lässt sich ohne grossen Aufwand wunderbar viel aus einem Sonntagnachmittag herausholen.»
Letztes Mal kam unser Grüppli zu siebt in meiner Küche zusammen und wir gedachten Diego. Dafür ist es nun zu pandemisch. Jetzt sitzen wir hier zu zweit, weit ab von allem. Der Lehm klebt uns schwer an den Sohlen. Schollenschuhe statt Stollenschuhe.
Das war sonntags auch schon anders. Zusammen waren wir in Fussball- und Lebensstadien. Immer gleichzeitig (man kann ja nicht nicht in einem Lebensstadium sein). Mit Rudi lässt sich ohne grossen Aufwand wunderbar viel aus einem Sonntagnachmittag herausholen. Im Jura – und im Joggeli.
Mit Rudi war ich anfangs Studium im Stadio delle Alpi, wir starteten im Nebel in ein unabhängiges Leben und sahen im Schneetreiben und Fackelrauch keines der vier Juve-Tore.
Der Nebel lichtete sich mit den Jahren, zumindest manchmal hatten wir sogar klare Pläne, klare Sicht, in Thun oder Barcelona sahen wir nicht nur Gegentore. Weder Arbeit noch Fortpflanzung hielten uns davon ab, weiter in Stadien zu gehen. Aber auch das wunderbarste Oldschoolstadion konnte es nur schwer mit den Naturarenen des Juras aufnehmen.
«Auf den Jurahügeln hält sich das Gefühl von Freiheit bis heute.»
Die Freiheit in den Stadien wird zunehmend beschnitten, die freiheitlichen Bustrips zur EM nach Portugal oder zur WM durch Deutschland liegen immer weiter in der Vergangenheit. Aber auf den Jurahügeln hält sich das Gefühl von Freiheit bis heute.
Rudi würde wohl über diese billigen Metaphern und Vergleiche schimpfen. Rudi behauptet aber auch, er könne auch ohne Joggeli leben. Ich nicht.
So muss sich das Leben im Exil anfühlen. Die Abgeschiedenheit des Juras suchen wir seit Jahren – freiwillig, gerne, immer wieder. Neu ist diese unfreiwillige emotionale Distanz. War es so für Napoleon auf Elba? Für Karli bei YB? Für den FCB auf der Schützenmatte?
Fühlten die sich auch abgehängt, waren melancholisch und, wie wir im Jura: entspannt? Die Dinge scheinen aus der Ferne nämlich einfacher. Das Verwerten der Goalchance, das Führen des Clubs, das Meistern der Krise, das Leben des Lebens.
«Fürs Leben gibt es keine Taktik. Fürs Leben gibt es den Jura.»
Durch ständiges Wechseln zwischen Fussballdiskussion und Lifecoaching, durchs Brechen grosser Themen mit eingeschobenen Matchanalysen ergeben sich unterschwellig Vergleiche, spiegelt sich das Grosse (Fussball) im Kleinen (Leben) und umgekehrt.
Wir thematisieren diesen Sachverhalt nicht. Uns ist klar: Fürs Leben gibt es keine Taktik. Fürs Leben gibt es den Jura. Ein paar Kilometer über die Hügel, ein paar Stunden am Feuer, ein paar Stunden Stille. So anders als der Stadionbesuch und energetisch doch vergleichbar. Darum gilt doch auch: Fürs Leben gibt es die Stadien.
Und Fussball ist wichtig.